Die Brücke

Eine Reise nach Kopenhagen und Malmö, wo ­Vergangenheitsbewältigung und Zukunft der Gastronomie von einer langen Brücke überspannt werden.

Text von Christian Seiler · Illustration von Markus Roost

Ich habe ein bisschen Angst vor Kopenhagen. Jedes Mal, wenn ich in Kastrup lande und mit einem gemütlichen Volvo-Taxi in die Innenstadt fahre, ist alles anders – und wenn nicht alles anders ist, ist mir anders. In den neunziger Jahren, als Kopenhagen noch nicht das Synonym für coole, zeitgemäße Kulinarik war, sondern eher das Gegenteil, zog ich mit einem Fernsehkoch namens Henrik Boserup durch die Stadt, der unangemeldet in Restaurantküchen eindrang und dort zu kochen begann; und alle waren zufrieden, dass wenigstens einer mit ein bisschen Inspiration kocht. Heute hält Boserup Referate über verantwortungsvolle Methoden des Konsums, er scheint also auch ernster geworden zu sein, so wie die gesamte Kulinarik Kopenhagens.

Irgendwie schade.

In den Nullerjahren traf ich Paul Cunningham, einen expatriierten Briten aus Essex, der mitten in Kopenhagens Tivoli eines der schönsten Restaurants betrieb, das ich je gesehen habe (The Paul), jedenfalls designmäßig (viel Arne Jacobsen und Poul Henningsen und Glas und Geschmack). Paul sagte – und zu der Zeit steckten bereits René Redzepi und Claus Meyer die Köpfe zusammen, um über das Nordic Food Manifesto und ein Restaurant namens Noma nachzudenken –, die kulinarisch wichtigsten Orte Kopenhagens seien zu gleichen Teilen der Hafen und der Flughafen. Weil dort kämen die guten Produkte aus Europas Süden ins Land, mit denen man eine anständige Mahlzeit zubereiten könne. Paul betreibt inzwischen an der dänischen Westküste ein Farm-to-table-Restaurant namens Paulfood.

Ein paar Jahre später besuchte ich das erste Mal das Noma, das gerade erstmalig zum besten Restaurant der Welt gewählt worden war. Es war ein denkwürdiger Abend, denn ich hatte den begehrten Platz im Schlepptau von zwei österreichischen Winzern ergattert, die mit ihrem Importeur verabredet waren, einem Mann namens Sebastian Rind, der das Risiko einging, an bevorzugter Lage der Innenstadt von Kopenhagen eine Weinhandlung zu eröffnen, die ausschließlich ­österreichischen Wein führte, und zwar Weine, von denen auch in Österreich nur ein paar Eingeweihte wussten.

Nach dem Abendessen im Noma hatte ich Schnapp­atmung. Für meine Memoiren notierte ich: „Die Küche des Noma dekonstruiert nicht nur die übliche Speisenabfolge eines Menüs, sondern auch die Erwartungen, die man an ein Menü in dieser Preisklasse stellt. Ein Gang zum Beispiel war eine Zwiebel von der dänischen Insel Læsø. Ja. Eine in einzelne Schichten zerlegte Zwiebel auf einem Tapiokageriesel, wobei jede dieser Schichten gesondert zubereitet war, fraktal zerlegt in die Möglichkeiten dessen, wie man eine Zwiebel wahrnehmen kann. Der nächste Gang war eine Kartoffel, eine spezielle Kartoffel von der Insel Seeland, klein und unansehnlich, die nun in verschiedenen Aggregatzuständen serviert wurde, als Mousseline, als Chips, gekocht, gebraten. Dann: Teile einer Sellerieknolle, im Ofen gebacken und auf einen so intensiven Geschmack festgelegt, als hätte die Küche den Ehrgeiz, dieses Wurzelgemüse aus seiner Nebenrolle als Geschmacksverstärker für Hühnersuppen auf die Hauptbühne zu holen, und genauso war es ja: Wenn ein Abend im Noma auf eine Zusammenfassung festgelegt werden soll, dann auf die, dass den Selbstverständlichkeiten der Hochgastronomie der Boden unter den Füßen entzogen wird.“

