Im Osten geht die Sonne auf

Ace Hotel London Shoreditch


Wilde Tage in East London. Samt österreichischem Wein, österreichischer Musik und der Ahnung, was eine echte Weltstadt ausmacht.

Text von Christian Seiler · Illustration von Markus Roost

Meine Freundinnen Tine und Katharina, gut geeichte Brückenschlägerinnen zwischen den Segnungen des Alten und den Verlockungen des Neuen, hatten mich vor dem Ace Hotel in Shoreditch gewarnt, und es war mir aus mehreren Gründen unangenehm, dass ich vergessen hatte, warum.

Denn ich stand gerade vor dem Ace Hotel an der Shoreditch High Street, das Sternchen auf meiner personalisierten Google-Maps-Seite hatte mich schnurstracks hierher geführt, und als ich zur Sicherheit noch einmal nachschaute, fand ich in meiner Tasche nicht nur die Wegbeschreibung, die ich in Paddington nach der Ankunft des Heathrow-Express wie ein Irrer gesucht hatte, sondern auch die Buchung. Mit dem sicheren Gespür des Traumwandlers war ich unter allen Möglichkeiten einer Unterbringung in East London auf direktem Weg dorthin gegangen, wo die Auskennerinnen gesagt hatten: Finger weg.

Aber eigentlich gefiel mir die Hütte gar nicht schlecht. Zwar war ich in der ziemlich vollen Halle der Einzige, der nicht wie ein Individualist gekleidet war, was ich mir selbst als vitales Zeichen von Individualität auslegte, und die Musik war laut, aber ziemlich gut, keine musikalischen Funktionsflächen, sondern Songs mit Melodien und einem gewissen Hang zum Absturz, also genau, was ich liebe (Stichwort: Mark Lanegan et al.). Außerdem behandelten mich die Stewards am Check-in-Counter ausgesprochen höflich und zuvorkommend, wahrscheinlich, weil sie schon lange niemanden mehr über fünfzig gesehen hatten.

In der Halle Batterien von Menschen, die an ihren Macs saßen und ihre Augen in den virtuellen Raum richteten. Im Nebenraum ein Café namens Bulldog Edition, in das ich mich gleich einmal hineinquetschte, um einen Kaffee zu trinken und ein fettes Croissant zu verzehren, was ich mir nämlich im Flugzeug aus offensichtlichen Gründen versagt hatte.

Das Croissant war gut, aber der Kaffee … der Kaffee war sehr gut, richtig gut, erstaunlich gut. Augenblicklich war ich wach genug, um festzustellen, dass der Laden von den Typen der Square Mile Coffee Roasters betrieben wurde, die ihre Kaffeebohnen aus Kolumbien, Nicaragua, Brasilien, Burundi und Äthiopien importieren, freilich saisonal, also frisch nach der Ernte, und im Übrigen das abgefahrenste Equipment für Filterkaffee im Angebot haben, das ich je gesehen habe.

Warum mich Katharina und Tine vor diesem Laden gewarnt hatten? Keine Ahnung.

London ist eine Stadt, deren Takt höher ist als der Flügelschlag eines Kolibris, und dessen Flügel bewegen sich im Hubschraubermodus immerhin 60 bis 90 Mal pro Sekunde. Wann immer ich nach London komme, ist die Stadt eine andere, hat eine neue Silhouette, neue Wahrzeichen, neue Rückzugsgebiete. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, nicht allzu große Sprünge zu machen, sondern für ein paar Tage in einer Ecke zu bleiben, die in den letzten Jahren eine dramatische Wandlung durchgemacht hat, nämlich im Osten von London, in den Stadtteilen Hackney und Shoreditch, die etwas nördlich der City of London liegen, wo sich die Banker mit Pfundnoten die Nase schnäuzen, und von Whitechapel, wo die gleichnamige Gallery eine Oase in einem wuchernden Urbandschungel ist, hässlich, laut, angestrengt, wunderbar.

