Bistro am Meer

Die Côte d’Azur ist erfreulich leistbar. Lange Zeit galt der Küstenstreifen zwischen Nizza, Cannes und Saint-Tropez als wahres Minenfeld für die Brieftasche. Hans Mahr weiß, wo man an der Côte d’Azur hervorragend und zu vernünftigen Preisen isst.

Text von Hans Mahr/Foto Mr. Tripper

Sechs verschiedene Austern, fünf verschiedene Shrimps, Krabben, Hummer und Muscheln jeglicher Art, aufgetürmt auf Holztischen – so stellt man sich ein südfranzösisches Fruits-de-mer-Lokal vor. Das Café de Turin in Nizza entspricht genau diesem Klischee, am Platz Garibaldi, unweit vom alten Hafen, sind die Einheimischen noch in der Überzahl, und daher ist das Essen auch erschwinglich. Viel frisches Meeresgetier, ein Glas Sancerre oder ein Rosé aus der Gegend, schöner kann ein Urlaub an der Côte d’Azur nicht beginnen.

30 Kilometer weiter, in einer unscheinbaren Nebenstraße von Cannes zwischen der berühmten Croisette und der Einkaufsstraße Rue d’Antibes, liegt das L’Affable, das Paradebeispiel für ein französisches Neo-Bistro. Hell und unverschnörkelt und mit der besten Gänseleber weit und breit. Der Service ist freundlich und zuvorkommend, was, ehrlich gesagt, in dieser Gegend nicht selbstverständlich ist, und die Preise sind jahrein, jahraus dieselben. Egal, ob gerade Hollywood bei den Filmfestspielen feiern lässt oder im Spätherbst, wenn sich nur gelegentlich Touristen hierher verirren.

Noch einmal 60 Kilometer und wir sind in Saint-Tropez, wo die angeblich Schönen und angeblich Reichen ihre liebste Spielwiese gefunden haben. Doch im Chez Camille in Ramatuelle ist davon nichts zu spüren. Die ehemalige Bretterbude am kleinen Strand ist zwar einem stabilen Aluminiumgerüst gewichen, aber die Bouillabaisse ist die gleiche geblieben – wahrscheinlich eine der besten an der Küste, Marseille mit eingeschlossen. Die Kinder können in Sichtweite im Meer planschen und Mama und Papa sich auf ihre Fischsuppe mit Dorade, Petersfisch, Rotbarsch und Tintenfisch konzentrieren.

Was haben diese drei Lokale gemeinsam? Sie sind hervorragende Restaurants, deren Besuch sich nicht nur Yacht- und Villenbesitzer und deren kapitalkräftige Entourage leisten können. Restaurants, die auch für unsereins erschwinglich sind: die Meeresfrüchte-Platte im Café de Turin pro Person ab 25 Euro, das Menü im L’Affable um wohlfeile 45 Euro und, wenn man sich die Bouillabaisse teilt, auch nicht mehr als 50 Euro pro Kopf und Nase in der Camille. Genau auf eine derartige Gastronomie wollen wir uns hier und heute konzentrieren – nicht auf die altbekannten, meist sauteuren Luxus-Sterneküchen. Im Mittelpunkt steht eine Kulinarik, die leistbar, aber trotzdem qualitativ hochwertig ist. Und da gibt es glücklicherweise genug zu berichten. Denn die Bistromania, also das Wiederaufleben der französischen Bistros in neuem Gewand, hat bei diesem Trend mitgeholfen und endlich auch die Côte d’Azur erreicht.

Und das ist gut so, denn nach dem pandemiebedingten Ausfall der russischen und asiatischen Gäste besinnen sich die einst hochnäsigen Gas­tronomen am Mittelmeer auch auf „Normalos“ wie dich und mich, deren Brieftasche weder durch große Immobiliendeals noch durch Aktienspekulationen aufgefüllt worden ist.