Sowas schreibe ich mir tatsächlich auf. Die kindliche Begeisterung ist im Licht dessen, was nachher ­passierte – die Invasion der Spitzengastronomie durch ­gebackene Sellerieknollen, fraktal zerlegte Zwiebeln, Fichtenemulsionen und anderes Futter für Waldtiere –, peinlich genug. Fast wären meine hehren Gedanken auch verloren gegangen, da der damalige Sommelier des Noma es zu gut mit uns meinte und die halbvollen Flaschen einer Altweinverkostung, die zwei Geldsäcke am Nebentisch durchführten, zu uns umleitete, so dass wir unter anderem zu diversen Gläsern Romanné-Conti aus den dreißiger Jahren kamen. Ich erinnere mich dann nur noch an ausgelassenes Tanzen in einer Wikinger-Disco und ein schmerzhaftes Erstaunen, als ich am nächsten Morgen erwachte, Flugzeug längst in Wien, aber hehre Gedanken mit gestochen scharfer Schrift im Notizbuch verewigt.

Das nächste Mal ging ich vorsichtshalber zu Mittag ins Noma, aß am Abend Smørrebrød im Aamanns, lernte dort zwangsläufig den nächsten österreichischen Winzer kennen, widerstand dessen Ideen für die gemeinsame Gestaltung des fortgeschrittenen Abends und ließ mich erst tags darauf auf Abwege bringen, als ich im Østerbro-Stadion Rasmus Kofoed aufsuchte, dessen Geranium gerade den zweiten Michelin-Stern bekommen hatte.

Dort notierte ich: „Rasmus Kofoed nennt eines seiner Gerichte allen Ernstes ,Kräutergarten‘. Der ,Kräutergarten‘, der in einer Plexiglaskugel aufgetragen wird, ist eines der Signature Dishes. Das komplizierte Gericht bringt die Philosophie dieses jungen Kochs auf den Punkt. Sobald die obere Hälfte der Kugel abgenommen wird, steht ein Zylinder aus Duft über dem ,Kräutergarten‘. Ein Spektrum an Grüntönen, das die Kräuter und Blätter liefern, entfaltet sich über der soliden Power einer Consommé, die von der geräucherten Lammbrust stammt, dazu liefert eine Karotte einen süßen Farbtupfen. Der „Kräutergarten“, ein Fleischgericht für Vegetarier, kombiniert die cremige Konsistenz der Consommé mit dem Knacken der Kräuter, den Explosionen grüner, bitterer, konzentrierter Aromen, kein Bissen gleicht dem nächsten.“

Das Geranium hat inzwischen drei Michelin-Sterne, und ich hatte dort meinen ersten bunt tätowierten Naturweinrausch. Der überhöfliche Sommelier, um den ich draußen auf der Straße einen großen Bogen gemacht hätte, Stichwort Muskeln, Muskelshirt, Rockerfrisur und, soweit man sehen konnte, flächendeckende Tattoos mit Motiven aus dem Hell’s-Angels-Memorial-Sketchbook, füllte mich mit maischevergorenen Weißweinen und ungeschwefelten Rotweinen derartig ab, dass mir am nächsten Morgen die Tränen der Rührung kamen, als ich mein Notat wiederentdeckte. (Ich hatte es aus unerfindlichen Gründen zusammengefaltet in meinen Schuh gesteckt. Wahrscheinlich wollte ich wissen, ob ich noch lebe.)

Das alles nur, damit Ihr wisst, warum ich ein wenig besorgt war, als ich mit den Kollegen vom Fool-Magazin und einem österreichischen Sternekoch das Nørrebro-Quartier Kopenhagens ansteuerte. In einem Ecklokal residiert dort das Relæ, das vom ehemaligen Noma-Küchenchef Christian F. Puglisi geführt wird. Das Relæ ist ungefähr so ausgebucht wie das Noma, und dass wir einen Tisch bekamen, lag einzig an der Vermittlungsarbeit von Per-Anders Jörgensen, dem Fotografen und Herausgeber von Fool, der gemeinsam mit Puglisi dessen fantastisches „Book of Ideas“ gemacht hat.

