Der historische Purzelbaum

Auf dem Weg durch zwei bedeutende deutsche Städte mit einem Übergewicht an Vergangenheit und einer interessanten kulinarischen Zukunft: Kunst & Essen in Leipzig und Dresden.

Text von Christian Seiler/Illustration von Markus Roost

Als ich das vorletzte Mal in Leipzig war, widerfuhr mir etwas Merkwürdiges. Es war während einer Buchmesse – und allein, dass ich erkläre, warum ich in Leipzig war, erzählt einiges über unser Verhältnis zu Leipzig, weil sich kaum jemand vorstellen kann, man könne Leipzig besuchen, ohne einen plausiblen Grund dafür zu haben.

Die Leipziger Buchmesse ist bekanntlich die kleine Schwester der Frankfurter Buchmesse. Sie findet traditionell im Frühjahr statt, also im etwas weniger wichtigen Erscheinungszyklus des Jahres. Weil meine Biografie von André Heller aber zu dessen Geburtstag im März erschien, war Leipzig der Ort, um das Buch in Gegenwart seiner prominenten Hauptfigur der deutschen Öffentlichkeit vorzustellen. Dafür war unter anderem ein großer Saal im Leipziger Zoo gebucht, keine Ahnung, wer auf diese Idee gekommen war, und ich erhielt von den Verlagsmitarbeiterinnen die wohltuende Auskunft, dass der 600 Menschen umfassende Saal bis auf den letzten Platz ausverkauft sei.

Das Merkwürdige an dieser Situation war, dass ich etwas wusste, was die 600 noch nicht wussten: André Heller hatte die Reise nach Leipzig wegen einer akuten Grippe abgesagt. Ich würde also auf die Bühne gehen müssen, um den Menschen mitzu­teilen, dass ein Abend mit mir allein mindestens so unterhaltsam sein werde wie mit dem Feuerkopf (so der Titel des Buchs).

Das führte dazu, dass ich am Vorabend meines Auftritts das Restaurant Falco von Peter Maria Schnurr kennenlernte. Es befindet sich im obersten Stockwerk des Hotels Westin, wo der Verlag die Fürstengemächer für seinen Topstar angemietet hatte, in die, da der Topstar fehlte, ich eingezogen war. Ich saß also an einer langen Bar mit Blick über die ganze Stadt und trank starke Getränke, um den morgigen Auftritt zu vergessen, wurde aber von zwei Tigern, deren Bilder über dem Barkeeper drapiert waren, stets daran erinnert, dass sich mein Schicksal im Zoo entscheiden werde, und zwar morgen. Ich nahm auch vernünftigerweise ein paar Snacks, um nicht ohne Unterlage in die Fürstengemächer zurückzukehren, und ich erinnere mich an sehr bunte, feingliedrige Teller. Für eine tiefergehende Wahrnehmung hatte ich keine Reserven.

Das war mein vorletztes Mal in Leipzig. Der Auftritt im Zoo verlief übrigens glimpflich. Die Zuschauer fanden sich damit ab, dass wenigstens ein Wiener gekommen war, und lachten, sobald ich irgendetwas sagte. Am Schluss spendeten sie höflichen Applaus. Wenn ich an das Wort Erleichterung denke, fällt mir schnell das spezifische Gefühl ein, als ich mit langen Schritten und wehendem Schal den Leipziger Zoo verließ, in Richtung irgendeiner Bierkneipe, in die mich irgendjemand mitnahm, Klappe, Schluss, aus.

Als ich diesmal in Leipzig war, fiel mir auf, dass ich damals die Schönheit der Stadt gar nicht wahrgenommen hatte. Ich hatte ein Zimmer in der Altstadt gebucht, im uneingeschränkt empfehlenswerten Hotel Fregehaus, von wo ich zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt nur zwei, drei Mal umfallen musste, zum ­fulminanten Marktplatz, zur Alten Börse, zur Thomaskirche, wo ein gewisser Johann Sebastian Bach als Kantor gearbeitet hatte und heute begraben liegt. Außerdem liegt dem Fregehaus gleich gegenüber die Milchbar Pinguin, Tradition seit 1964, deren Name von einer so schönen Leuchtschrift kundgetan wird, dass ich gar nicht anders konnte, als dort schon zum Frühstück einen riesigen Apfelkuchen mit Schlagobers zu verzehren.