Hotspot Nizza. Wer in der französischen Mittelmeerstadt landet, hat kulinarisch die Qual der Wahl. Neben Restaurantlegenden wie dem oben beschriebenen Café de Turin ist in den letzten Jahren eine regelrechte Kolonie von Neo-Bistros entstanden. Jungköche, die bei den großen französischen Chefs gelernt haben, eröffnen reihenweise neue kleine Genussplätze in Nizza. Das L’Eau de Vie in der Altstadt bietet Bistroküche mit italienischen und spanischen Anleihen an, im Chabrol gibt’s Fisch mit Zucchiniblüten oder Kalbsnüsschen mit Bohnen um 25 Euro, und nebenan bei Jan hat ein junger Südafrikaner ein romantisches ­Minilokal aufgemacht, wo er seine Heimatküche (z. B. Biltong, Trockenfleisch) mit der französischen vermählt. Oder man besetzt einen der sechs Tische im Pure & V, wo lange vorzubestellen ist, um in den ­Genuss von Grouper mit Pastinakenchips und Blutorangen zu gelangen. Oder es geht zum Diner ins La Merenda vom ehemaligen Sternekoch aus dem noblen Hotel Negresco. Oder man probiert französische Tapas im Le Lavomatique – ja, richtig, dort war noch bis vor Kurzem eine Wäscherei beheimatet.

Dazu kommen noch die Bistroklassiker, vom Le Bistrot D’Antoine (unbedingt die mit Kohl gefüllte Ente probieren) über das Le Comptoir Du ­Marché (Lachs mit Roter Beete) bis hin zum ­Peixes (dort gibt’s Fisch, Fisch und Fisch). Ehrlich, hier in Nizza gibt’s die beste Bistrokultur außerhalb von Paris.

Auf halbem Weg nach Cannes, in La Colle-sur-Loup, hat ein Großer, nämlich Alain Llorca, sein gleichnamiges Feinschmeckerlokal eröffnet. Das Menü – Foie gras mit Kirschchutney, Lamm mit Thymian und Artischocken und als Abschluss eine sagenhafte Schokoladecreme mit Vanille und Kakao – kostet zwar schon 90 Euro, aber dafür bekommt man den wunderbaren Blick auf das mittelalterliche Saint-Paul-de-Vence gratis dazu. „Ich habe in der Pandemiezeit viel dazugelernt, wie man besser organisiert, und mir auch viele neue Kreationen überlegt. Zeit dafür hatte ich ja genug“, erzählt er nach dem Essen. Anmerkung: Das Überlegen hat sich ausgezahlt, bei Llorca bekommt man heute die wahrscheinlich beste französische Hochküche zu einem vernünftigen Preis an der Côte d’Azur.

Hotspot Cannes. In der Festival­stadt ist das Gastronomiegeschäft im Sommer wieder voll angelaufen. Durch die Altstadt und an der Croisette, der Flaniermeile am Strand, schieben sich Touristenströme wie selten zuvor – nach Corona ist ja einiges an Urlaubsfreuden nachzuholen. Und das Gute an der Gastronomie von Nizza und Cannes ist, dass die besten Lokale auch im Herbst und im Winter offen haben. Das moderne Bistro L’Affable wurde schon erwähnt, andere wie das La Mome in der Fußgängerzone oder das Bistrot Gourmand mit einem großartigen Beef Tatar und Pommes allumettes (also den dünnen, streichholzartigen) können da nicht ganz mithalten, sind aber einen Besuch wert, wenn das L’Affable wieder mal ausgebucht ist.

Das Gegenstück zu den Neo-Bistros ist das La Cave: ein Wirtshaus, in dem die Luft früher Gitanes-rauchgeschwängert und der Fußboden voller Löcher war (dort, wo die Zigaretten ausgedämpft wurden). Die Renovierung hat dem La Cave optisch gut ­getan, aber die Küche ist für kon­servative Bistrogenießer die gleiche ­geblieben: Trüffelnudeln, Kalbsbries oder Nieren mit Morcheln, ein Chateaubriand mit krossen Pommes frites und dazu eine sagenhafte Auswahl an Weinen zu moderaten Preisen, Bordeaux und Burgund inbegriffen.

Die Sterneköche des Oasis und der Villa Archange haben dem Trend nach leistbarer Verköstigung ebenfalls nachgeben müssen. Im Bistrot de L’Oasis und im Bistrot des Anges wird nach Anweisung der Chefs gekocht, und zwar wirklich exzellent und zu Menüpreisen von unter 40 Euro. Natürlich fehlt die gestärkte Tischdecke, das Silberbesteck, der behandschuhte Mâitre – aber ehrlich gesagt, es geht ja ums Essen und nicht um Rituale, die schon etwas in die Jahre gekommen sind.