Nun ist gegen persönliche Verbindungen nichts einzuwenden, außer dass neben den Köchen auch die Sommeliers dazu neigen, es mit ihren Gästen gut zu meinen, was, siehe oben, fatale Folgen haben kann. Mein leises Misstrauen wurde von den innigen Umarmungen, die der Sternekoch und der Sommelier Alessandro austauschten, nicht unbedingt zerstreut, aber dann sah ich die Restaurantchefin zum ersten Mal ein paar Teller vorbeitragen, und was ich sah, ersetzte jedes andere Gefühl durch massive Vorfreude. Dass ein gutes Glas Champagner sich mit massiver Vorfreude zu aufschäumender Euphorie verbindet, darf ich an dieser Stelle nicht verschweigen.

Puglisi ist ein außergewöhnlicher Däne. Er ist in Sizilien als Sohn einer Italienerin und eines Norwegers zur Welt gekommen und kam erst im Alter von sieben Jahren nach Dänemark. Er arbeitete in Frankreich und Spanien, namentlich in Ferran Adriàs El Bulli, bevor er im Noma anheuerte, wo er rasch zum Souschef von René Redzepi aufstieg.

Dass er schließlich sein eigenes Ding machen wollte, lag daran, dass er noch „straighter“, noch zugespitzter kochen wollte als bisher, dazu ausschließlich mit Bioprodukten. Die Trennung von Redzepi erfolgte im Guten, René wünschte ihm nicht nur alles Gute, sondern machte auch jede Menge PR für ihn.

„Ich wollte“, schreibt Puglisi im „Book of Ideas“, „eine erfinderische, intelligente Küche machen, die auf einfachen Produkte von höchster Qualität beruht.“

Dazu wünschte er sich ein Restaurant, das mehr Bistro als Fine-Dining-Hütte sein sollte. „Ich wollte das Gefühl, in einem vollen Raum voller Gelächter und Spaß zu sitzen, mit dem bestmöglichen Essen verbinden.“

So ist das Relæ zu einem zwar hübschen, aber durchaus informellen Lokal geworden, lange Sitzbänke, tief hängende Lampen, die die Holztische zum Glänzen bringen, Tische, die auf den ersten Blick völlig simpel sind und sich auf den zweiten als ziemlich smart erweisen: In kleinen Schubladen befinden sich Besteck, Serviette und Speisekarte, so dass die ganze Aufmerksamkeit auf dem Tisch dem Essen überlassen bleibt.

Und dieses Essen ist ziemlich abgefahren – und, ja, großartig. Ich muss zwar gestehen, dass wir vor dem Besuch des Relæ einen Abstecher zu den Torvehallerne, den Markthallen von Kopenhagen, unternommen hatten, wo wir nach einem Stand namens „Hija de Sánchez“ gesucht und ihn nach anfänglichen Schwierigkeiten auch gefunden hatten. Dort hatten wir ein mexikanisches Bierchen gezischt und, weil wir schon da waren, die Tacos probiert, deren Ruf bis nach Wien geeilt war. Ich hatte mir die Salsa, mit der der Mole-Taco mit dem gegrillten Huhn und den Sesamsamen gekommen war, vorschriftsmäßig über den Mantel getropft, den ich am selben Tag aus der Reinigung geholt hatte, und das erst gemerkt, als ich das wirklich übel bekleckerte Teil mit weltmännischer Geste dem Kollegen an der Relæ-Garderobe überreichte.

Der Hunger war, das wollte ich eigentlich sagen, nicht unbedingt drängend. Aber als der erste Gang serviert wurde – ein opakes, hell schimmerndes Ding namens „lykkeløverod“, was auf prägnante Weise die Wurzel des Sauerklees beschreibt, mit den entsprechenden Blättern verziert –, war das ein Weckruf von unvermutetem, exotischem Geschmack; und so saftig, dass ich schmerzlich meinen Mantel vermisste, zum Mundabwischen.