Ich habe einen Konfidenten in Leipzig. Er ist im Verlagsgeschäft tätig, liebt antiquarische Bücher wie junge Väter ihre Söhne und würde anderswo gewiss als Exzentriker durchgehen. Zum Beispiel reist er nur mit Baedekern aus dem 19. Jahrhundert, weil er der Meinung ist, dass später nichts Bemerkenswertes mehr gebaut wurde.

Als ich ihn – sein Name ist Oberst Eck, er hat eine Vergangenheit bei der Nationalen Volksarmee – telefonisch um einen Termin zum Abendessen bat, seufzte er.

Das Falco kenne ich ja schon, außerdem sei er nicht schwindelfrei – die Idee dieser Hochhäuser leuchte ihm nicht ein. Speisen am Abgrund, was für ein Irrweg. Im Stadtpfeiffer im Gewandhaus seien die Portionen nicht klein, sondern sehr klein, und man möchte nach dem Abendessen doch auch das Gefühl haben, etwas gegessen zu haben, nicht wahr? Es werde nichts anderes übrig bleiben, als bei Max Enk zu dinieren.

Das Restaurant im ehemals Städtischen Kaufhaus verströmte immerhin die Grandezza der Vorkriegsarchitektur (damit meinte er die Zeit vor der Völkerschlacht bei Leipzig, wo die Truppen Napoleons gegen die Koalition aus Russland, Preussen, Österreich und Schweden den Kürzeren zogen). Der Speisesaal befindet sich dort, wo im 15. Jahrhundert das Gewandhaus der Tuchhändler stand, und, ich hörte den Oberst ausholen, es sei auch interessant, dass genau an dieser Stelle das erste Mustermessehaus seinen Platz gehabt habe, wohlgemerkt weltweit. Die Leipziger Messe sei bekanntlich seit etwa 850 Jahren eine Institution, bemerkenswert sei vor allem die Einführung der modernen Mustermesse – im Gegensatz zur überkommenen Warenmesse –, die sich als Grundlage des modernen Messewesens erwiesen habe und 1895 zum ersten Mal in der Stadt stattgefunden habe, wohlgemerkt exakt in jenem Haus, in dessen einem Lichthof sich der Speisesaal des Max Enk befinde, sehr ansprechendes Ambiente …

Ich unterbrach ihn: „Wie ist das Essen?“

„Oh“, sagte der Oberst, „für mich ist es das beste der Stadt.“

„Warum sagen Sie das nicht gleich?“

„Sie haben mich nicht gefragt …“

Es stellte sich heraus, dass das Max Enk nicht nur an einem historischen Ort domiziliert ist, sondern auch einen engagierten Umgang mit dem kulinarischen Erbe Sachsens pflegt. Als wir uns nach einer kleinen Führung durch die Nachbarschaft samt historischem Exkurs an unseren Tisch begeben hatten, fand ich auf der Karte zum Beispiel einen Wermsdorfer Stör. Die Teichwirtschaft Wermsdorf gilt als eine der besten des Landes, und der Stör ist seit etwa 15 Jahren ihre Spezialität. Weibliche Störe werden bis zur Kaviarreife behalten, und natürlich isst man, wenn man ein Leipziger Regionalist ist, den Kaviar von hier. So etwas erfährt man, wenn man mit dem Oberst diniert.

Die Fischvorspeise wurde in drei Etappen serviert. Einerseits kam der „Stremel“, wie er auf Sächsisch heißt, gebacken mit Kartoffelsalat und Wildkräutern, andererseits als Tatar mit Roter Rübe. Mich interessierte allerdings am meisten die Variante mit der sogenannten „Hausfrauensauce“, denn ich war überrascht, dass eine derartige Bezeichnung noch den Weg auf eine Speisekarte findet: Dort könnte sie schließlich jemand entdecken, der (oder die) darin eine unzeitgemäße Rollenzuschreibung der Hausfrau ­herausliest, denn könnte nicht etwa auch ein Hausmann oder ein Hobbykoch in Elternzeit für die Produktion dieser Sauce verantwortlich sein? Verwicklungen, Anschuldigungen, Aufregung, Entschuldigungen – das Drehbuch des Shitstorms wäre vorgezeichnet.