East London war lange eine Arbeitergegend, das Favoriten von London, um es wenigstens den Wienern zu erklären. Aber dann fand das Wunder der Gentrifizierung statt, das wohl zweischneidig ist, weil es alte Strukturen zerschlägt, aber auch erstaunliche Kräfte freisetzt, die von kreativen Menschen gebündelt und in Form gebracht werden. Das wollte ich mir anschauen, ausführlich und mit der Lupe. Der saisonale Kaffee war ein guter Anfang.

Das Erste, was mir auffiel, war erstaunlich gute, freestylige Typografie. Wer auch immer hier ein Business aufsperrt, kennt einen guten Grafiker, der sich um Auftritt und Webpräsenz kümmert, sodass selbst Genres, die eher unsexy sind, wie Haushaltsschwämme oder vegane Gesichtsmasken, daherkommen wie weltbekannte Buchhandlungen oder neue Farm-to-table-Restaurants.

Apropos, natürlich musste ich irgendwo etwas essen. Zum Glück hatte ich eine Reservierung für den Lunch im Lyle’s, einem Geheimtipp, der heuer unglücklicherweise auf Platz 54 der 50-Best-Liste aufgetaucht ist, was reservierungstechnisch erhöhten Planungsbedarf bedeutet. Das Lyle’s liegt um die Ecke vom Ace Hotel, gegenüber einer Containerstadt, in der man vom Surfbedarf bis zu vernünftigen Cocktails alles bekommt.

Das Restaurant befindet sich im Tea House, Ziegelgebäude, riesige ­Industriefenster, Blick auf den Boxpark und die Gleise der Hochbahn. Umso erstaunlicher der Kontrast zum freundlichen, unverspielten Inneren des Restaurants. An der Bar saßen Menschen, die auf andere Gäste warteten, und dazu Wein tranken, der offen ausgeschenkt wurde, es war ein Ex Vero II von Werlitsch aus der Südsteiermark.

Die Gerichte wurden auf der Karte nur kursorisch angekündigt, zum Beispiel so: Bittersalat, Zitronatzitrone, Berkswell – dabei handelte es sich um einen extrem ausbalancierten Salat aus leicht bitteren Endivienblättern, geröstetem Sauerteigbrot, hauchdünnen Scheiben von der Cedri-Zitrone und einem großzügig über die Blätter geschabten Hartkäse aus den West Midlands.

Das war ein guter, ein köstlicher Beginn, aber es ging noch besser weiter: Denn der Kellner hatte mir den Heringsmilchner mit Blutorangen ans Herz gelegt, und für diesen Tipp bin ich ihm bis heute dankbar. Die Fischinnereien waren voluminös und fleischig. Sie kamen mit Kapern, etwas geröstetem Brot (ja, schon wieder: Zum Glück hatte ich mich nicht gleich am Anfang mit dem deliziösen Sauerteigbrot vollgestopft) und dünn geschnittenen und dann getrockneten Scheibchen von der Blutorange. Deren konzentrierter Geschmack, der sich erst nach und nach am Gaumen entfaltete, ging mit dem Molligen der Heringsinnereien eine genialische Allianz ein, die von Salz und Säure der Kapern noch einmal bereichert wurde.

Nach den gegrillten Muscheln bestellte ich gleich zwei Desserts. Das eine, Ewe’s Milk, Fennel & Citrus, holte mich fast von den Beinen: Die süß-säuerliche Creme aus Schafmilch war von einer in Stücke gebrochenen Waffel bedeckt, auf die wiederum ein Sorbet aus Fenchel und Zitrusfrüchten gebröselt war. Das Dessert sah aus wie mit knallgrünen Semmelbröseln bedeckt und schmeckte, ja, paradiesisch.

Unter diesem Eindruck ließ ich mir zum Kaffee auch noch eine kleine Portion vom Schokoladekuchen mit Sanddorn kommen, der meinen Eindruck abrundete: Hier wird echtes Essen hergestellt, keine Laubsägearbeit, relativ dogmenfrei und offen für Ungewöhnliches.

