Rund um den Berg

Norbert Niederkofler bewegt mit seinem Cook the Mountain-Projekt Südtirols Berge und hat mit seiner Küche ­nachhaltigen Einfluss auf die Bauern und die Kulturlandschaft der Dolomiten.

Text von Christian Grünwald
©Alex Moling

Norbert Niederkofler kennt die schönsten Lärchenwipfel in Südtirol. Er weiß, wann und wo die Butter von welchen Almen und Kühen betörende Qualitäten hat. Er weiß, welche Beeren sich für Miso eignen und welche Frucht mehr Säure als jede Zitrone hat. Er kennt mehr alpine Kräuter und Gemüsesorten als so mancher ausgebildete Botaniker, und vor allem weiß der erfahrene Küchenchef auch, was essbar ist und was leicht den Magen verdirbt: „Wobei man nie auslernt. Jeder Spaziergang, jeder Plausch mit den Anwohnern hier bringt neue Erkenntnisse. Auch jetzt noch, nach Jahrzehnten.“

Versteckte Juwele erfordern besondere Anstrengungen. Seit mehr als zwei Jahrzehnten setzt Norbert Niederkofler Himmel und Hölle in Bewegung, um internationale Gäste nach St. Kassian zu bringen. „Man muss hier für alles die Extrameile gehen.“ Der schmucke Ort in den Dolomiten liegt abseits aller Verkehrsstränge. Von Venedig, dem nächstgelegenen großen internationalen Flughafen, sind es mehr als drei Stunden Autofahrt auf zum Teil recht kurvigen Landstraßen durch die Berge.

Mittlerweile waren sie schon alle da, die Foodies und die Küchenchefikonen der 50-Best-Karawane. Sie staunten, allesamt selbst nicht unerfahren bei der Verwendung von regionalen Lebensmitteln, welch hochkarätige Regionalküche Norbert Niederkofler in der kargen Bergwelt inszeniert. Cook the Mountain heißt das hier. Der Begriff ist mittlerweile ein Synonym für eine aktiv gelebte Küchenphilosophie geworden, die Spitzenküche im internationalen Maßstab mit den Produkten und Lebensumständen einer alpinen Kulturlandschaft in Einklang bringt.

Auch den im regionalen Fach stets ein wenig befangenen Michelin-Inspektoren war der Weg nicht zu weit, seit Herbst 2017 ist man stolz auf die Drei-Sterne-Wertung. Wie passend, dass man den Kommunennamen Alta Badia mit „Hochabtei“ übersetzen kann.

Und dann das. Corona oder, wie man in Italien sagt, Covid-19. Aus Übersee kommen seither statt Gästen nur Stornos. Nach drei Monaten Zwangspause wurde zuerst das Restaurant geöffnet, wegen des spontan guten Publikumszuspruchs dann auch sehr bald das Hotel. „Jetzt haben wir neben Italienern vor allem Gäste aus Deutschland, Belgien und Österreich. Viele melden sich, weil sie früher ­gemeint haben, dass wir ohnehin hoffnungslos ausgebucht sind. Die Leute fahren wieder durchs Land, so wie früher, und gestalten ihre persönlichen Genussrouten. Derzeit hat das Auto Zukunft. Man sieht es in Venedig: Die Parkhäuser sind voll, der Flughafen ist leer. Das bleibt so in der nächsten Zeit.“

Dem Winter sieht Niederkofler mit gemischten Gefühlen entgegen. „Das wird Nerven kosten. Allein schon das Abstandhalten am Lift und in den Gondeln.“ Dazu der Stress mit den Erkältungen. „Früher hatten wir in der Wintersaison regelmäßig die Viren aus aller Welt zu Gast, das war völlig normal. Aber jetzt muss man eben anders damit umgehen.“

Das Virus ändert vieles, auch das Stadt-Land-Gefälle. Vor einigen Jahren noch drohten die ländlichen Regionen, die Berge ganz besonders, zu vereinsamen oder auf Tourismusregionen reduziert zu werden. „Jetzt bin ich happy, dass ich kein Restaurant in der Stadt habe. Das Smart Working hat eine neue Entwicklung eingeleitet, die Bürohäuser in den Städten sind zunehmend leer. Selbst die kleine Gastronomie rund um die Büros, Snack-Bars und Cafés, hat keine Gäste.“

Man muss also andere Erlebnisse kreieren. „Wenn du aufs Land fährst, hast du eh schon den ganzen Tage für Genuss reserviert.“

Ende 2018 eröffnete Norbert Niederkofler mit dem AlpiNN sein zweites Restaurant auf 2.240 Metern Seehöhe am Gipfel des Kronplatzes oberhalb von Bruneck. Es ist Teil des Lumen-Fotomuseums, das spekta­kulär in den Berg hineingebaut ist. Während für das Museum zum Teil aufgelassene Bergbahngebäude um­gebaut wurden, konstruierte man für das Restaurant einen neuen Flügel, der förmlich über den Berg hinaus zu schweben scheint.