Aber hören Sie sich einmal an, was Christian Puglisi zur Sauerkleewurzel zu sagen hat: „Die Wurzel hat scharfe und saure Eigenschaften und ist extrem knusprig und saftig, wenn man sie roh isst. Es schien uns nicht notwendig, sie zu kochen, zumal die Struktur für sich schon so interessant ist. Beim ersten Biss in die Wurzel erinnerte sie mich an die fragile und knackige Struktur einer asiatischen Birne – genauso saftig, aber weniger süß und ein bisschen beißend. Um das Gefühl, in eine exotische Frucht zu beißen, noch anzureichern, machte es Sinn, die Wurzel als einen Snack zu servieren, den man mit der Hand isst, wie eine Birne oder einen Apfel.

Wir schrubbten die Wurzel, um den Schmutz loszuwerden, und schnitten die fasrigen Spitzen ab. Mit der Messerspitze entfernten wir den zentralen Teil der verbleibenden Knolle, der ebenfalls sehr fasrig ist, so dass uns der saftige Teil der Wurzel verblieb. Die Mulde in der Mitte machte Platz für eine Füllung. Wir begannen also zu experimentieren, was die Wurzel würzen und ihre Saftigkeit ergänzen könnte.

Wir wollten etwas Herzhaftes, Appetitliches, etwas Pflanzliches. Dabei kamen uns unsere Experimente mit gesalzenen Mirabellen in den Sinn. Das Fleisch dieser Früchte, die wir sechs Monate in der Lake aufbewahrt hatten, ist sehr weich. Wir mussten es nur auf dem Fleisch der Wurzel auftragen und merkten sofort, wie gut die knusprige und saftige Wurzel von der fruchtigen und würzigen Zutat ergänzt wurde.

Allerdings hatten die Mirabellen in der Lake eine braun-grüne Farbe angenommen, die nicht sehr appetitlich war, also entschieden wir uns, nach einer weiteren Ergänzung zur natürlichen Saftigkeit des Gerichts zu suchen. Wir suchten einen natürlichen Verwandten der Wurzel aus, nämlich den Schild-Sauerampfer. Dieser bringt seine eigene Spielart von Kleesäure mit, eine chemische Komponente, die vielen Pflanzen eigen ist, die auf ihre Art bitter und grün schmecken. Die kleinen Blätter können auf die pürierten Mirabellen gelegt werden und sind sehr dekorativ. Weil die Sauerkleewurzel so selten ist, bringen wir sie auch unbehandelt mit an den Tisch, damit die Gäste sehen, was sie essen.“

Man kann also nicht sagen, dass der Snack, den wir serviert bekamen, nicht durchdacht gewesen wäre.

Das weitere Menü bestand aus kleinen Gerichten, die immer auf den ersten Blick zu erfassen waren, worauf sich jedoch schnell herausstellte, dass sie völlig anders schmeckten, als man vermutet hätte. Der Höhepunkt des höchst vergnüglichen Verwirrspiels war eine kleine Portion Tortellini, die mit weißen Trüffeln serviert wurde – und sich anschließend als hinreißend gedämpftes und in Form gebrachtes Kunstwerk von der Sellerie erwies.

In diesem Gericht schlug Puglisi sozusagen den weiten Bogen von seinen italienischen Wurzeln zu den Wurzeln aus Dänemark. In einem Interview hat er einmal gesagt, dass die nordische Food-Revolution, bei der er sozusagen in erster Reihe mitmarschierte, in Italien nicht möglich gewesen wäre: Die Italiener würden ihre Nationalküche(n) viel zu sehr lieben und ihre Traditionen in Ehren halten. Die Dänen hingegen hätten gar nicht gewusst, dass es so etwas gibt wie Food-Tradition, es diffundiere gerade von oben nach unten, und die berühmten Köche des Landes spielten dabei eine entscheidende Rolle.