Nicht in Leipzig: Bei der Sauce handelte es sich um eine Mischung aus Schmand – leicht gesäuertem Schlagobers –, Sauerrahm, klein gehackten Äpfeln und Frühlingszwiebeln, die mit Zitrone, Salz und Pfeffer abgeschmeckt waren. Schmeckte ausgezeichnet zum Fisch – auch wenn die Sauce ein bisschen nach Matjes verlangte, wie ich fand. Erstaunlicherweise war auch der Oberst meiner Meinung.

Er hatte zum Aufwärmen eine Flasche Riesling vom sächsischen Winzer Andreas Kretschko aus Radebeul bestellt – und mir strengstens verboten, irgendeinen Witz, dessen Pointe Radebeuls berühmtester Einwohner Karl May sein würde, zu machen. Begründung: Derartige Witze mache er lieber selbst.

Der Wein war frisch und durchaus elegant. Der Oberst quittierte meine diesbezügliche Bemerkung mit großzügiger Selbstzufriedenheit.

Ich aß eine sehr gute Pastinakencremesuppe, die ich aus dem vegetarischen Menü gekapert hatte, und entschied mich beim Hauptgang klarerweise für das „Leipziger Allerlei im neuen Gewand“.

Im traditionellen (um nicht zu sagen: im Hausfrauen-)Gewand ist ein Leipziger Allerlei ein Gemüsegericht, das vor allem im Frühjahr gern zubereitet wird. Man gart junge Erbsen, Karotten, Spargelspitzen, grüne Bohnen und Morcheln jeweils getrennt voneinander, ergänzt die Mischung wenn nötig mit gedämpften Karfiolröschen und Kohlrabi oder auch – wenn der Geschmack ein bisschen Wucht braucht – mit angeschwitzten Zwiebeln. Das Wichtigste aber ist die Sauce aus Krebsbutter, Flusskrebsschwänzen und kleinen Grießknödeln.

Flusskrebse, erklärte der Oberst in dem ihm eigenen dringlichen Ton, seien nämlich seinerzeit keine Delikatesse, sondern ein Armeleuteessen gewesen. Beifang, den nur die Deklassierten essen wollten.

Bei Max Enk verwendete Küchenchef Torsten Hempel Zuckerschoten, Karotten, grünen Spargel, Karfiol, sächsische Champignons und statt den Flusskrebsen einen lokalen Saibling. Dazu gab es Semmelknödel und eine äußerst elegante, schmackhafte Sauce, die nicht nur aus Fischkarkassen zubereitet war, sondern auch ein paar Kalbsknochen gesehen hatte.

Der Oberst widmete sich gleich­zeitig einem knusprigen Kabeljau mit Blutwurst – erhobener Zeigefinger: „vom Metzger Hambel!“. Dazu gab es mit Koriander und Obers veredeltes Sauerkraut und Petersilienkartoffeln, und als uns die Sommelieuse ­einen durchschnittlichen Rioja ans Herz legen wollte, entschieden wir uns für eine zweite Flasche Riesling von Kretschko, der uns beiden immer mehr Spaß zu machen begann.

Wir sprachen über Eisenbahnen (eines der Lieblingsthemen vom Oberst). Wir sprachen über tschechischen Fußball (eines der Lieblingsthemen vom Oberst. Freilich sagt er „böhmischer Fußball“ und hat eine Dauerkarte bei den Bohemians in Prag; man merkt zwischendurch, dass Prag nicht viel weiter weg ist von Leipzig als Berlin und dass es für Menschen, die, sagen wir, vor 1970 geboren sind, gewisse Präferenzen in diese Richtung gibt).

