Das sonnige Gelb des ewigen Risottos

Rastlose Tage in Mailand, zwischen verführerischen Kutteln, dem perfekten Drink und der Konstante des perfekten Risotto alla milanese.

Text von Christian Seiler · Illustration von Markus Roost

Als der Grieche und ich durch Mailand wanderten, um uns den Bosco Verticale, die Hochhäuser mit den hängenden Gärten, in echt anzuschauen, sprachen wir bald einmal übers Essen.

„Wir könnten“, sagte der Grieche schmatzend und sah dabei ein bisschen unappetitlich aus, „in die Trippa gehen und die Kutteln essen …“

Leider musste ich ihn unterbrechen.

„Wir sind schon gestern in der Trippa gewesen und haben die Kutteln gegessen. Und vorgestern waren wir auch in der Trippa und haben die Kutteln gegessen. Außerdem hat die Trippa heute zu, und ich will endlich einmal einen Risotto bekommen.“

Schmollend keifte der Grieche zurück: „Du mit deinem Risotto. Ich höre immer nur Risotto. Wie oft willst du eigentlich noch Risotto essen?“
„Ich will genauso oft Risotto essen wie du deine Kutteln. Wenn du es genau wissen willst.“

Das war meine tief empfundene Wahrheit, die sich freilich in der unübertrefflichen Trattoria Trippa nicht umsetzten ließ, weil auch ich den Kutteln nicht widerstehen kann, wenn ich einmal einen Tisch in der Via Giorgio Vasari 1 ergattert habe – hört Ihr die Warnung? Hier ist es immer voll, man muss rechtzeitig ­reservieren, selbst wenn auf der Karte ein fabelhafter Risotto mit einer gegrillten Markscheibe steht. Aber so behutsam geputzte und sanft geschmorte Kutteln wie hier gibt es auf der ganzen Welt nirgendwo, also muss man die Kutteln essen, auch wenn man eigentlich Risotto will. Manche Dinge sind leider nicht zu ändern.

Jetzt begann die Unterlippe des Griechen leise zu beben, das hieß, ein Wutausbruch stand unmittelbar bevor. Schließtage von Lokalen, die er mag, bringen den Griechen zur Weißglut, und die Idee, mit mir an einem Tisch zu sitzen und von mir zum Schweigen aufgefordert zu werden, damit ich in absoluter Ruhe meinen Safranrisotto ohne gar nichts verzehren kann, heiterte ihn auch nicht auf. Viel zu oft war er mir schon mit dem Sermon auf die Nerven gegangen, dass der beste Risotto einer Portion Trachana, einer griechischen Teigware mit getrockneter und gesäuerter Ziegenmilch, hoffnungslos unterlegen sei, und auf diese Predigt hatte ich gerade überhaupt keine Lust.

Prophylaktisch sagte ich also: „Und komm mir nicht auf die Idee, dass wir heute Abend zu irgendeinem italienischen Griechen gehen könnten, um dort Trachana zu essen. Ich verabscheue Trachana. Ich esse heute Risotto.“

Stimmt gar nicht, ich mag Trachana sehr gerne. Aber nicht hier und nicht jetzt, sondern in Messenien und zwar bei Cristina Stribacus Mutter, aber das ist eine andere Geschichte.

Der Grieche aber hatte genug gehört. Kindisch, wie er nun einmal ist, fühlte er sich in seinem Nationalstolz getroffen, drehte auf dem Absatz um und entschwand in Richtung Porta Garibaldi, während ich die letzten Meter zu den Zwillingstürmen zurücklegte, die der Architekt Stefano Boeri für ein äußerst wohlhabendes Publikum in die etwas öde Stadtbrache gestellt hatte.

Bosco Verticale ist ein spektakuläres Projekt, das schon. In die Terrassenlandschaften der über hundert Meter hohen Gebäude wurden Hunderte Bäume und Sträucher verpflanzt, die nicht die großzügigen Balkone der Wohnungsinhaber schmücken, sondern die Fassaden überwuchern und den Häusern ihr charakteristisches, elegant-archaisches Aussehen geben.