Wir aßen einen gratinierten Kürbis, der so kunstfertig zu einer Spirale gedreht worden war, dass er wie ein elegantes Blätterteigteilchen aus einer Pariser Patisserie aussah (dazu gab es eine Mousseline und ein Fri­kas­see von weichen, weißen, grün eingelegten und in der Lake konservierten Baumnüssen). Wir bekamen eine Auster mit den weich gedämpften, weißen Teilen von der Lauchstange. Wir hatten Salatherzen mit Dille, etwas Lamm mit Malz und Graupen und als Hauptgang eine geschmorte Rote Rübe, die aussah (und hieß) wie ein sehr kurz gegartes Beefsteak und von ihren eigenen Blättern begleitet wurde – fantastisch.

Jeder einzelne Gang war bis ins Detail durchdacht, siehe oben. Es schmeckte großartig, und die Tatsache, dass wir mit winzigen Ausnahmen – dem Lamm, der Auster – vegetarisch gegessen hatten, war geradezu verstörend. Im Vergleich zu anderen Gemüseköchen setzt Puglisi nicht auf die Finessen, die Pastellfarben des Gemüses, sondern er inszeniert ihren Eigengeschmack nach allen (neuen) Regeln der Kunst (und oft auch so, wie er den Eigengeschmack von Fleisch inszenieren würde, nämlich mächtig, klar und radikal).

Wir hatten auch noch ein paar Desserts, darunter eine sehr kräftige Kombination von knusprigem Topinambur, Beeren und Eis, dann trat ich den Rückzug an. Habe ich erwähnt, dass es eine Menge Wein gab? Mit Ausnahme einer Überraschung aus dem österreichischen ­Süden (Sepp Muster wird in Kopenhagen in etwa so religiös verehrt wie Aubert de Villaine in den letzten Bastionen der klassischen französischen Küche) hatte ich noch nie von den Winzern, zuweilen auch von den Trauben noch nicht gehört. Es waren interessante und sensibel ausgesuchte ­Weine, die durchaus fordernd sein konnten und an der Grenze zwischen neuen Geschmackswelten und deren Behauptung balancierten.

Als wir gingen, war der Raum leer. Er wirkte aufgeräumt. Das Lachen, der Spaß hingen noch in den Wänden. Wenn das die Zukunft des Essens ist, dachte ich mir, dann kann sie kommen, die Zukunft.

Und ich verließ das Haus, aufrecht und, äh, frisch. Am nächsten Morgen war ich pünktlich beim Frühstück, und als wir uns auf den Weg nach Malmö machten, ging ich voran.

Malmö ist, wie jeder Seher der grandiosen Serie „Die Brücke“ weiß, nur eine kurze Fahrt mit dem Zug oder einem braunen Porsche 911 von Kopenhagen entfernt. Der braune Porsche (oder ist er doch olivgrün?) ist schon etwas älter, Baujahr 1977, und gehört der schwedischen Polizistin Saga Norén, die gemeinsam mit ihrem dänischen Kollegen Martin Rohde ziemlich abenteuerliche Fälle zu lösen hat (wenigstens in den ersten beiden Staffeln; in der dritten, die gerade auf ZDF gelaufen ist, kam statt Martin ein neuer Däne dazu. Den kenne ich aber noch nicht). Der Porsche ist noch im Spiel, aber besetzt.

Wir nahmen also den Zug. Der Zug verlässt Kopenhagen Hauptbahnhof, bleibt am Flughafen Kastrup noch einmal stehen und überquert dann auf der 7.845 Meter langen Brücke, der eigentlichen Hauptdarstellerin genannter Serie, den Öresund. Meer, Seevögel, Reflexionen, tief fliegende Passagiermaschinen, stille Schönheit.

Wenig später kamen wir in Malmö an. Malmö ist das Zentrum der südschwedischen Region, etwa so groß wie Graz, kleine, hübsche Innenstadt, ein neues Wahrzeichen (das Hochhaus mit dem sprechenden Namen „Turning Torso“, das der Weltarchitekt Santiago Calatrava am Hafen von Malmö hinterlassen hat), ziemlich viele Flüchtlinge und im Einwohnerverzeichnis den berühmtesten Schweden ever, Zlatan Ibrahimovic´.