„Wenn du einmal etwas gesehen hast, das so gut ist, wie es sein kann“, sagt James Lowe, Gründer und Küchenchef des Lyle’s, „dann kannst du es eh nicht mehr anders machen.“

Heringsmilchner mit Blutorangen: Ja, das ist so etwas. Wir werden das Lyle’s, diese Prophezeiung wage ich gerne, noch höher auf der 50-Best-Liste wiederfinden.

Und es ist gut, solche Restaurants dort zu sehen: Denn ihre Zielgruppe sind nicht die Geschäftsesser der City, die für irgendwelche spektakulären Gerichte unendlich viel Geld ausgeben wollen, sondern die Jungen und Beweglichen aus der Nachbarschaft, die sich Essen wünschen, das sie genießen, und Produkte, auf deren Herkunft sie sich verlassen können. Du brauchst kein kulinarisches Wörterbuch, um zu verstehen, was James Lowe meint, und du brauchst auch nicht das Einkommen eines Investmentbankers, um seine Mahlzeiten bezahlen zu können.

Ich fühlte mich gestärkt, als ich hinaus auf die Straße trat, wo von der falschen Seite ein Bus daherkam und meinen Herzschlag auf die Flügelfrequenz eines Kolibris beschleunigte.

Shoreditch befindet sich genau an der Demarkationslinie zwischen alter Schäbigkeit und neuem Schick. Ich äugte in eine ganze Reihe von Schaufenstern, die interessante Variationen blauer Sakkos, Jeans und weißer Turnschuhe präsentierten, was in etwa der angesagten Kleidung in diesem Stadtviertel entspricht, fast schon uniformmäßig – und da ist ja gar nichts dagegen einzuwenden, außer man steht auf gelbe Sakkos, was auf mich nicht zutrifft.

Ich lief bei Sunspel vorbei und bei Labour and Wait, dem mit Sicherheit schönsten Geschäft für Gartenwerkzeug und Handwerkerbekleidung, das ich je betreten habe. Ich wanderte nach Süden zum Old Spitalfields Market, verirrte mich dort in eines der besten Zeitschriftengeschäfte, die ich je betreten hatte, weshalb mir die Erinnerung an die nächsten beiden Stunden fehlt. Ich weiß nur, dass ich mich dann schwer bepackt auf den Rückweg zum Hotel machte, wo ich heute – um meinen frühen Flug zu erreichen, war ich bereits um halb fünf Uhr früh aufgestanden – etwas zeitiger ins Bett gehen wollte, ich hatte ja noch einiges vor die Tage.

Nur einen Abstecher an die Brick Lane gestattete ich mir: Ich wollte gern einen Bagel bei Beigel Bake, der legendären „Brick Lane Bakery“ abholen und erfuhr, dort angekommen, dass ich diese Idee nicht allein gehabt hatte. Ich fand mich in einer bis weit auf die Straße reichenden Schlange von Menschen wieder, die darauf warteten, eine große Portion Salt Beef samt Gurke zwischen frische Bagelhälften geklemmt zu bekommen, und als ich fragte, ob die Schlange zu jeder Tageszeit so lang sei – Beigel Bake hat täglich 24 Stunden geöffnet –, erhielt ich die kühle Antwort, gerade sei hier eh nichts los.

Der Imbiss war deftig und gut. Er erfüllte mich mit der richtigen Bettschwere. Wie gut ich heute schlafen werde, dachte ich mir auf dem Weg zum Ace Hotel, und es würde mich nicht wundern, wenn ich bereits das etwas dümmliche Lächeln im Gesicht getragen hätte, wie es kleine Kinder haben, wenn sie gerade getrunken haben und an der Brust der OOOM singenden Mutter langsam ins Nirwana dämmern.

