Jeder Tisch ist eine Bühne

Wie ein Tischgespräch in Salzburg ziemliche Dynamik entfaltete und mich zum Kurator eines großen Stammtisches machte. Dann begann die Musik und das Licht ging aus.

Text von Christian Seiler · Illustration von Markus Roost

Die Nächte in Salzburg haben Potenzial. Sie speisen sich aus den Versprechungen des frühen Abends und suchen sich ihre Schlupfwinkel. Dann verlassen sie ihre Flasche wie der Geist und sorgen für Feuer auf den Wangen.

Am Abend, an dem Franui-Trompeter Andreas Schett in der Blauen Gans einen mit feinen Beispielen durchtränkten Vortrag über Tafelmusik gehalten hatte, handelte es sich bei der Flasche um einen Blaufränkisch Szapary von Uwe Schiefer, Südburgenland. Der würzige, selbstbewusste Szapary verkörperte die Geister, die wir riefen. Die Küche der Blauen Gans lieferte dazu etwas durchaus Extravagantes, nämlich Flanksteak. Bei diesem Stück, das sich eher selten im Umlauf befindet, handelt es sich um einen Teil des Bauchlappens vom Rindvieh. Dieser Lappen ist eher flach, saftig und jetzt nicht so ansehnlich wie ein gut zugeputztes Filet oder Tomahawk-Steak. Dafür entfaltet er seinen formidablen Eigen­geschmack sehr unkapriziös und unmittelbar – Manfred Höllerschmid, Metzgermeister aus dem Kamptal, wird an dieser Stelle bestimmt schmunzeln. Er war es, der mich mit den Freuden des Flanksteaks vertraut gemacht hatte, eine Freude, die mit allerlei Zubereitungsarten zwischen gut geheiztem Ofen und offenem Feuer gründlich ausprobiert wurde. Und ja, das Flanksteak und ich sind seither enge Freunde.

Ich begrüßte die Lieferung des Fleisches also mit dem zustimmenden Kopfnicken des Eingeweihten, um auch in der Blauen Gans ein bisschen Kennerschaft zu signalisieren. Niemand sah mich. Ich nahm einen großen Bissen vom Fleisch, das sehr saftig war, und patzte gleich einmal ein schönes Muster auf mein weißes Hemd.

„Du hast dich angepatzt“, bemerkte Andreas Schett augenblicklich.

Ich verbrachte den Rest des Abends mit einer Serviette im Kragen, die nach kurzer Zeit so aussah wie ein Schüttbild von Hermann Nitsch – aber sie vermittelte wenigstens den Eindruck, ich hätte die Wahl, wie ich aussehen wollte. Und weil es im Grunde ja um den Geist ging, der aus der Flasche drängte, folgten der ersten Flasche Szapary noch ein paar weitere, was kein Kunststück war: Denn nach und nach wuchsen uns ein paar leidenschaftliche Player des Salzburger Geistes- und Thekenlebens zu, was, wie wir wissen, zu gewissen Tageszeiten ein- und dasselbe ist.

Als es im Gewölbe der Blauen Gans Mitternacht schlug, hatten wir bereits ein zweites Mal an diesem Abend die Musikfrage erörtert. Andreas Schett, der umtriebige Chef von Franui, selbst Trompeter und musikmäßig an allen stilistischen Verkantungen und Verschnitten höchst interessiert, nahm einen langen Anlauf, um vom klassischen Divertimento, der Tafelmusik für die herrschenden Stände des Barock, zum pulsierenden Rhythmus der aktuellen Barmusik zu gelangen, deren wesentlichste Funktion darin besteht, Unterhaltungen zu behindern und den Konsum von Getränken als Ersatzhandlung zu befördern.

Wir fanden es zum Beispiel gut, dass wir im Lokal nur uns selbst hörten.

Also konnten wir irgendwann dann doch über den Rausch reden, ohne den, wie der Ostbahn Kurti einmal richtig bemerkte, die Zeit nach Mitternacht nicht doppelt so schnell verginge wie zum Beispiel ein werktätiger Vormittag.