Die Küche hat sich komplett den nachhaltigen Cook the Mountain-Prinzipien verschrieben, also Produkte aus dem engen Umkreis und vor allem auch Zero Waste, ein ganz wesentliches Moment in dieser Höhe. An die hundert Gäste finden in dem von Glas dominierten Restaurant Platz. Sie erwartet eine von den St. Hubertus-Klassikern inspirierte Küche, im Detail natürlich weniger elaboriert umgesetzt. „Mich hat immer gestört, dass das Essen auf vielen Berghütten aus dem Tiefkühler kommt. So wie das jetzt im AlpiNN läuft, bin ich im Sommer wie im Winter sehr happy.“

Die große Oper spielt natürlich im Drei-Sterne-Restaurant in St. Kassian. Dort besteht der Kräutersalat dann zumindest aus 25 Zutaten und die Salatmarinade aus Traubenkernöl, Apfelessig und einem Hauch selbstgemachte Holunder-Kombucha. Und ohne das große Restaurant am Berg würde die kleinere Gourmeteinheit nicht so problemlos ausgesuchte Zutaten bekommen. Wobei da gar nicht von Edelteilen die Rede ist. Wenn Norbert Niederkofler bei seinem bevorzugten Metzger Jakob Baumgartner in St. Lorenzen ein ganzes Rind kauft, dann kommt wahrscheinlich das Rib Eye rauf ins AlpiNN, dafür aber das Zwerchfell ins St. Hubertus. Letzteres scheint dann, serviert im Menü, tatsächlich viel saftiger als jedes Rückenstück zu sein.

Mitte der 90er-Jahre war das Hotel Rosa Alpina noch eine Pizzeria. In Folge startete Niederkofler gemeinsam mit der Eigentümerfamilie Pizzinini ins Gourmetgeschäft. Jetzt kam der Fisch möglichst frisch von der Meeresküste, und die Gäste fuhren wegen der guten Gänseleber in die Berge. Alles, was man einfliegen konnte, wurde damals eingeflogen, auch für seinen Hummer war Niederkofler berühmt. Die Stilistik wurde ihm aber zunehmend langweilig, und er setzte daher auf Zutaten aus dem engen Umkreis.

Anfangs murrten die Stammgäste ob der Absenz von Trüffel, Foie gras und Co, aber Niederkoflers Beharrlichkeit und der von Skandinavien ausgehende regionale Zeitgeist machten alles klar. Nur, dass in den Bergen ein derartiges Konzept noch schwieriger umzusetzen ist als etwa an einer Meeresküste mit mildem Klima und breiter Produktvielfalt über das ganze Jahr. Im alpinen Vergleichs-Jargon hat ­Niederkofler etwa für seine „Mount-Everest-­Besteigung“ sozusagen eine neue Route ohne ­Sauerstoffflasche gewählt.

Wahrscheinlich ist das St. Hubertus das einzige Restaurant in Italien, das ohne Olivenöl und Zi­tronen auskommt. Das mit dem Fett wäre angesichts von Butter und Traubenkernöl kein Problem, aber die Säure – sie kommt von Fermentiertem oder anderen sehr säurehaltigen Zutaten wie etwa ­getrockneten Kornelkirschen oder Sanddornsirup. „Essig ist ja dann oft doch zu aggressiv.“ Über die Jahre eignete sich die Küche spannende Kenntnisse an, etwa wie toll Baumharze schmecken können. Für den in den Bergen aufgewachsenen Küchenchef nichts Neues: „Als Kind war das mein Kaugummi, was anderes gab es nicht.“

Im knapp 30 Sitzplätze umfassenden Restaurant sorgt der gebürtige Osttiroler Lukas Gerges als Head-Sommelier und Restaurantmanager für alle Informationen am Tisch und die passende Weinauswahl aus dem prächtig gefüllten Keller. Durch die stimmigen Geschichten gewinnen selbst skeptische Gäste Zutrauen, etwa beim Schweinskopf, für den aus dem weich gekochten Fleisch eine Terrine gemacht wird, von der dann hauchdünne Scheiben auf einem knusprigen Chip aus Sehnen serviert werden. Ein wunderbares Texturenspiel, das mit dem Pulver von sauren Beeren zusätzlich Pepp erhält.

Beeindruckend auch, wie sauer die Forelle Müllerin hier trotz des Verzichts auf Zitronensaft schmeckt: Das mehlierte Filet wird in Butter gebraten und danach im Saft von fermentierten Susina-Edelzwetschken gewendet. Die Säure ist ähnlich eindrucksvoll wie beim vielleicht ­berühmtesten Amuse-Gueule der Niederkofler-Küche: der Bruschetta, deren Belag in Wahrheit statt Tomaten aus fruchtig fermentiertem Zwetschkenmus, abgeschmeckt mit Zwiebel und Gewürzen, besteht.

