Smell. Touch. Taste.

Lebenshunger, lost in perfection. Immenser Appetit, zu arbeiten, zu lieben, zu essen. Asmik Grigorian, Sopranistin, Stimm-Schauspielerin, Star. Zugvogel und Heimchen am Herd. Die Seelenspeisen für Tochter Lea kocht sie täglich.

Text von Ro Raftl Fotos von Stefan Fürtbauer

Beinahe paradiesisch: Asmik Grigorian fixiert fasziniert das Paradeiserhochbeet im Gastgarten von Andreas Döllerers Genießerhotel – und zupft sich einen duftenden Paradeiser aus dem Grün. Ihre Augen leuchten. „Hab einen ziemlich seltsamen ­Fetisch“, beichtet die Sopranistin mit der rauchigen Sprechstimme lachend. „Kann an keinem Gewächs vorübergehen, ohne die Früchte haben zu wollen.“ Ungewöhnlich, sicher, doch bald entschlüsselt: die verklärte Kindheit beim fernen Daddy! Diese frischen, ursprünglichen Gerüche, Geschmäcker, Berührungen! „Mein Vater hatte in Armenien einen Garten mit den verschiedensten Obstbäumen, Äpfel, Marillen, Pflaumen, Kirschen – und jedes Mal, wenn ich hinfuhr, hab ich die erste Woche ­regelmäßig auf einem dieser Bäume verbracht.“ Lust, die sich verfestigt hat: „Immer, wenn ich einen Baum mit Früchten seh, muss ich ein, zwei pflücken und essen. Und mich streng dran erinnern, dass dieser Baum nicht mir gehört!“ Lacht wieder. Fröhlich. Weiß, dass schlechtes Gewissen beim ­Döllerer vergeudet ist, sie ist der Familie verbunden.

Seit ihrer sensationellen Interpretation der ­Salome bei den Salzburger Festspielen 2018 glänzt die litauische Sängerin als ganz besonderer Stern am Opernhimmel – als Stimm-Schauspielerin, aufregend, authentisch, energiegeladen, charismatisch im Farbwechsel von Belcanto zu metallischen, fast rauen Tönen, um Charaktere zu kreieren. Sagt: „Ich versuche, Schönheit in allem, was ich singe, zu finden. In jeder Rolle. Egal, ob bei Puccini, ­Verdi oder Richard Strauss. Lebendige Farben! Dieselben sollten es nie sein.“

Asmik, dieser ganz besondere Stern. Blaue Augen, schwarzes Haar. Natürlich, herzlich, kooperativ. Lässig gestylt in Boyfriend-Jeans und weißer spitzengerandelter salzburg-gerechter Bluse, die ein blendendes Dekolleté zu Geltung bringt. Nächstes Jahr will sie „unbedingt“ ein Dirndl kaufen. Fragt, woher das Wort Dirndl kommt. Hellwach, neugierig, lernbereit. Und genussfroh.

So schön, ein paar Stunden wieder das Kind zu sein, das frische Früchte vom Strauch nascht. Doch was heißt hier Kind?! Teenager, zickig, cool und bissl rebellisch, wie sie die Senta in Richard Wagners Der fliegende Holländer in Bayreuth anlegt – und damit Standing Ovations der Gala-Gäste am Grünen Hügel und hymnische Kritiken als „Ereignis“ der Eröffnungspremiere geerntet hat. „Dieser Gesang ist eine Erlösung“ titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Vor ein paar Stunden erst ist AG mit dem Zug aus Bayreuth nach Salzburg gekommen, wo sie morgen in Richard Strauss’ Elektra die Chrysothemis singt. Ihre fünfjährige Tochter Lea, die sie auf allen Reisen begleitet, spielt unter Obhut der Nanny im Gartenidyll des gemieteten Salzburger Bungalows, also, lehnt sich die Mutter zurück, ordert „Champaign“ und zündet sich eine Zigarette an. Lauscht höflich gebannt, als der Chef de Service in bestem Englisch feierlich die Herkunft der Appetizer aus sämtlichen Regionen Salzburgs erklärt, spielerisch auf einem geschnitzten Holzbrett in Form der Landkarte präsentiert: Bierfleisch, der Hauptstadt zugeordnet, kleiner junger Rettich aus dem Flachgau, gebeizte Forelle aus dem Tennengau, geräucherter Schafkäse aus dem Pinzgau et cetera, et cetera.Seufzt genussvoll „Ohh, soo good!“ über dem Romanasalatherz mit Attersee-Misomarinade, putzt die Alpin-Ramen (ein interessantes Rezept: Klare Hendlhaxlsuppe, Fürstenhof-Dinkelramen, zwei Tage in Sojasauce gebeiztes Ei, Duroc-Ripperl, Kohl, Mangold, Tannenflechten und Abtenauer Bio-Wildhendl) ebenso genussvoll weg wie das Secreto vom Ötscherblickschwein, genießt den gerührten Eiskaffee. „Yesss! I love it!“