Aber als ich zu meinem Hotel kam, stand vor der Tür eine Schlange wie gerade bei Beigel Bake. Nur die Girls waren viel aufgedonnerter und die Typen ganz offensichtlich gedopt. Für einen Moment war ich unsicher, ob ich mich am richtigen Ort befand, aber die Tür war ganz offensichtlich dieselbe wie die, durch die ich vor ein paar Stunden das Hotel verlassen hatte, und als ich irgendwen in der Schlange fragte, was denn hier um Himmelswillen los sei, kriegte ich freundlich, aber doch im Tonfall von jemandem, der einem begriffsstutzigen Hilfsschüler beibringen muss, dass zweimal drei sechs ist und nicht vierundzwanzig, die Auskunft, dass hier Party sei: „Das ist das Ace Hotel. Hier ist jeden Abend Party!“

Jeden Abend Party. JEDEN ABEND PARTY. Jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen, wovor mich Tine und Katharina gewarnt hatten. Super Hotel, hatten sie gesagt. Aber die Irren tanzen die ganze Nacht.

Als ich mich in die Halle gedrängt und als Hotelgast zu erkennen gegeben hatte, wehte mich die Lautstärke der Tanzmusik fast wieder aus dem Foyer. Ich hatte einen Schweißausbruch. Wie würde ich bei diesem Unwetter an Sound bloß schlafen können?

Ich nahm den Lift in den siebten Stock, wo sich das Deluxe-Zimmer befand, das ich gebucht hatte. Das Zimmer empfing mich mit einer Umarmung aus Schweigen. Keine Spur von Lärm, von Unruhe, von Party. Dafür eine super bestückte Minibar.

Ich schmiss mich aufs Sofa, machte ein Bier auf und schickte eine SMS an Katharina und Tine.

„In welchem Stock habt Ihr damals im ACE gewohnt?“

Die Antwort kam prompt: „Im zweiten.“

Direkt über dem DJ-Pult.

„Super Idee“, schrieb ich. Dann schaltete ich das Handy aus und überließ mich der Stille der Nacht und dem Prickeln des Biers.

Ich frühstückte im Rochelle Canteen, wo Margot, die Frau von Nose-to-tail-Guru Fergus Henderson, den ehemaligen Fahrradverschlag einer Mädchenschule in ein wundervolles kleines Restaurant umgewandelt hat. Ich war hier schon einmal um den gesamten Arnold Circus geirrt, ohne den Eingang in den richtigen Garten zu finden, weil es Margot mit der Diskretion ein bisschen übertrieben hatte, der Hinweis auf ihr Restaurant war, sagen wir, etwas versteckt angebracht. Inzwischen lehnt ein Schild vor dem Eingang, auf dem in besonders schönen Buchstaben steht, dass man hier am richtigen Ort ist, doch, doch.

Ich aß selbst gemachte Granola mit Früchten und Joghurt und ein getoastetes Schwarzbrot mit Eierspeise und trank tiefschwarzen Tee dazu. Wenn das Wetter es erlaubt, werden hier die Tische hinaus in die Wiese gestellt, und wer beim Lunch ein Gläschen Wein trinken möchte, muss sich den Wein mitbringen oder bei Leila’s Shop gleich um die Ecke besorgen – Rochelle Canteen hat keine Alkohollizenz, worauf man vom freundlichen Menschen, bei dem man telefonisch reserviert, auch gleich hingewiesen wird.

Beim Frühstück kam ich allerdings ohne Alkohol aus, wiewohl ich Menschen sah, die eine Flasche Larmandier-Bernier dabeihatten, weil sie Champagner zum späten Frühstück für das einzig Richtige halten.
Anschließend (und ohne mich bei den Champagnertrinkern einzuschmeicheln) spazierte ich ohne echtes Ziel nach Norden, schaute mir das wirklich interessante Museum of the Home an und ließ mich durch Antiquitätengeschäfte und Skateboardmodeläden treiben, bis mir auffällig viele Menschen begegneten, die große Blumensträuße dabei hatten.