Ich betrachtete die vielfach preisgekrönte Architektur mit einer Mischung aus Staunen und Abscheu. Klar, im Vergleich zum Hundertwasserhaus war das hier ein Fortschritt, aber was für eine Art von Fortschritt? Nicht nur, dass die Bepflanzung der Fassaden fast ein Jahr dauerte, es brauchte dafür auch einen Stoßtrupp von gärtnernden Kletterern und schussfesten Designern. Ein aufwendiges Schlauchsystem, das durch das ganze Haus verlegt ist, sorgt für die Bewässerung der Pflanzen, und man mag sich nicht vorstellen, wann die ersten Wasserschäden die Eigentümer der schicken Appartments auf eine Belastungsprobe stellen. Die Gärtner, die permanent mit der Pflege des wuchernden Grüns beschäftigt sind, müssen mit einem auf dem Dach positionierten Kran abgeseilt werden, damit sie aus der Luft ihrer Arbeit nachgehen können. Wenn hier irgendwer von einem ökologischen Mustermodell spricht, hat er nicht verstanden, dass man für ökologische Mustermodelle keine Symbole braucht, sondern multiplizierbare Ideen.

Ich beruhigte mich im R.E.D.-Café im Erdgeschoß des nahen Unicredit-Hochhauses. Das ist eine voluminöse Buchhandlung des Verlagshauses Feltrinelli, in dem man – muss ich das in Italien überhaupt noch dazusagen? – hervorragend Kaffee trinken kann. R.E.D. steht für „Read Eat Dream“, also gestattete ich mir ein Cornetto mit Vanillecreme und träumte eine Stunde lang über abgefahrenen Bildbänden, die mich über längst vergangene Designtrends und Mailänder Innenhöfe ins rechte Bild setzten.

Einer davon, der zum wahrscheinlich bekanntesten Departement-Store der Stadt gehört, befand sich gleich um die Ecke, also verließ ich das architekturmodellhafte Ambiente der Bahnhofsüberbauung der Porta Garibaldi und begab mich durch ein Spalier teurer Turnschuh- und Löcherjeansläden auf den Corso Como, wo auf Nummer 10 die kühnen Träume sämtlicher Menschen mit einem Mindestinteresse an Mode wahr werden.

Ich beschied mich damit, in dem kühlen grünen Innenhof – dessen auf den Pawlatschen postierte Oleander- und Efeuwälder den Namen Bosco Verticale viel mehr verdienen als das Hochhaus um die Ecke – Kaffee und Wermut zu trinken. Aus einem unsichtbaren Lautsprecher strömte der unvergleichliche Trompetensound von Miles Davis, ich erkannte das Album +19, diese phänomenale Zusammenarbeit von Davis und Gil Evans, und ich hätte mir keinen schöneren Ort vorstellen können, um mich von der Musik, vom Wermut und der Frische der Luft davontragen zu lassen.
Um die Ecke vom Corso Como befindet sich Italiens erstes Kompetenzzentrum für kulinarische Kultur, das Kaufhaus Eataly, wo auf drei Stockwerken eine ganze Menge dessen, was wir an italienischem Essen lieben, eingekauft werden kann: Pasta, Reis, Wein, Bier, Kaffee, Gewürze, Öl und Essig, Eis und Schokolade, Liköre und Grappa, Käse, Wurst, Fleisch und Fisch, und selbst wenn man ein
Romantiker ist und das Kleine, Übersichtliche dem Großen, Konzentrierten vorzieht, wird man hier von der schieren Menge und Klasse des Angebots beeindruckt sein.

Es dauert ziemlich lange, bevor man sich einen Überblick verschafft hat, was es hier alles gibt – allein die verschiedenen Mozzarellasorten, die unförmigen Würste und die Schinken aller möglichen Reifegrade. Gleichzeitig drücken sich in den verschiedenen Restaurants, die an ­jeder Ecke irgendetwas Spezielles servieren, zahllose Gäste herum, und der Geruch nach frischem Essen hängt in der Luft wie eine Einladung. Es wundert mich nicht, dass dieses Gastronomiekonzept so erfolgreich ist, dass es in allen möglichen italienischen und europäischen Städten, demnächst dem Vernehmen nach auch in Wien, dupliziert wird.