Döllerers Familienbetrieb ist nicht umsonst trophäenüberhäuft, sein Genießerrestaurant aktuell vom Guide A la Carte mit fünf Sternen und 99/100 Punkten als eines der besten Restaurants Österreichs ausgezeichnet. Döllerers Alpine Cuisine könne keiner ­widerstehen, ihrer originellen Faszination sich niemand entziehen, heißt es in einem Interview, doch dass er bei aller perfektionistischen Leidenschaft für seinen Beruf so angenehm erdig geblieben ist, bringt ihn Asmik Grigorian nahe. Näher noch Nina Behrendt, die eine Werbeagentur betreibt und ländlich-luxuriöse Chalets vermietet. Asmik hat sich mit ihr befreundet – „sehr eng“, sagt sie, „da unser beider Töchter zu früh geboren wurden“ –, und so kam’s zu einer schon legendären Charity für die Neonatologie an der Uniklinik Salzburg: Grigorian sang, Behrendt organisierte, Döllerer richtete das Dinner aus, 22.000 Euro wurden eingespielt. Herzenssache.

„Normalerweise“, sagt die Bejubelte, „gehe ich selten aus, noch seltener in Restaurants, arbeite so viel, bin froh, zu Hause mit der Familie zu essen.“ Zu Hause heißt meist: ein gemietetes Nest. Berühmte Sängerinnen sind Zugvögel. Doch dieser Star kann kochen. Stand schon als kleines Mädchen gerne am Herd. Damals für ihr Leibgericht Kartoffeln: „Nicht in Öl, sondern in Butterschmalz gebraten. Haha, heut als Ghee total hip. Doch in Litauen gab’s das schon immer. Am allerbesten aus der Pfanne meiner Großmutter. Köstlich! Mein Vater spöttelte oft: ,Wie könntest du bloß ohne Kartoffeln überleben?‘ Bei Lea sag ich dasselbe, nur geht’s jetzt bei ihr natürlich um Pasta!“

Springt über zur bildhaften Schilderung ihres ersten Versuchs, fluffiges Germgebäck zu erzeugen: „Viel zu viel Hefe und Milch auf zu wenig Mehl, viel zu weich, um den Teig auszurollen. Mehr Mehl, zu trocken. Mehr Milch, zu weich.“ Bis sie ihn in eine Riesenschüssel gab und einschlief. Ihre beiden Halbbrüder väterlicherseits weckten sie: „Was zum Teufel soll denn das sein?“ Der Teig war gewachsen und gewachsen und aus der Schüssel über den Tisch auf den Boden gequollen. Sie zerkugelt sich. „Wir haben ihn weggeschmissen.“

Längst kocht sie mit links. „Viele Suppen. Einfaches Essen. Schau, was ich im Kühlschrank hab, immer Fisch, Fleisch, Obst, Gemüse, damit koche ich und sehe, was geschieht. Okay, wenn was fehlt, geh ich einkaufen, natürlich auch, wenn Gäste kommen, doch für gewöhnlich plane ich nicht, was ich kochen will. Mir reicht, was ich im Kühlschrank finde, um daraus etwas zu machen. Richtig zu kombinieren ist die Kunst. „Smelling“, sagt sie, und meint ihre Spürnase, ihre Vorstellungsgabe, ihr Gefühl, wie etwas schmecken und riechen soll, „smelling hilft der Fähigkeit zu kombinieren.“ Räumt ein: „Natürlich auch eine Geschmacksfrage. Meine Mutter öffnet den Fridge und sagt: Es ist nichts da. Ich erschrecke, schaue nach und seh so vieles, aus dem sich was kreieren lässt. Das einzige Problem ist die Milch“, witzelt sie, „die kann man nicht ewig aufbewahren. Ja, und eigentlich mag ich keine Milch, doch plötzlich bekomme ich Lust darauf.“