Wir reisten nach Malmö, um den Herausgebern von Fool einen Besuch abzustatten. Fool ist ein unregelmäßig erscheinendes, ziemlich eindrucksvolles Food-Magazin in englischer Sprache und einer Bildsprache, die auf der ganzen Welt verstanden wird. Per-Anders Jörgensen (er selbst kürzt seinen langen Vornamen zu P-A, gesprochen „Pi-E“, ab) ist einer der Fotografen, die der skandinavischen Food-Revolution ein ästhetisches Auftreten, also ihr Gesicht verschafft haben, was man mit Fug und Recht auch von Lotta Jörgensen, seiner Frau, die als Strategin und Gestalterin arbeitet, behaupten kann. Die beiden sind in der Welt der engagierten, erfinderischen Gastronomie ubiquitäre Gäste und Mitgestalter, und Fool ist das geheime Zentral­organ der Bewegung: ein stilles, besonnenes Magazin von selbstverständlicher Eleganz und tief empfundener Schönheit, was sich genauso aus der einfühlsamen Fotografie von P-A erklärt wie aus der extravaganten, großzügigen Gestaltung. Nach einer achtjährigen Anlaufzeit erschien das erste Heft, inzwischen gibt es sechs, das siebente ist im Entstehen.

Dass Fool aus Schweden kommt, könnte Zufall sein. Vielleicht aber sind die Selbstverständlichkeit kulinarischer Exzellenz und das grundsätzliche Interesse, den Bogen so weit zu spannen, wie er zu spannen ist, Voraussetzungen für ein Projekt, das kein Verlag der Welt so auf den Markt gebracht hätte. Viel zu eigenwillig ist Fool (das Wort „insanity“ kommt nicht zu Unrecht auf jeder Titelseite vor), viel zu wenig fokussiert auf die Interessen einer imaginierten Zielgruppe, viel zu sehr den Leidenschaften der Herausgeber verpflichtet. Es geht um Spitzengastronomie in allen Teilen der Welt, aber vor allem um den Resonanzraum, aus dem sie entsteht. In diesem Sinn ist Fool eine Dokumentation von Stimmungen, von Atmosphäre, von Einflüssen, von Gefühlen. Konsequent, dass gar nicht erst versucht wird, diese Stimmungen in Rezepte zu übertragen: Wer Fool cool findet, wird sich nicht in die Küche stellen , sondern die eine oder andere Reise antreten und an deren Bestimmungsort die Irren aus Schweden dafür preisen, dass sie ihm den Impuls zum Aufbruch gegeben haben.

Auch uns hatten die Irren aus Schweden den Impuls zum Aufbruch nach Malmö gegeben, und weil es nach der Ankunft fast schon Mittag war, nahmen sie uns an der Hand und brachten uns dorthin, wo die richtigen Burger wachsen und aus einer geheimnisvollen Quelle das dazu passende Bier entspringt. Der mystische Ort hieß Casual, das Fleisch in den Burgern war sicher fünf Zentimeter hoch, und das Bier hatte eine ideale Temperatur für Samstag Mittag.

Dazu passte, dass wir bereits Pläne für den Abend hatten. Lotta und P-A hatten ein Restaurant namens Bastard für den Ernstfall als passend ausersehen, und ich kann nur eines sagen: Das war eine ziemlich gute Idee.

Vor allem nach einem langen Nachmittag in der Fool-Galerie, wo wir über Ethik und Ästhetik, Henne und Ei, aber auch die richtige Temperatur von Weiß- und Rotwein und die idealen Sardellen aus der Dose diskutierten (P-A erwies sich als dogmatisch und bestand darauf, dass nichts über die spanischen, in Olivenöl eingelegten Exemplare von „Yurrita“ geht, und er hatte ziemlich überzeugendes Beweismaterial dabei).