Zum Essen wollte ich dann doch nicht bleiben, ich hatte nämlich ein paar hundert Meter von hier einen Tisch in der Antica Trattoria della Pesa reserviert. Das Lokal war zu einiger Berühmtheit gekommen, weil der spätere vietnamesische Staatschef Ho Chi Minh, der ja gelernter Koch war, eine Zeitlang hier gearbeitet hatte. Noch immer stehen in den Gasträumen der Trattoria kleine Büsten des Revolutionshelden herum, was mich zuerst ein wenig verunsicherte: War der Chef dieser Hütte etwa ein unbeirrbarer Achtundsechziger? Sympathisierte er mit den Roten Brigaden?
Der Kellner klärte das schnell und kompetent auf. Er legte mir das Cotoletta Milanese ans Herz, das gerade in vierfacher Ausführung am Nebentisch verzehrt und abgenagt wurde. Aus der goldenen Panier ragte selbstverständlich der Knochen heraus, und wir wissen ja, dass sich direkt am Knochen das Beste vom Fleisch befindet.

Aber ich wollte Risotto, und ich bekam Risotto. Der Risotto kam satt und goldgelb aus der Küche, dampfend und kernig, cremig, aber nicht fett. Sowieso völlig ungeschmückt, wie ich das am meisten liebe: nur Risotto mit Risotto, jedes Reiskorn mit einem Glanz, wie er sonst nur in den Augen der Kinder vorkommt, die an der Hand eines großen Fußballstars ins Stadion einlaufen dürfen.

Ich machte ein Foto vom Risotto und schickte es an den Griechen. Keine Ahnung, wo er sich gerade herumtrieb. Er verfügt über die rätselhafte Fähigkeit, ohne Anlass zu verschwinden, dafür jedoch genau dort aufzutauchen, wo man ganz sicher nicht mit ihm rechnet. Ich musste nur darauf warten, seine Abwesenheit als Befreiung zu empfinden. Ziemlich wahrscheinlich, dass er genau dann auftauchen und als Fotobombe in mein perfektes Bild laufen würde.

Ich mag Mailand, Hauptstadt des wirtschaftskräftigen italienischen Nordens. Mailand ist laut, Mailand ist schmutzig, die Luft ist nicht besonders gut, und die öffentlichen Verkehrsmittel tun, was sie wollen. Die große Übersetzerin und Kochbuchautorin Alice Vollenweider erzählt in ihrem Klassiker Italiens Provinzen und ihre Küche die Anekdote, dass die Mailänder nur deshalb so fleißig sind, weil sie nichts haben, das sie zum Nichtstun verleitet: „Kein Meer, keinen See, keinen Fluss, keine Berge, nicht einmal einen Hügel. Nur ein schlechtes Klima.“

Vielleicht hat gerade die Abwesenheit von Ablenkung dafür gesorgt, dass Mailand sich selbst darum gekümmert hat, Orte zu schaffen, deren Zauber einen Fluss oder einen Hügel vergessen lassen. Ich meine jetzt nicht die weltkulturellen Baudenkmäler, den Dom, das Castello Sforzesco, auch nicht die monumentale Stazione Centrale, die ein Echo der Grand Central Station in New York sein sollte und von Mussolinis Baumeistern zu einem Monument faschistischer Ästhetik umgestaltet wurde, eindrucksvoll, aber auch ein bisschen irre.

Was ich meine, sind vielmehr die zahllosen Cafés und Bars, die Feinkostgeschäfte und Eissalons, die Trattorien und Imbissstuben, die zum Eskapismus einladen, zur Flucht aus dem Strom von Pflichten und Geschäften, von den Tätigkeiten, die zahllose Herren in dunkelblauen Anzügen und Damen in Kostümen verrichten, bevor sie die Plätze der Stadt fluten und mit offenem Kragen und zurückgeworfenem Haar den ersten Aperol oder Spumante nehmen.

Manche, wenn sie zum Beispiel ich sind, entscheiden sich auch für einen Wermut, nachdem sie ihre Kreise durch die Innenstadt gezogen und Hinterlassenschaften aus der Römerzeit bewundert haben, staunend vor Barockportalen und neoklassizistischen Palästen standen und in der berühmten Galleria Vittorio Emanuele II an der Piazza Duomo das erste Prada-Geschäft wie eine Installation bestaunten.