So schlank und trainiert die schöne Perfektionistin ist, so beharrlich erklärt sie, ihr Gewicht kontrollieren zu müssen. „Aber gut so! Hab gelernt, gesund zu essen, bio und Slow Food selbstverständlich. Ich oder Leas Nanny kochen jeden Tag: Fleischsuppe mit Gemüse, Borschtsch, Fischsuppe mit Tomaten, Hühner-suppe mit Pasta, Kartoffelsuppe. Manchmal wie in Armenien, wo sie die Suppen dick wie einen Eintopf brauen und als Hauptspeise servieren. Manchmal wie in Litauen, wo die Suppen leichter sind und als zweites Gericht Fisch oder Fleisch folgen.“ Erklärt ihre Kochphilosophie am Beispiel der gestopften Weinblätter Dolma und der Kraut-Kohl-Roulade: „Ob mit Lamm- oder Schweinsfaschiertem oder vegetarisch gefüllt, ob mit Reis oder Bulgur, ob Tomaten, Paprika, Pilze, ob viel Knoblauch und Zwiebel oder nur ein Hauch dazu­gegeben wird – das Grundprinzip ist immer dasselbe.“ Wobei: „Ohne Fleisch schmeckt das Gewickle kalt, mit Fleisch muss es heiß sein. Lea und die Nanny mögen das auch.“

Geht sie doch einmal essen, hängt’s hauptsächlich vom „Chef“ ab. Ein Freund hat vor Kurzem in Vilnius ein Restaurant eröffnet, SNAI, „die besten Wiener Schnitzel der Stadt“, da schaut sie drauf, dass es vorwärts geht. Denn. „Es ist nicht so sehr, was ich esse, sondern mit wem und in ­welcher Stimmung. Gute Stimmung ist das Wichtigste. Nahrung für den ganzen Körper. Seelenfutter. Gleichzeitig denk ich: Meine besten Lebensmittel sind die, bei denen ich Menschen etwas geben kann, das sie glücklich und zufrieden macht. Das ist mein Hauptnahrungsmittel – an dem ich wachse und mit dem ich überlebe.“

Ja. Opernfreunde bekommen ALLES von diesem beweglichen, fantasievollen, scheinbar alterslosen Wesen. Der Kalenderspruch mit der „Kerze, die an beiden Enden brennt“ scheint wie für Asmik erfunden: In manchen Augenblicken möchte man sie fast beschützen. Regisseur Romeo Castellucci hat diese Hingabe für seine symbolreich bildstarke ­Salome genützt. Allein dieser Blutfleck im Schritt ihres grellweißen Kleids! Magisch bis zum zermalmenden Finale ohne den sonst obligaten Schleiertanz. Asmik Grigorian wurde opernweltweit berühmt. Österreichischer Musiktheaterpreis 2019 und Sängerin des Jahres 2019, von den Kritikern der deutschen Opernwelt gekürt.

Nicht nur ihre Stimme strahlt ­fantastisch. Grundbedingung ist allerhöchste Präzision. Zur Businesssprache Englisch lernt Grigorian Rollen auf Deutsch oder Italienisch mit einem Sprachcoach: „Wenn man ex-trem genau arbeitet, spüren die Zuschauer die Energie, die mit jedem Wort verbunden ist, ebenso genau“, hat sie in einem Interview gesagt. Und dass sie „eigentlich“ ihr ganzes Leben Musikerin war. Ihre Mutter sang die Butterfly schwanger mit Asmik im achten Monat, später sangen beide ­Eltern die Hauptrollen und sie spielte Butterflys Kind. Klar, dass sie die Partie der Cio-Cio-San immer wieder als besonders berührend und herausfordernd spürt – nicht nur, weil sie ihre Karriere an der Königlich Schwedischen Oper triumphal begründet hat. Oder vergangenes Jahr als Butterfly die Herbstsaison der Wiener Staatsoper eröffnet.
Der armenische Tenor Gegam Grigorjan und die litauische Sopranistin Irena Milkeviciu¯te˙ hatten einander in Mailand beim Studium kennengelernt … selbst wenn letztlich wie so oft ein Patchwork daraus wurde. Die Tochter gerät ins Philosophieren, denkt vielleicht auch an das eigene Leben: „Die Familie zu retten, bedeutet oft, Liebe und Respekt zu verlieren. Wunderschön“, findet sie, „wenn sich Paare an den Händen halten, doch nur, wenn es wirklich aus Liebe geschieht und sie nicht aneinander ­leiden. Nur zusammenzubleiben, weil sie denken, was werden die Leute sagen, wegen des Geldes oder wegen der Kinder? Vielleicht gar nicht falsch, für mich dennoch fake. Ich kann nur aufrichtig mit Leib und Seele lieben. Hm. Die Familie retten?! Ich find es wichtiger, den Respekt und die Zuneigung zu retten.“

Die Frage nach der Religion greift bei ihr nicht, obwohl sie in Eriwan armenisch-katholisch getauft worden ist: „Ich bin keine religiöse Person, obwohl ich alle Religionen respektiere.“

Asmik wuchs in Vilnius auf, neun Jahre im sowjetischen System, besuchte mit fünf die Musikschule. So entsetzlich sei’s gewesen, dass sie heute noch am ganzen Körper zittert, wenn sie daran denkt. Und nein, nicht das System der Strenge war schuld – „nicht alle Schulen waren so schrecklich“ –, es waren die Lehrer dort: „Kinder in einer Kunstschule sollen Talent haben und ,besonders‘ sein – aber zugleich auch ‚normal‘. Das kann nicht funktionieren! Ich denke, eine Kunstschule soll dir helfen, dein Talent zu entwickeln und sich daran zu freuen. Doch es war genau das Gegenteil.“ Mit sechzehn endlich in einer anderen Musikakademie fühlte sie sich „gerettet“.