Weil es hatte uns alle an diesem Tisch eine große Euphorie erfasst. Wäre ein Philosoph in der Runde gewesen, hätte er jetzt affirmativ Epikur zitiert. Esoterikern wäre das schöne Wort „transzendieren“ eingefallen.

Schade nur, dass die Schriftstellerin Amélie Nothomb nicht mit uns am Tisch saß. Sie hätte vielleicht ihr neues Buch Die Kunst, Champagner zu trinken unter dem Tisch hervorgezogen und mit erhobener Stimme die Einleitung vorgelesen, die in Sachen Rausch und Unterlage ein paar grundlegende Neuigkeiten zu bieten hat.

Amélie war leider verhindert.

Ein Glück, dass ich ihr Buch dabeihatte.

Selten hat man mir so aufmerksam zugehört, als ich mit sonorer Stimme rezitierte:
„Einen Rausch sollte man nicht improvisieren. Sich zu betrinken ist eine Kunst, die Talent und Sorgfalt erfordert. Die Sache dem Zufall zu überlassen führt zu nichts. Dass das erste Besäufnis oft so wunderbar ist, liegt am vielberufenen Anfängerglück – das sich per definitionem nie wiederholt.

Jahrelang habe ich getrunken wie alle anderen auch, mehr oder weniger harte Sachen, was halt der Abend so hergab, stets in der Hoffnung auf einen Schwips, der das Leben erträglicher machte. Das Einzige, was ich davon hatte, war ein Kater. Dennoch hegte ich schon immer die Vermutung, dass dabei etwas Besseres herauskommen könnte.

Nichts macht mich trauriger als Menschen, die vor der Verkostung eines großen Weins ,einen Happen essen‘ wollen: Das ist eine Beleidigung des Essens und noch viel mehr des Getränks. ,Sonst steigt er einem ja gleich zu Kopf‘, faseln sie und machen es damit nur noch schlimmer. Dann sollten sie besser auch keine schöne Frau mehr ansehen, weil sie ihnen den Kopf verdrehen könnte.

Beim Trinken den Rausch vermeiden zu wollen ist ebenso kläglich, wie sich beim Hören sakraler Musik gegen das Gefühl des Erhabenen zu sperren.“

Damit waren wir unglaublich elegant zum ursprünglichen Thema zurückgekehrt. Wir nahmen noch einen Szapary zur Brust und sangen unter dem sachkundigen Dirigat von Andreas Schett die Bachmotette BMV 227 „Jesu, meine Freude“ – und wir sträubten uns ebenso wenig gegen das durchaus erhabene Gefühl der Erhabenheit wie gegen das rauschhafte Gefühl des zweifellos mit uns im Raum anwesenden Rausches.

Interessant, dass sich die Pforte der Erkenntnis so gern mitten in der Nacht öffnet. Als ich später mit Andreas Schett draußen in der Getreide­gasse stand und in den spätösterlichen Himmel blickte, sagte er: „Es braucht eigentlich gar nicht viel, dass es so schön ist.“

Und damit hat er zweifellos recht.

Aber ein bisschen was braucht es eben schon.

Nun sitzt in Salzburg die Einsicht tief, dass jeder Tisch eine Bühne sein kann, sofern man ihn nur als solche benutzt. In der Formulierung des Dichters Hugo von Hofmannsthal hieß es ja auch schon, man wolle „uralt Lebendiges aufs Neue lebendig machen; es heißt: an uralter sinnfällig auserlesener Stätte aufs Neue tun, was dort allezeit getan wurde“. Hofmannsthal schrieb das 1921 in seinem Mission Statement für „Festspiele in Salzburg“. Nur engstirnige Elitisten würden das schöne Ansinnen aufs Theater begrenzen wollen.