Dort, in den Galerien, saß ich also, immer noch satt von meinem Mittagessen – habe ich zugegeben, dass ich Nachschlag bestellt habe? – und bewunderte das Farbenspiel, das mein Campariglas mit dem glänzenden Eis und der leuchtenden Zi­tronenschale auf der dunkelblauen Tischplatte der Bar Motta aufführte. Der Kellner brachte mir Chips und kleine Pizzastücke, die ich herrisch ablehnte, bevor ich sie neugierig kostete und logischerweise zusammenfraß.

Ich wiederholte die Übung heiter, zumal ich noch etwas Zeit bis zum Abendessen hatte. Dann noch ein Mal. Und ein weiteres Mal. Ich wollte ja im selben Haus, nur zwei Stöcke höher, mein Abendessen einnehmen, nämlich im Spazio, dem Spin-off des Dreisternrestaurants von Niko Romito, wo junge vielversprechende Köche sich im Namen des Meisters ihre Sporen verdienen.

Als ich allerdings pünktlich um acht das spektakuläre, aber puristisch eingerichtete Lokal mit Blick auf den Dom und in die Galerien betrat, sagte mir der erstaunte Concierge: „Verzeihung, Signore Seiler. Aber Sie sind schon da.“

Rein technisch gesehen, hatte der Mann recht. Der winzige Tisch war besetzt. Der Mann, der unter meinem Namen und im Besitz meiner Kreditkartennummer schon zu tafeln begonnen hatte, bunte Pasta, zartes Kalbfleisch, vor allem aber in Gesellschaft einer atemberaubend schönen Italienerin, war jedoch eindeutig nicht ich selbst, sondern jemand, der mich gut kannte und vor allem in Besitz meiner Reservierungsdetails war.

Der Grieche gab sich nicht einmal die geringste Mühe, die doch etwas anmaßende Situation aufzuklären. Er beschränkte sich darauf, mir mit einer beiläufigen Handbewegung zu bedeuten, dass ich bitte verschwinden möge, er werde das demnächst aufklären, nur bitte nicht jetzt. Ja, wir kennen uns so gut, dass wir das per Handbewegung besprechen können, und mir spielte in die Karten, dass ich nach eineinhalb Kilo Chips und einem halben Quadratmeter Pizza bianca eh keinen Hunger mehr hatte.

Zur Sicherheit ließ ich aber meine Kreditkarte sperren. Allzu harmonisch sollte der Abend für den Griechen auch nicht ausklingen.

Die nächsten Tage waren großartig. Ich aß in einem kleinen Lokal namens Pastamadre an der Porta Romana eine hinreißende Creme von frischen Saubohnen und panierten Sardellen sowie Fritto misto mit Bittersalaten, gut und günstig. Im Aromando beeindruckten mich die makellose Fifties-Ästhetik und die Kleidung des Inhabers fast mehr als die etwas zu verspielten Speisen. Das Brot zum Beispiel wurde in kleinen Rex-Gläsern serviert, und die Ravioli mit Burrata waren mir zu süß und zu fancy, und schon begann sich mein eingebauter No-bullshit-Detektor nach der Antica Trattoria della Pesa zu sehnen. Im Ratanà, einer zeitgenössisch coolen Version der klassischen Trattoria mit schicken Weinregalen und Bistrotischen, bekam ich zuerst eine wunderbare Pappa al pomodoro, dann musste ich probieren, was den enigmatischen Titel „Risotto anni ’80“ trug: kleine zarte Erbsen in Sahne, zentrifugiert und roh, hausgemachter Prosciutto, dazu eine Reduktion von Schlagobers und Muskatnuss. Das konnte was, auch wenn es mit einem Risotto, wie ich ihn liebe, nur den Namen gemeinsam hat.