Der Sherlock in mir kombinierte: kein Zufall. Also folgte ich ihrem Kielwasser, bis das Treiben immer dichter wurde: Da war ich praktisch schon am Columbia Street Flower Market angekommen, einem so bunten, so wundervollen Markt in einer hübschen Vorstadtgasse, dass mein Herz fast wieder kolibrimäßig zu schlagen begann. Ein Blumenstandl neben dem anderen, mir fiel natürlich sofort H. C. Artmanns wundervolles Gedicht ein:

i mechad me diaregt fia dii en a blumanschdandal fazauwan alanech und grod nua fia dii med haud me und hoa me fazauwan en a schdandal foi duipm und rosn foi draureche astan und nökn en suma r en heabst und en winta bei dog und bei nocht one z wökn […]

Gerade, als ich mir überlegte, ob ich mich an die Ecke Columbia Road und Gosset Street stellen und den kulturlosen Briten ein bisschen österreichische Dialektdichtung näherbringen soll, begann ein rothaariger Gitarrist Beatles-Lieder zu spielen und trieb mir mit seiner umwerfenden Version von Michelle gleich einmal die Flausen aus dem Kopf.

Im Nu war die Straße voll von begeisterten Menschen. Sogar aus dem schönen, grün gekachelten Quartierpub Birdcage strömten die Trinker heraus, um dem unscheinbaren Typen zuzuhören. Später erreichte mich am anderen Ende des Marktes das Gerücht, es habe sich um Ed Sheeran gehandelt.

Aber ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt. Denn ich verschwand ja kontrapunktisch im Bauch des Birdcage, wo Plätze frei geworden waren, um mir einen kleinen Imbiss zu genehmigen, namentlich einen Teller von „The Best Fish & Chips“, und ich muss zugeben, sie waren wirklich ganz ausgezeichnet, auch wenn mich zwischendurch der Gedanke quälte, ich sollte mir vielleicht doch noch zwei, drei Lieder von dem Typen anhören, der draußen auf der Straße gefeiert wurde, als wäre er Ed Sheeran, vielleicht, weil er es tatsächlich war.

Gestärkt drängte ich mich durch die Marktgasse. Hinter den Ständen verbargen sich Zeilen interessanter Geschäfte und Kneipen. Die Bäckerei Lily Vanilli (genau lesen, Folks!) hatte so prächtige Torten im Angebot, dass sogar ich als legendärer Antitortist fast schwach geworden wäre. Das Pub The Royal Oak strahlte eine solche Schönheit und Gelassenheit aus, dass ich Ed Sheeran sofort vergaß. Vor dem Campania, einem im Viertel bekannten Italiener, reversierte ein indischer Chauffeur seinen schweren Benz mitten in der Menschenmenge, was die italienische Inhaberfamilie motivierte, geschlossen auf die Straße zu stürmen und ihm einander widersprechende Hinweise zu geben, wie er die waghalsige Aktion am besten zu Ende bringen könnte.

Das war schön. Ich fühlte mich sofort zu Hause.

Ich ging jetzt die Hackney Street entlang, passierte den Hochbahn-Bahnhof Cambridge Heath und steuerte zuerst den Regent’s Canal und dann den Victoria Park an, der mir bis dahin völlig unbekannt gewesen war, mich aber sofort überwältigte: Dieses Leben! Diese Schönheit! Diese Coolness! Diese extravagante, multinationale Normalität! Und natürlich, aber das wusste ich erst eine halbe Mahlzeit später, dieses unglaubliche Gartenrestaurant namens Pavilion Café, das unter einer geschwungenen Kuppel direkt am Wasser steht, am Ententeich, den Familien aus aller Welt mit Booten befahren, um das Wochenende zu genießen.

Hier hatte ich nichts weniger als ein Erweckungserlebnis. Denn bekanntlich sinkt die Qualität von Essen indirekt proportional zur Schönheit der Lage eines Lokals. Je großartiger die Umgebung und die Aussicht – so lautete jedenfalls die Summe meiner bisherigen Beobachtungen –, desto nachlässiger gehen die Wirtsleute mit ihren Gästen um. Denn die kommen sowieso, weil die Lage so spektakulär ist.