In der Salzburger Altstadt rief man also schon vor Jahren eine Art Gastlichkeitsfestival ins Leben, das im Wesentlichen dieser Maxime folgen sollte: Zusammenkommen, essen, trinken, reden – und zusehen, was daraus wird. Das Festival bekam den beziehungsreichen Namen „eat & meet“, auch wenn die Reihenfolge, streng genommen, anders herum natürlicher wäre; aber Rhythmus bleibt Rhythmus, und die Semantik hat schon mancher Titellogik einen Strich durch die Rechnung gemacht. Im Rahmen von „eat & meet“ passierten ziemlich großartige Sachen in Salzburg, kluge, spektakuläre, anspruchsvolle, wilde und sinnstiftende Sachen. Dann starb, plötzlich und unerwartet, Gerhard Eder, der Kurator der Reihe. Die Lücke, die er hinterließ, ist groß. Im Hintergrund mussten viele Fäden gezogen werden, und einer dieser Fäden holte mich nach Salzburg.

Weil was sagst du zu einer Anfrage, die sinngemäß lautet: Möchtest du interessante Leute an ausgesuchte Orte einladen, um mit ihnen in Gesellschaft gute Gespräche zu führen?

Sicher sagst du: Sicher.

So lernte ich die Nächte in Salzburg besser kennen, und manchmal auch die Vormittage.

Was die Vormittage betrifft: Da brachte mich vor allem der Schweizer Kochbuchautor und Foodblogger Claudio Del Principe auf Touren. Am Vorabend waren wir noch mit interessanten Verortungen der italienischen Küche beschäftigt. Claudio, in Basel domiziliert, hatte in Anlehnung an den Röstigraben der Schweizer – jener Grenze zwischen Deutsch- und Welschschweizern, wo sich nicht nur die Sprache, sondern auch die kulinarischen Kulturen abrupt ändern – über den italienischen Knoblauch-Zwiebel-Graben gesprochen und die Butter-Olivenöl-Grenze, was sehr aufschlussreich war (und in Claudio Del Principes bei Brandstätter erschienenen Büchern Italien vegetarisch und Ein Sommer wie damals jederzeit nachzulesen ist). Dann hatten wir ein bisschen Wein getrunken und, was bekanntlich ein verbreiteter Anfängerfehler ist, uns in der Euphorie der fortgeschrittenen Stunde fürs Frühstück verabredet. Ich war nämlich der Meinung, dass Claudio, seinerseits zum allerersten Mal in Salzburg, unbedingt die Kuchenträgerinnen des Café Tomaselli sehen müsse, wie sie mit weißer Schürze und einem Tablett voller süßer Köstlichkeiten durchs Traditionskaffee am Alten Markt schweben.

Nur hatte mir Claudio ein Geheimnis verschwiegen. Er hatte nämlich strikte Anweisungen seiner Heraus­geberin nach Salzburg mitgebracht. Die Herausgeberin heißt Katharina Seiser, produziert überaus fleißig und kompetent Kochbücher und zeichnet unter anderem für die vegetarische Länderreihe bei Brandstätter verantwortlich. Außerdem stammt sie aus Salzburg, kennt die Stadt, ihre Spelunken und Konditoreien auswendig. So hatte sie Claudio aufgetragen, eine Reihe von Adressen aufzusuchen – an erster Stelle die Konditorei Ratzka an der Imbergstraße, wo es, so die herausgeberische Gebrauchsanweisung, cremige Konditorwaren zu probieren gelte.

Als Claudio zur verabredeten Zeit, nämlich viel zu früh am Morgen, im Tomaselli auftauchte, hatte er schon eine Reise durch die halbe Stadt hinter sich und ich meine, in seinen Augen den samtigen Glanz von gerade verzehrten Schlagobersgerichten gesehen zu haben. Auf Facebook postete er später eine Aufnahme eines der winzigen Tischchen bei Ratzka, was nostalgiemäßig jedenfalls gut ankam: „Alleine schon dieses Gedicht einer Tischkomposition“, kommentierte die Basler Künstlerin Linda Briem, „welches mit dem Sechzigerjahre-Häkeldeckchen dem Siebzigerjahre-Zuckerstreuer zuwinkt und zusammen mit dem herzzerreißenden Topfpflänzchen in Wonne die Nostalgie umarmt, würde mich hypnotisch anziehen.“

So was passiert in Salzburg, wohlgemerkt vor dem Frühstück.

Wir frühstückten dann im Tomaselli, ich zum ersten, Claudio zu einem weiteren Mal. Dann fragte er mich, ob ich die Bäckerei St. Peter kenne, und ich antwortete wahrheitsgemäß, dass ich sie nicht kenne.