Dann sprachen wir endlich über die Leipziger Lerche, die als Dessert auf der Karte stand – neben den Pralinen und Macarons aus der Pâtisserie Hart & Herzlich, deren Name klingt, als wäre er direkt aus Berlin importiert worden. Die Leipziger Lerche – auch hier stützt sich Max Enk auf die ­Expertise eines Spezialistenbetriebs, nämlich der Handwerksbäckerei Kleinert – ist ein Feingebäck, das an eine vergangene Tradition der Messestadt erinnert. Bis 1876 waren zu hohen Festtagen in der Stadt Singvögel gefangen und verzehrt worden. Nach dem Verbot dieser barbarischen Tradition – einige Regionen in den mediterranen Ländern sollten sich ein Beispiel daran nehmen – entstand eine süße Paraphrase dieses Brauchs, ein aus Mürbteig zubereitetes Törtchen, das mit Marzipan und Marmelade gefüllt und mit zwei überkreuzten Teigstreifen geschmückt ist. Die, das wusste der Oberst, ahmen die Bänder nach, mit denen die gefüllten Vögel anno dazumal zugebunden wurden.

Bestellte ich natürlich – und genoss ein knuspriges, feines, etwas süßes Gebäck, das meinen Abend perfekt abgerundet hätte, wenn nicht der Oberst, der sich seinerseits Crêpe Suzette am Tisch flambieren ließ, am Orangenlikör Gefallen gefunden hätte. So kam er auf die Idee, eine Runde sächsischen Schnaps auszugeben. Über den Rest des Abends breite ich ein dunkles Tuch des Schweigens.

Ich stabilisierte mich am nächsten Morgen in der Milchbar Pinguin, schaute mir im Museum der bildenden Künste eine fantastische Ausstellung des Fotokünstlers Andreas Gursky an, stattete der Thomaskirche einen Besuch ab und verharrte ehrfürchtig vor dem Standbild von Meister Johann Sebastian. Um das nahe Teehaus mit den sächsischen Spezialitäten machte ich einen großen Bogen und begann stattdessen, das Zentrum zu umrunden. In der Gottschedstraße fand ich die kleine ­Pizzeria 60 seconds to Napoli, die ausgezeichnete Pizza nach neapolitanischer Art macht, dort rastete ich ein bisschen, dann spazierte ich weiter. Das Viertel rund um den Nikischplatz erwies sich als lebendig und ­studentisch, jede Menge Cafés und Imbisse, chinesisches, japanisches, türkisches Essen.

Natürlich stieß ich auch auf ein paar Überreste der DDR, zum Beispiel bei der Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“, wo in einem ehemaligen Stasi-Bunker Zeugnisse der „Macht und Banalität“ der geheimen Staatspolizei ausgestellt werden. Auch die Vodkaria mit ihrem Leitspruch „Hier wird ausgetrunken“ kam mir ein bisschen gestrig vor, jedenfalls erinnerte sie mich an gestern. Nichts wie weiter.

In Auerbachs Keller tafelten Faust und Mephisto, das Restaurant erinnert nach Kräften daran. 

Ich besichtigte den Stadthafen, dann kehrte ich wieder in die Stadt zurück, schob mich durch die Innenstadtwirtshäuser, deren Schanigärten wuchern und die Gassen rund um den Markt nur schwer passierbar machen. Im Alten Rathaus probierte ich einen Matjes, weil der gerade Saison hatte – und wurde enorm überrascht: Der Fisch war zart und elegant, kein Vergleich mit den übersalzenen Exem­plaren, die ich anderswo kennengelernt hatte, und er kam, logischerweise, mit „Hausfrauensauce“. Ich begann langsam, mich daran zu gewöhnen.

Später stattete ich noch Auerbachs Keller einen Besuch ab. Ich hatte mir eine Klitsche mit Goethe-Folkore erwartet – bekanntlich lockt Mephisto Faust in Auerbachs Keller, um ihm erst „die kleine, dann die große Welt“ zu zeigen und den Gelehrten mit den Freuden des bürgerlichen Lebens bekannt zu machen: Trinken, Singen, Lachen.