Als der Teeimporteur Rob Green und der Wirt Brett Redman den Pavilion im Victoria Garden übernahmen, hatten sie freilich einen ganz anderen Plan. Sie wollten ein Quartiercafé etablieren, das nicht nur gut liegt, sondern auch kulinarische Qualitäten hat, die der Schönheit des Orts angemessen sind oder sie sogar übertreffen: Könnt ihr das lesen, Betreiber des Tiergartencafés in Schönbrunn oder der Kantine im Gänsehäufel? Und schämt ihr euch auch schon ein bisschen? Immerhin. Scham ist ein vielversprechendes Motiv für Veränderungen.

Im Pavilion gibt es nicht nur die gewohnt sorgfältige Auswahl an Kaffees aller Art (und Chai aus Sri Lanka – das gesamte Küchenteam stammt von da). Es gibt kleine Köstlichkeiten wie gegrillten Spargel mit Cashew-Tarragon auf Toast oder geräucherte Makrele mit Erbsensalat und jede Menge guter Brownies und Kuchen.
Und schön ist es unter der Kuppel des Pavilion-Pavillons. Erst später erfuhr ich, dass der Victoria Park mehrmals zu Englands schönstem Park gewählt worden war – da hatte ich meine Stimme aber längst abgegeben.

Ich nahm die Overground von Cambridge Heath und fuhr zurück an die Shoreditch High Street. Ich wollte noch den Brick Lane Market besuchen, drängte mich also durch ein paar Industriebrachen hinüber zur Brick Lane – remember? Beigel Bake! – und fand mich in einer extraterrestrischen Duftwolke wieder, die alles auf der Skala zwischen Dim Sum und Tandoori Chicken enthielt, natürlich auch vegane Burger und glutenfreies Sauerteigbrot und Schokolade ohne Zucker und Wein ohne Alkohol. Die Zeitgenossen in den großen Städten haben ja eine gewisse Vorliebe für den Verzicht entdeckt, wie es Hanya Yanagihara in ihrem epochalen Roman Ein wenig Leben beschreibt: „Wem es heutzutage ernst war mit seiner Kunst, der nahm keine Drogen. Das Prinzip Genuss war etwas für Beatniks, Abstrakte Expressionisten, Op-Art- und Pop-Art-Künstler gewesen. Heute rauchte man vielleicht ein bisschen Gras. Wer sich ganz ironisch geben wollte, zog vielleicht ab und zu mal eine Line Koks. Aber das war auch schon alles. Es war die Ära der Disziplin und Enthaltsamkeit und nicht der Inspiration, und darüber hinaus war Inspiration auch gar nicht mehr mit Drogen gleichzusetzen. Niemand, den er kannte und respektierte […] nahm irgendetwas: keine Drogen und auch keinen Zucker, kein Koffein, kein Salz, kein Fleisch, kein Gluten, kein Nikotin. Sie waren Künstler im Gewand von Asketen.“

Als ich gerade eine sauscharfe Bohnenpaste kostete und ein durchsichtiges Bier dazu nahm, fiel mir ein, dass etwas Askese mir vielleicht auch guttun würde. Schließlich hatte ich heute Abend einen Tisch im St. John Bread &­Wine bestellt, bei jener Filiale von Fergus Hendersons Kulthütte, die an der Commercial Street direkt gegenüber dem Old Spitalfields Market liegt.

Wie auch das Stammlokal an der St John Street ist das Bread & Wine von berückender, unaufdringlicher Schönheit. Kleine Holztische, ein gekachelter Fußboden, Wein- und Wassergläser auf den Tischen, eine weiße Serviette, fertig. An einer kleinen Theke kann man Brot kaufen, viele Locals kamen während des Abendessens von der Straße herein, holten ein duftendes Sauerteigbrot, tranken ein Glas Rotwein im Stehen, verabschiedeten sich lächelnd und gingen heim, um sich ihr Abendessen zu machen.