Außerdem schaute ich mir natürlich die neu eröffnete Fondazione Prada an, das Kulturgelände neben den Gleisen des alten Bahnhofs an der Porta Romana. Rem Koolhaas hat das Gelände einer Destillerie aus dem Jahr 1910 auf zugleich spektakuläre wie lässige Art zu großzügigen Ausstellungsflächen umgebaut. Der neue Turm in der bahnseitigen Ecke des Areals ist schon jetzt ein neues Wahrzeichen Mailands, und das mit Blattgold belegte vierstöckige Spukhäuschen, in dem Objekte von Louise Bourgeois und Robert Gober zu besichtigen sind, hat genug Bling-Bling für die ganze Stadt.

Ich trieb mich einen ganzen Tag lang in den verschiedenen Ausstellungen herum, das war unterhaltsam und inspirierend, und als ich schließlich in der Bar Luce saß und überlegte, woran mich dieser in Pastellfarben und Art-déco-Andeutungen gehaltene Raum bloß erinnert, fiel mir das Grand Budapest Hotel aus dem gleichnamigen Film von Wes Anderson ein, und als ich dann las, dass tatsächlich der Ausstattungskünstler Wes Anderson die wunderschöne, ständig etwas überfüllte Bar eingerichtet hatte, gratulierte ich meinen Assoziationen sehr ergriffen. (Vielleicht war es aber auch andersrum, und ich schaute mir Grand Budapest Hotel erst nach meinem Besuch in der Bar Luce an. Diese Geschichte ist zwar weniger eindrucksvoll, aber vielleicht mehr wahr.)

Weil ich auch das neue Verlagshaus von Feltrinelli an der Porta Volta noch nicht gesehen hatte, das die Schweizer Überstars Herzog & de Meuron geplant hatten, ließ ich mich wieder in die Viale Pasubio treiben. Das hatte einen erstaunlichen Nebeneffekt: Gleich gegenüber der Glasfas-saden des nur von seiner Schmalseite wirklich spektakulären Verlags- und Bürohauses befindet sich die Antica Trattoria della Pesa, und was hätte ich anderes tun sollen, als dort noch einmal den endgültigen Risotto zu essen, diese Lieblingsspeise von mir zu memorieren, um sie zu Hause auf einigermaßen würdige Weise selbst herstellen zu können?

Als ich glücklich in der kühlen Gaststube saß, vibrierte mein Handy. Der Grieche schickte mir ein Foto von Kutteln. Er war also noch „in town“, und das war ein Annäherungsversuch. Aber ich war noch nicht so weit.

Ich hatte Wichtigeres zu tun. Denn gerade kam der Risotto, der alle Qualitätskriterien erfüllte, die Alice Vollenweider so formuliert hatte: „Einen guten Risotto erkennt man schon optisch: Er ist goldgelb, glänzend und dickflüssig, wobei aber Reiskorn für Reiskorn getrennt daliegen und al dente gekocht sein müssen.“

Ich aß mit geschlossenen Augen. Mein Handy vibrierte noch einmal. Ich schaltete es aus und aß meinen Risotto ehrfürchtig auf, ich kalibrierte sozusagen mein Zentralnervensystem für jeden zukünftigen Genuss dieser ewigen Speise. Erst als das letzte Echo des warmen, tiefen Geschmacks verklungen war, öffnete ich meine Augen wieder und bestellte den Espresso, der jetzt die einzig richtige Antwort auf jede Frage war.

PS: Zu Hause versuchte ich den Import­risotto zuerst auf die Art von Marcella Hazan. Sie weiß bekanntlich immer Bescheid. Die Hazan verwies darauf, dass der Mailänder Risotto nicht nur mit großzügigen Mengen von Safran zubereitet wird, sondern auch mit gewürfeltem Rindermark, das ich mir gleich einmal beim Metzger besorgte. Außerdem kochte ich aus zwei Hühnerkarkassen nach Tine Giacobbos Rezept (Huhn mit kaltem Wasser aufkochen, Zwiebel, Sellerie, Karotte und ein paar Pfefferkörner dazugeben, 90 Minuten köcheln und dann gemeinsam kalt werden lassen) eine wunderbare Hühnersuppe, um gerüstet zu sein.