Als ich die Stiegen hinuntergestiegen war, öffnete sich ein wunderschöner Saal unter bunt bemalten Gewölben und prachtvollen Lamperien. An kleinen Tischen saßen die Gäste, tranken Bier, tafelten und lachten, gerade dass sie nicht sangen, und ich konnte gar nicht anders, als mich an einen freien Tisch zu setzen, ein Glas Riesling – diesmal von Robert Weil – zu bestellen und die Karte zu studieren, die ein bisschen peinlich „Gretchens Verführungen“ – eine geeiste Leipziger Lerche –, Fausts Zwischenmahlzeiten – „Luthers Sommersalat“, da geraten die Geistesgrößen direkt aneinander – und Goethes Lieblingsspeisen präsentiert. Der Dichterfürst hat angeblich Geschmortes geliebt. Es gibt Wildschweinbraten und Ochsenbäckchen.

Ich fühlte gerade das Glück in mir aufsteigen, das ich immer empfinde, wenn Ort, Zeit und Präsenz auf geheimnisvolle Weise zusammenpassen, als ich die Stimme des Obersts hörte, die über meinen Rücken hinweg sprach: „Warum ein Glas Wein bestellen, wenn es auch eine ganze Flasche sein kann?“

War das auch ein Goethe-Zitat? Ich weiß es nicht. Halb zog mich der Oberst, halb sank ich hin. Am nächsten Tag reiste ich später als geplant nach Dresden weiter.

Zum Glück kannte ich niemanden in Dresden. Ich checkte im Hotel Gewandhaus ein, zu dem mir andere bestimmt eine ganze Menge zu erzählen gehabt hätten, dann machte ich mich zu Fuß auf den Weg durch die Stadt, deren barocke Schönheit sprichwörtlich ist.

Ich promenierte am Terrassenufer der Elbe entlang, sah die Hochschule für Bildende Künste mit ihren eindrucksvollen Atelierfenstern, betrachtete die Baustelle des Residenzschlosses, das einer der bestimmenden Bauten der Dresdner Innenstadt war und nach der vollkommenen Zerstörung bei der Bombardierung der Stadt im Februar 1945 noch immer neu aufgebaut wird. Zahlreiche Baufirmen haben sich allein auf diese Aufgabe spezialisiert. Ich ging an der prachtvollen Semperoper vorbei, auch sie wurde durch die Luftangriffe zerstört und neu aufgebaut. Die Wieder­ereröffnung fand 1985 statt.

Ich besorgte mir eine Eintrittskarte in die Gemäldegalerie Alte Meister im Zwinger, in der ich dann für ein paar Stunden verschwand.

Das war einerseits eine gute Entscheidung, weil ich eine Reihe von berückenden, bewegenden Bildern sah, etwa eine Vielzahl an wunderschönen Canalettos, die Dresden zu seiner Zeit zeigten, Raffaels Sixtinische Madonna, Lucas Cranachs schlafenden Hercules und – schön übersichtlich an einer Wand drapiert – die unglaublichen Porträts von Rosalba Carriera. Der spektakulär neu restaurierte Vermeer, der der Mittelpunkt der gerade laufenden Vermeer-Ausstellung ist, war noch in den Händen seiner Erneuerer.

Es war aber auch eine schlechte Entscheidung, weil ich nämlich nicht damit gerechnet hatte, wie lange es dauern würde, bis ich ein angemessenes Eta­blissement für mein Abendessen finden würde. Oder, um die Realität in der Dresdner Innenstadt ungeschminkt zu schildern: wie früh die meisten Restaurants und Wirtshäuser keine Gäste mehr annehmen. Es war kaum 20 Uhr 15, und ich sah nichts als entschlossen geschüttelte Köpfe, als ich von Haus zu Haus zog, um etwas Warmes zum Abendessen zu bekommen.

Vor allem schmerzte mich die Absage am zweiten Ort meiner Wahl, im Restaurant Alte Meister. Die Nummer eins war das Genuss-Atelier ge­wesen, Dresdens mutmaßlich beste Adresse, wo ich spontan angerufen und heiseres Lachen geerntet hatte, zu wenig Menschen in der Küche, keine Kapazitäten. Das hörte ich auch bei Alte Meister, aber mit dem Zusatz: Reservieren Sie doch für morgen. Okay, danke, ist hiermit erledigt.