Sommer ist Hochsaison. Nicht nur, weil viele Gäste aus der Hitze in den Tälern in die kühle Bergwelt flüchten, sondern auch, weil in Wäldern, auf Almen und Wiesen alles prächtig gedeiht und frische Zutaten in Hülle und Fülle verfügbar sind. In der St. Hubertus-Küche versucht man, möglichst viel davon für die karge Wintersaison zu konservieren.

Andernfalls hätte man im Winter kaum noch Produkte zur Verfügung. Denn etwa die Hälfte der Zutaten kommt von kleinen Biobauern ohne Gewächshäusern, die nur in der jeweiligen Saison liefern. Ein weiterer guter Teil wird täglich von der Küchenmannschaft eingesammelt, das heißt vier bis sechs Mitglieder der Küchencrew pflücken selbst in den Wäldern und auf Wiesen die benötigten Zutaten wie Kräuter, Blüten, Beeren und Pilze. Das Wissen um die Plätze ist gut gehütet, etwa jener Platz, wo es auf 2.000 Metern Höhe auch im Juli noch Bärlauch gibt.

Verschiedenste Kombuchas, Miso aus Beeren oder Kichererbsen, Sojasauce aus Berglinsen, alles wird selbst gemacht. Und natürlich auch das Brot, mittlerweile nur noch in großen Laiben gebacken, weil es so einfach besser schmeckt. Roggen, Dinkel und Buchweizen kommen aus einer kleine Mühle in Bruneck.

Das Cook the Mountain-Konzept hat neue Dynamik in die rundumliegende Landwirtschaft gebracht. Unter den etwa fünfzig regelmäßigen Lieferanten sind viele junge Produzenten, zum Teil auch Quereinsteiger. Harald Gasser vom Aspinger Hof etwa baut die Hälfte des benötigten Gemüse an. Gesamt verfügt er über 800 Sorten. „Ihm bringe ich auch Samen von Reisen, etwa aus Peru, mit, um zu probieren, was in unserer Höhe geht.“ Das alpine Klima stellt nicht nur beim Anbau, sondern auch bei der Lagerung besondere Ansprüche. So wird etwa jegliches Wurzelgemüse unter einer dicken Schicht Heu bis tief in den Winter hinein gelagert.

Die Kooperation mit den Produzenten ist der Schlüssel zum Erfolg, ohne sie wäre das ganze Küchenkonzept undenkbar. „Im Gegensatz zu früher arbeiten wir ohne Zwischenhändler. Deren Gehalt bekommen jetzt die Produzenten.“

Noch unter vorgehaltener Hand gibt es Infos zum nächsten großen Produzenten-Projekt, der Revitalisierung eines alten Bauernhofs auf 1.500 Metern Höhe mit fünf Hektar Grund. „In einer alten Mulde, hundertprozentig sonnenausgerichtet, in Terrassen. Wir probieren dort viele alte Obst- und Gemüsesorten. Mit dem Klimawandel ändern sich auch die Anbauhöhen.“

Vor mehr als zehn Jahren hat Norbert Niederkofler sein letztes Kochbuch auf den Markt gebracht. Als es am Markt war, war es ziemlich von gestern. Weil er genau zu diesem Zeitpunkt seine Küche radikal änderte. Diese Gefahr besteht heute nicht.

In sein neues Buch hat er eineinhalb Jahre Arbeit und viel Geld investiert. Es beschreibt nicht nur seine Küche, sondern vor allem den Kulturraum, in dem sie entsteht, und die damit verbundenen Menschen in der Landwirtschaft.

Berühmte Signature-Gerichte wie das Reinankentatar mit knusprigen Schuppen oder die Rote-Rüben-Gnocchi stehen weniger im Mittelpunkt als Gespräche mit den wichtigsten Lieferanten, die von Niederkoflers Frau Christine geführt wurden. Etwa mit dem allwissenden Pilzsammler, der die etwa vierzig unbedenklich essbaren Pilze samt ihres Geschmacks und den jeweiligen Eigenheiten kennt. „Mittlerweile wissen wir in der Küche, wie wir einen Pilz fotografieren müssen, damit wir das Bild zwecks klarer Identifikation weiterschicken können.“

Michele Lazzarini arbeitet seit bald einem Jahrzehnt an der Seite von Norbert Niederkofler, er hat alle Stationen durchlaufen und auch jede Menge Auslandserfahrung bei Größen wie René Redzepi, Enrico Crippa, David Kinch, Rodolfo Guzman, Magnus Nilsson und Virgilio Martínez gesammelt. Mittlerweile hat Lazzarini als Küchenchef im St. Hubertus freie Hand. „Ich hatte ja auch nicht so einen Ehrgeiz, neue Gerichte zu erfinden. Das ist mehr die Sache von Michele“, so Norbert Niederkofler, der sich zunehmend um die Verfeinerung der Philosophie, neue Projekte mit Produzenten und die allumfassende Kommunikation kümmert.