Natürlich steuerte ich abends das Bastard mit dem ganzen, sittlichen Selbstvertrauen dessen an, der einen Abend im Relæ in riskanter Gesellschaft ohne den Anflug von Kol­la­te­ral­schäden hinter sich gebracht hatte.

Das erwies sich allerdings als voreilig.

Denn es gab jede Menge zu essen, auch weil der Koch das Gefühl hatte, dass er den Gästen aus dem Süden (ich meine, wo sonst sind wir die Gäste aus dem Süden?) zeigen will, wo der Hammer hängt. Also schickte er gleich einmal eine Erwachsenenportion Blutwurst mit Spiegelei, damit wir das Bier nicht ohne Unterlage trinken müssen und schob eine grandiose Rillettes mit Cornichons und Silberzwiebeln nach, nach deren Genuss wir eigentlich – und zwar ziemlich reichlich – gegessen hatten.

Aber natürlich ging es jetzt erst richtig los. Ein Schweinsbraten kam, ernsthaft fett und mit Senf­körnern interessant gewürzt, dann die gegrillten Roten Rüben mit Sauerrahm und Dille, anschließend der Rogen vom Seehasen, und zwar so viel davon, dass am ganzen Tisch die Luft vernehmlich zwischen den Zähnen eingezogen wurde, mit entsprechenden Mengen an Sauerrahm und knusprigem Topinambur.

An dieser Stelle beschloss ich, mich auszuklinken. Aber dann brachte der freundliche Kellner erstens mehr Wein und zweitens eine Speise, deren schiere Ästhetik mich zurück auf die abschüssige Bahn Richtung Komplettüberlastung zwang: eine mit Blätterteig gedeckelte Pastete, aus deren Oberfläche vorwurfsvoll die Kralle eines Huhns ragte.

Wer bin ich, so ein Gericht nicht sofort auszuprobieren? Es war, nebenbei bemerkt, deftig, salzig und köstlich. Es hätte eine Kompanie satt gemacht, aber uns, die wir diesbezüglich schon gewisse Vorarbeiten geleistet hatten, machte die Pastete sehr satt (außerdem gab es einen Streit, wer die Kralle abnagen darf). Und während wir darüber nachdachten, mit welcher Art von Wein wir den Sieg über die Kreatur begießen sollen, traf das gebratene Huhn mit Neuen Kartoffeln und Gemüse ein.

An dieser Stelle hätte, wenn sich das Ganze als Realityshow erwiesen hätte (was niemanden von uns verwundert hätte), der Einsatz von Wanda erfolgen müssen:
„Ich will Schnaps! / Schnaps! / Alles was ich will ist Schnaps / der weiß wo die Sonne lebt. / Und wenn du weißt wo man um diese Zeit noch saufen kann / ja wenn du weißt wohin / da da da da da da gehn wir hin / da da da da da da gehn wir hin / da da da da da da gehn wir hin / da da da da da da gehn wir hin.“

Aber bevor es soweit ist, serviert Küchenchef Andreas Dahlberg noch persönlich eine Millefeuille, die mindestens Schuhgröße 47 hat. Dahlberg ist ziemlich bärtig und ausgesprochen bunt tätowiert. Er passt auch äußerlich in das Beuteschema der Business-Punk-Köche, wie sie in Skandinavien eher die Regel als die Ausnahme sind. Die Millefeuille hat er zum ersten Mal zu Ehren des Besuchs aus Wien zubereitet. Sie wird zwangsläufig ziemlich unschön zerstört, weil man eine Millefeuille nur mit Laserstrahlen zerteilen kann, um alle Stücke schön und rechteckig herauszubekommen und nicht windschief und quatschig.

Dann Aufbruch an die Schnapstheke, und ihr werdet nicht glauben, was dort passiert:Es ist großartig. Einmal mehr gelingt uns der Nachweis, dass die Stunden nach Mitternacht doppelt so schnell vergehen als bis dahin. Und dass ich den Zug zurück über die Brücke nach Kastrup verpasse, macht gar nichts. Es geht bestimmt wieder einer. Ich kümmere mich darum, wenn ich geschlafen habe.