Ich tropfte an etwa sechs weiteren Wirtshausschwellen ab, bis sich der Maître im Bistro des von Kempinski bewirtschafteten Taschenbergpalais meiner erbarmte und mir einen Platz mit Sicht auf die Schlossstraße anwies. Weil das Bistro ein französisches Restaurant ist, ernährte
ich mich also von Schnecken und Steinbutt, beides ziemlich gut, und betrachtete die als Nachtwächter verkleideten Fremdenführer, die mit Hellebarde und Laterne Stadtrundgänge machten, eine Kolonne von Touristen im Schlepptau, die satt und zufrieden waren, keine Ahnung, wo die sich verpflegt hatten.

Am nächsten Tag besuchte ich die Frauenkirche und den Palast der Republik, zwei kulturelle Pole Dresdens. Die Frauenkirche, dieser herrliche barocke Monumentalbau, war nach den Luftangriffen von 1945 als Ruine stehen geblieben und erst nach der Wende wiederaufgebaut worden. Als ich in den Siebzigerjahren zum ersten Mal in Dresden gewesen war, stand die Ruine in ihrem Schutt auf einer Brache, weil auch sämtliche Häuser rundherum dem Erdboden gleichgemacht worden waren. Inzwischen sind die Lücken von damals wieder gefüllt, auf eine bunte, historisierende Art, als ob es den Kahlschlag nie gegeben hätte.

In den Kulturpalast, den prägenden modernistischen Zentralbau der DDR-Zeit, sind die Philharmonie und die Stadtbibliothek eingezogen. An seiner seitlichen Fassade prangt das monumentale Wandbild Der Weg der Roten Fahne. Ein krasserer Kontrast zur barocken Vergangenheitsbeschwörung ist kaum denkbar: „Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein.“ Nun ja.

Das Restaurant Alte Meister war immerhin so gut, wie ich es erwartet hatte. Küchenchef Robert Rettigs Angebot ist zwar eher an internationalen Küchen orientiert als am bodenständig Sächsischen, aber ich hatte gegen 18 Uhr 15 die größte Freude an einem in Rote-Rüben-Saft gebeizten Lachs mit asiatischen Aromen und einer perfekt geschmorten Lammschulter mit Oliven, Bohnen und Kichererbsen – vor allem die britischen Minzbällchen hatten es mir angetan.

Dresdner Ausflugslokal Schiller-Garten, direkt an der Elbe gelegen, neben einer Brücke namens Blaues Wunder.


 

Tags darauf spazierte ich am Käthe-Kollwitz-Ufer der Elbe entlang. Ich sah das beeindruckende Villenviertel von Blasewitz und das am gegenüberliegenden Ufer inmitten von Weinbergen liegende Schloss Eckberg, ein Ensemble, das sich auch die Queen persönlich ausgedacht haben könnte. In Loschwitz überspannte eine Brücke mit dem Namen „Blaues Wunder“ die Elbe. Im Gasthaus Schiller Garten, einer Art Dresdner Schweizerhaus, stärkte ich mich mit einem Bier und einer sächsischen Kartoffelsuppe, überquerte dann das „Blaue Wunder“ und spazierte zur Schwebebahn, einem Schrägaufzug, der mich hinauf zu einem Aussichtspunkt brachte, nämlich zum höchsten Punkt der Stadt.

Die Türme und Kuppeln der Stadt, die so gern mit Florenz verglichen wird, lagen dunkel und poetisch im Gegenlicht der sich langsam senkenden Sonne. Ich konnte mich nicht daran sattsehen – was für ein Stichwort. Ich brach die Tagträumerei ab, sobald mir klar wurde, dass der Nachmittag schon fortgeschritten war. Ich musste mich darum kümmern, dass ich rechtzeitig zum Abendessen kam.

Falco
www.falco-leipzig.de

Milchbar Pinguin
www.milch-bar-pinguin.de

Max Enk
www.max-enk.de

60 seconds to Napoli
www.60secondstonapoli.de

Altes Rathaus
www.dasalterathaus-leipzig.de

Auerbachs Keller
www.auerbachs-keller-leipzig.de

Alte Meiste
www.altemeister.net

Taschenbergpalais
www.kempinski.com/de/dresden/hotel-taschenbergpalais

Schiller-Garten
www.schillergarten.de