Und später. Wurde sie ein Gründungsmitglied der Vilnius City Opera, und gleich zwei Mal mit dem „Goldenen Bühnenkreuz“ ausgezeichnet. Grigorian hat mehr als 50 Rollen in ihrem Repertoire. Erfüllt sie mit hundertprozentiger Energie: „Ach, so viele Leben in einem.“

Dennoch. Möchte sie Tochter Lea nah bei sich behalten, bis sieben zu Hause unterrichten lassen, dann erst einen Lebensmittelpunkt fixieren. Momentan denkt sie an Wien. Am 16. Dezember debütiert der ge­feierte Stern als Elisabetta in Verdis Don Carlo an der Staatsoper. Eine Wiederaufnahme der Inszenierung von 2012 allerdings, in der sie darstellerisch nicht so viel entwickeln kann. Sagt nur: „Ich bin neugierig.“ Und im Februar 22 zeigt sie sich erstmals als Manon Lescaut in Wien – eine ihrer Paraderollen. Spannend.

Momentan aber schwirrt ihr der Kopf. In nächster Zeit muss sie ständig reisen. Auch in Vilnius vorbeischauen, um sich Sachen im Basis-Gepäcklager bei ihrer Mutter zu holen. Ihre Appartements sind besetzt. Das eine vermietet, das an­dere von ihrem Sohn Noah, litauisch Nojus, bewohnt: „Er ist 18 und beginnt zu studieren. Das ist die Zeit, um alleine zu leben.“ Er kam zur Welt, als sie selbst noch Studentin war: „Hart, aber auch ein unglaublicher Ansporn zur Arbeit. Wär nicht die, die ich heute bin, ohne ihn. Kochen hab ich ihn nie gelehrt, doch er kocht täglich für sich selbst, weil er’s so liebt. Es rührt mich zu Tränen, wenn ich ihn am Herd sehe. Das erinnert mich so an meinen Vater.“

Ihre Heldenfigur. „Extrem stark, bodenständig, energiegeladen hat er jede Sekunde seines Lebens genossen. Ein wirklich liebender und lebendiger Mensch.“

Und ein großartiger Koch. „Er kannte alle Geheimnisse der armenischen Küche, der besonderen Lammgerichte, Suppen und Gemüse, der ­geliebten Auberginen, oft gefüllt oder gerollt.“ Das Rezept von Vaters Aubergine-Rolls schüttelt sie wie nix aus dem Ärmel: Melanzani der Länge nach in dünne Scheiben schneiden. In einer Menge Öl (Oliven- oder Rapsöl, jedenfalls gesund und erhitzbar) braun braten. Auf Küchenpapier abtropfen lassen. Etwas salzen. Für die Fülle: griechisches Joghurt, Salz, Knoblauch, gehackte Walnüsse, vielleicht ­etwas Curry. Die Melanzanischeiben bestreichen und zusammenrollen. Mit Granatapfelkernen (vielleicht auch Dille) garnieren.

Lächelt ernsthaft: „Ich bin ihm ähnlich, könnte auch nicht ausschließlich für die Kunst leben, ich muss riechen, schmecken, berühren. Diese Seite meines Charakters hab ich von ihm: den immensen Appetit zu leben, zu arbeiten, zu essen. Nur. Alles, was ich tue und liebe, birgt die Gefahr, es zu übertreiben. Hat sich aber schon bisschen gebessert, hab gelernt, zu genießen, doch nicht zu viel. Zufrieden zu sein mit einem kleineren Teil von allem.“

Ja. Als Sängerin atmungsgeschult, kommt sie trotz Wüstenhitze ohne Erschöpfungsanzeichen vom steilen Aufstieg zum Fotoshooting bei der ­Kapelle über Döllerers Hotel zurück. Wow! Hat als Push-up unterwegs aber auch ein paar Frühzwetschken vom Baum gemaust. Großzügig bietet sie mir ein, zwei an.

GOLLING, ÖSTERREICH – AUGUST 21. 2021: Die litauische Opernsängerin Asmik Grigorian, die 2021 ua. bei den Salzburger Festspielen die Senta in Dmitri Tcherniakovs Inszenierung von Der fliegende Holländer spielte, im Porträt beim Döllerer in Golling bei Salzburg. © Stefan Fürtbauer