Wer direkt am Strand essen will, den muss man vor den diversen Beach Clubs warnen – meistens teuer und mit wenig Esprit. Wer’s wagen will, dem sei an der Croisette das L’Ondine empfohlen. Fürs richtige Strandessen sollte man aber die Fähre vom alten Hafen nehmen und in 15 Minuten rüber auf die Insel Saint-Honorat schippern. Im La Tonnelle mit wunderbarem Blick aufs Meer sind nicht nur die „Yachties“ zu Gast, auch für eine ganz normale Familie ist der Besuch machbar: Einen ganzen Fisch um 70 Euro für vier und eine Flasche Rosé von der Nachbarinsel kann man sich schon einmal gönnen. Bitte vorher anrufen, denn im Oktober wird zugesperrt und erst zu Ostern wieder aufgemacht.

Hotspot Saint-Tropez. Selbst im El Dorado derer, die nicht auf den Preis schauen müssen, hat sich preislich einiges getan. Es gibt immer mehr Lokale, die die Yachtbesitzer Yachtbesitzer sein lassen und sich auf den einfachen Besucher konzentrieren. Der bekommt etwa im Le Girelier direkt am Hafen (neben dem legendären Café Sénéquier mit seinen roten Holzstühlen, in denen sich einst schon Brigitte Bardot geräkelt hat) mittags um 29 Euro und abends um 39 Euro ein dreigängiges Menü serviert, das sich sehen und schmecken lassen kann. Chef Aimé Stoesser ist da konsequent: „Unser Lokal muss sich jeder leisten können!“ Aber auch daneben im La Petite Plage kann man hervorragend zu zivilen Preisen essen. Niemand Geringerer als Eric Frechon, Drei-Sterne-Koch aus Paris, steht hinter dem Konzept: In-Restaurant samt Cocktailbar in einem, und das Ganze mit Blick auf den Yachthafen mit den teuersten Booten, die im Mittelmeer unterwegs sind.

Bistros sind rar in Saint-Tropez, von intimen Lokalen kann man hier bei hohen Grundpreisen und kurzer Touristensaison nicht leben. Zwei Geheimtipps trotzen den Protzrestaurants: das BanH-Hoï, ein kleines vietnamesisches Lokal gleich beim Rathausplatz, wo man windgeschützt auch im späten Herbst Beef-Salat, Nems und Ravioli, Yellow/Green Curry Chicken und Monkfish in Ginger-Sauce genießen kann, und das marokkanische Salama, das auf dem berühmten Place de Lice aufgemacht hat und mit erstklassigen Tajines und Couscous aufwartet.

Natürlich kann man auch in den diversen Beach Bars essen, aber, so wie in Cannes, meistens extrem überteuert: Rohkost um 100 Euro (im Club 55) oder eine Flasche billigsten Rosé, der im Supermarkt um 4,90 angeboten wird, um satte 50 Euro (Nikki Beach)! Das muss man sich nicht wirklich ­geben, auch wenn man die dekadenten Champagner-Duschen rechts und links vom Tisch dadurch versäumt.

Zwei neuere Etablissements bieten seit Kurzem auch ordentliches Essen an, das seinen Preis wert ist. Das Bagatelle am Pampelonne-Strand wird von einem Pariser Restaurateur geführt, dessen kulinarisches Bemühen man durchaus spüren kann, und das brandneue Gigi am Strand von Ramatuelle – eröffnet im Sommer 2021 – hat mit Abstand die beste Küche von allen Beach Clubs: Carpaccio vom Loup de Mer oder vom Beef, eine Tagliata vom Thunfisch oder ein Limonen-Huhn mit Gnocchi, da kann man nicht meckern. Qualität am Strand – neu für Saint-Tropez!

Allerdings sperren die meisten der Beach Bars wie auch die Bistros und Restaurants im Winter zu. Die Grande Braderie, der gemeinsame Abverkauf in allen Geschäften (wer will denn schon mit dem Look von heuer im nächsten Jahr herumlaufen), leitet Anfang November die tote Saison ein. Dann wird Saint-Tropez wieder zu dem, was es einmal war, vor vielen Jahren, bevor es der Jetset entdeckt hat: ein verträumtes Fischerdorf, in dem nach neun Uhr abends die Lichter ausgehen …