Ich gab also das gehackte Mark mit etwas Butter in die Pfanne und ließ es schmelzen. Roch gut, schmolz aber nicht so wie geplant: Vom Mark blieben kleine dunkle Partikel zurück, die auch beim späteren Kochen des Reises nicht verschwanden. Mein Glück war also von Beginn an getrübt, so wie später der Risotto, auch wenn er okay schmeckte, aber auch weit entfernt von perfekt.

Ich gab zwei Esslöffel klein gehackte Schalotten, die ich Zwiebeln vorziehe, in die Mischung von Butter und Mark, ließ sie glasig werden, gab den Carnaroli-Reis dazu und verbrachte die nächste Viertelstunde gleichzeitig rührend und heiße Hühnersuppe nachgießend. Dann gab ich den klein gehackten Safran, den ich in etwas Suppe verrührt hatte, dazu und erfreute mich daran, wie die kleinen roten Fäden ihre Arbeit taten und den Reis goldgelb färbten. Wären nicht die grauen Markkrümel gewesen, ich wäre zufrieden gewesen.

Beim zweiten Versuch folgte ich der Empfehlung Roland Trettls, der bei jeder Gelegenheit erzählt, dass ihn seine Frau nur wegen dieses Risottos geheiratet habe. Trettl verwendet kein Knochenmark, nur Butter, und er tut etwas sehr Mutiges: Er gibt nämlich die Suppe nicht, wie in so ziemlich jedem italienischen Kochbuch harsch angeordnet, Schöpfer für Schöpfer in den Topf, sondern gießt die gesamte Menge – für 450 Gramm Reis etwa 1,2 Liter Suppe – auf einmal hinein. Dann stellt er den Wecker auf fünfzehn Minuten und lässt den Topf in Ruhe.

Ich kannte diese Situation bisher nur von der Zubereitung von Milchreis: dass ich vor dem Reistopf stehe und den Reis nicht sehe, also nur darauf hoffen kann, dass er am Ende des Kochvorgangs wieder zum Vorschein kommt. Ob ich wenigstens sicherstellen darf, dass der Reis nicht unten anhängt, hatte ich Trettl gefragt, aber der antwortete nur: Weg mit dem Löffel! Also legte ich den Löffel weg und probierte den Weißwein, den ich laut Trettl nicht zum Ablöschen verwenden durfte.

Als nach zehn Minuten noch immer kaum Reis, sondern nur Suppe zu sehen war, wurde ich unruhig. Aber ich befolgte Trettls Anweisung hündisch und bekam fünf Minuten später als Ergebnis einen sehr guten, etwas suppigen Risotto, dem ich wie oben mit dem Safran seine strahlende Farbe verpasste. Nur war ein bisschen Reis am Boden der Pfanne hängen geblieben. Ich hatte es ja geahnt.

Beim dritten Mal fing ich wieder von vorne an, merzte aber einen Fehler aus: Ich schmolz nämlich das Rindermark extra in einer Kasserolle und goss es durch ein Sieb zur schmelzenden Butter in den Risotto-topf: glasklares Ergebnis. Dann verfuhr ich wie oben beschrieben, und alles wurde gut, ganz ohne die grauen Störfaktoren im Reis, und mein neurotisches Rühren (sorry, Herr Trettl) führte zu einem erstaunlich cremigen Ergebnis. Und: Ich hackte den Safran nicht nur, sondern rieb ihn noch mit den Fingerspitzen in die Suppe, mit der ich den Risotto färbte und fina­lisierte.
Schmeckte gut, sah super aus. Der Reis sowieso. Meine Fingerspitzen auch.

Via Giorgio Vasari 1 (angolo Via L. Muratori), 20135 Milano,
Tel.: +39/327/668 79 08,
www.trippamilano.it

Antica Trattoria della Pesa
Viale Pasubio, 10, 20154 Milano,
Tel.: +39/02/655 57 41,
www.anticatrattoriadellapesa.com

Ratanà
Via Gaetano de Castillia, 28, 20124 Milano,
Tel.: +39/02/87 12 88 55,
www.ratana.it

Bar Luce
Fondazione Prade, Largo Isarco, 2, 20139 Milano,
Tel.: +39/02/56 66 26 11,
www.fondazioneprada.org