Ich hingegen ließ es mir nicht nehmen, das einzige Gericht zu bestellen, das im St. John seit der Eröffnung auf der Karte steht: das geröstete Knochenmark mit dem Salat von Petersilie und Kapern. Anschließend gab es Kohlrabi mit winzigen Krabben, und nachdem ich noch ein paar Austern geschlürft hatte, schleppte ich mich zurück ins Ace, wo die Party selbstverständlich voll im Gang war, mich aber nicht mehr erstaunen oder gar stören konnte. Codewort: Floor seven.

Ich blieb noch ein paar Tage in East London und verließ den Stadtteil nur, um mir den neuen Zubau zum Tate Modern anzuschauen (Fazit: unglaublich eindrucksvolle Besucherterrasse, vor allem wenn es darum geht, den Nachbarn in ihre voll einzusehenden Millionärsappartments zu glotzen) und der Tate Gallery einen Besuch abzustatten.

Ansonsten trieb ich mich in dem Viertel herum, das mir immer besser zu gefallen begann. Shoreditch und Hackney repräsentieren die Aufbruchsbereitschaft der echten Weltstadt, die Experimentierfreudigkeit, selbst aus den abgelegensten Ideen etwas zu machen, was vielleicht bald Weltgeltung haben wird, ein profundes Selbstverständnis von der eigenen Kreativität und einer ungebremsten Freude an Experimenten.

Ich aß Huhn mit Rollgerste im Towpath Café am Ufer des Regent’s Canal, einmal mehr eine perfekte Mischung aus Geschmack, Lässigkeit und urbanem Charme. Ich schlürfte Suppe und verzehrte Mengen an „Paia do toucinho“, gerolltem Schweinebauch, in der winzigen Taberna do Mercado, dem Joint Venture von Nuno Mendes und seinem Küchenchef Antonio Galapito, das sich ganz unscheinbar gleich gegenüber dem Bread & Wine befindet. Hier gibt es wundervolle Interpretationen von portugiesischen Gerichten und besseren Vinho Verde als in den meisten Restaurants von Lissabon. Ich trank Kaffee und aß einen bezaubernden Amalfi Lemon Cake bei Violet am Wilton Way und holte mir ein bezauberndes Sandwich mit frisch gebratener Makrele bei der Fischhandlung Fin and Flounder am Broadway Market – dort beweinte ich, dass ich in Ermangelung einer Kochmöglichkeit keinen Fisch mit nach Hause nehmen konnte, denn das Angebot war seelenvoll, großartig und verführerisch.

Kurzes Memo an Tine und Katharina: Ich glaube, ihr habt mit euren Einwänden gegen die ­Unterkunft doch recht gehabt. Ein bisschen. Nicht für mich übrigens, ich war mit meinem hübschen, coolen Zimmer auf Floor seven fein raus.

Eines Abends trat ich allerdings nicht direkt den Rückzug in mein Superior an, sondern kroch langsam in die Party hinein, die wie immer am Ground Floor stattfand, überließ mich fast unwillkürlich der Musik – der Typ am DJ-Pult spielte Parov Stelar, nächster Exportschlager Österreichs neben dem Wein von Werlitsch – und beobachtete mich etwas später selbst dabei, wie sich mein lockeres Herumstehen samt Bierflasche in ein rhythmisches Verschwimmen mit der Umgebung transformierte, und noch später, als ich mit den beiden Damen zu tanzen begann, die ganz offensichtlich schon im Bett gewesen waren und ins Foyer gekommen waren, um zu fragen, ob die Musik nicht ein bisschen leiser auch ginge.

„Nein“, sagte ich, „auf keinen Fall. Das ist Parov Stelar! Muss man laut hören!“

„Ach so“, sagten sie. „Ja“, bekräftigte ich.

Dann wurde weitergetanzt. Ich habe eine vertrauliche Frage: Wart das etwa ihr?

de.acehotel.com

Lyle’s
lwww.yleslondon.com

St. John

stjohngroup.uk.com

Taberna do Mercado
tabernamercado.co.uk