Wohlweislich trägt das neue Buch den Titel Cook the Mountain mit der Beifügung „The nature around you“. Damit ist Niederkoflers Arbeitsradius auch für andere Projekte kaum eingeengt. Etwa für das Cook the Lagoon-Projekt, das er seit letztem Winter mit Dario Ossola, Küchenchef im Hotel Aman Venice, vorantreibt. Die Prinzipien von Niederkoflers Bergküche werden dort mit Produkten aus der Lagune umgesetzt, wobei neben Fisch und Meeresfrüchten vom ­Rialto-Markt verblüffend viele Gemüseraritäten von den landwirtschaftlich genutzten Nebeninseln zur Verwendung kommen. Etwa Wurzelgemüse, das durch die speziellen Bodenverhältnisse eine natürliche Salzwürze aufweist. Der Stoff für viele Geschichten über Produkte und traditionelle Rezepturen wird also nicht so schnell abhanden kommen.

Das Buch

Mehr als zehn Jahre nach dem Entstehen der Cook the Mountain-Kochphilosophie hat Norbert Niederkofler auch ein Buch dazu produziert. Gemäß der zusätzlichen Unterzeilen-Botschaft „The nature around you“ enthält das Buch nicht bloß ein Rezepte-Best-of, sondern mittels einfühlsamer Bild- und Textporträts der wichtigsten zuliefernden Produzenten reichlich atmosphärische Hintergrundinformationen. Im Sinne des „No waste“-Konzepts wurde das Buch vollständig auf Apfelpapier gedruckt, einem Material, das aus den Abfällen der Apfelindustrie hergestellt wird.

Der Schuber besteht aus „Pellemela“, einem Lederersatz, der ebenfalls aus Äpfeln hergestellt wird. Die mitgelieferte Box kann man mit wenigen Handgriffen in ein praktisches Lesepult verwandeln.

Das 560 Seiten umfassende Werk wiegt immerhin satte drei Kilogramm. Das Buch erscheint bei Random House in deutscher, italienischer und englischer Sprache und ist um ca. 98 Euro im Buchhandel und ­online erhältlich. www.n-n.it

St. Hubertus
3-Michelin-Sterne-Restaurant im Hotel Rosa Alpina der Familie Pizzinini in St. Kassian in Alta Badia. Einst berühmt für besten Hummer und Gänseleber in den Alpen, entschloss sich Norbert Niederkofler vor knapp zehn Jahren zum radikalen Konzeptwandel und kreierte mit Cook the Mountain eine neue alpine ­Küchenidee. Tatsächlich sind alle Zutaten ­regional und handverlesen und werden von Küchenchef Michele Lazzarini auf allerhöchstem Niveau dargebracht.
www.st-hubertus.it

Hotel Rosa Alpina
Das traditionsreiche Haus ist zurecht Mitglied bei The Leading Hotels oft the World, es ­bietet jeden nur erdenklichen Luxus, sowohl kulinarisch als auch beherbergungsmäßig. Edelste Materialien in den großzügigen und sehr geschmackvoll eingerichteten Räumlichkeiten, dazu Spa mit Indoorpool, Saunen, Gym und vielen anderen Wellnessangeboten.
www.rosalpina.it

AlpiNN
Niederkoflers Restaurant auf dem ­Kronplatz auf 2.240 Metern Höhe. Hier treffen sich Wanderer, Wintersportler und Besucher des Lumen-Fotomuseums für gediegene ­Genüsse, wie man sie in dieser Höhe nicht vermuten würde. Alles ­Gebotene ist gemäß der Cook the Mountain-Philosophie saisonal, regional und alpin ­ausgerichtet. Ein angenehmer Ort mit lässiger Atmosphäre und atemberaubender Aussicht
auf die Bergwelt der Dolomiten.
www.alpinn.it

Hotel Aman Venice
In Venedig arbeitet Norbert Niederkofler gemeinsam mit Küchenchef Dario Ossola unter dem Motto Cook the Lagoon an einer faszinierenden neuen Interpretation der regionalen Lagunen-Küche. Die 4-Hand-Dinners der beiden sind ein echtes Erlebnis, so wie auch das Haus selbst. Der königliche Palazzo aus dem 16. Jh. am Canal Grande wurde zu einem wunderbar stimmigen Hotel mit 24 Gästezimmern und ­Suiten umgebaut, die mit reichlich architektonischen und künstlerischen Details glänzen.
www.aman.com/venice