Weil, sagte Claudio, er von dort ein Roggenbrot mitnehmen müsse.

„Anweisung der Herausgeberin?“, fragte ich.

Claudio nickte.

Wir spazierten durch die Stadt, und wie jedesmal, wenn man jemanden an seiner Seite weiß, der die perfekte Harmonie des Salzburger Innenstadtensembles, die spektakulären Abbrüche des Mönchsbergs, die glänzenden Kuppeln des Doms und der Kollegienkirche, die bunten Häuserzeilen an der Salzach, die berückende Weite des Residenzplatzes und das alles überstrahlende Weiß der Festung noch nie gesehen hat, ist man ergriffen von dieser unwahrscheinlichen Massierung purer Schönheit.

„Was heißt eigentlich Provinzler?“, fragte Claudio.

Wir gingen nämlich gerade am Stadtkino vorbei, wo ein Spruch des Schriftstellers Karl-Markus Gauß ans Schaufenster affichiert war: „Provinz ist dort, wo Provinzler Provinzler Provinzler schimpfen.“

„Weiß ich auch nicht“, sagte ich. Am Vormittag in Salzburg, mit Sonne, milder Luft, die Farben des Südens auf den Hausfassaden, hat man ein gewisses Recht, unangenehmen Fragen auszuweichen.

Wir trafen also in bester Stimmung in der Stiftsbäckerei St. Peter ein, die, nun ja, keine großen Anstrengungen unternimmt, im Konzert zeitgemäßer Bäckereien mitzuspielen. Du überquerst den Kapitelplatz, marschierst aber nicht hinauf in Richtung Festungsbahn, sondern nimmst den Eingang, der zum berühmten Petersfriedhof führt, wo du freilich nicht ankommst: Denn vorher schon nimmt dich der köstliche Geruch nach frischen Brioches so in Anspruch, dass du ohne weitere Anweisungen deiner Nase folgst und ein paar Stufen in ein jahrhundertealtes Gemäuer steigst, wo in einem großen Raum ein paar alte Backrequisiten wie in einem etwas vernachlässigten Museum herumliegen, während es nach links in eine echte Back­stube geht, wo du genau zwei Produkte kaufen kannst: frische Brioche-Zöpfe und Roggenbrot.

Leider war das Roggenbrot aus.

Falls Nanni Moretti einen Mann sucht, in dessen Gesicht eruptive Enttäuschung angemessen Gestalt annimmt: Ich habe die Telefonnummer von Claudio Del Principe, ich kann sie weitergeben.

„Was mach ich jetzt?“, fragte er mich.

„Ganz einfach“, antwortete ich, „du bleibst noch einen Tag länger.“

„Wie bitte?“, fragte er.

Ich schluckte den warmen Briocheknopf hinunter, den ich mir in atavistischer Gier in den Mund gestopft hatte, und wiederholte meine Einladung mit nur mehr halb vollem Mund, so dass Claudio mich verstehen und begeistert ja sagen konnte.

Wir nahmen dann ein Mittagessen auf der schönsten Terrasse der Stadt, jener des M32, des Museumsrestaurants auf dem Mönchsberg, ein, von wo die Aussicht so bizarr wunderbar ist, dass man besser keine bewusstseinsverändernden Substanzen zu sich nehmen sollte (mehr zu diesem Thema später). Abends machten wir uns ins Nonntal auf, wo einer der modernsten Köche der Stadt praktiziert. Gerade erst hat Martin Kilga das Paradoxon von seinem früheren Patron Stefan Brandtner übernommen und adaptiert dessen Wunderkammern nach seiner Façon.

Zum Beispiel trafen wir in dem Raum, wo auch die Kühlschränke stehen, aus denen man sich Bier und Wein holt, einen Barber an – einen Typen namens Sebastian Pfister mit bunten Armen und langem, rotem Bart, der sich um dein Äußeres kümmert, wenn du Lust darauf hast und einen Bartwuchs wie ein Wikinger.

Ich hatte zuerst Lust auf ein angemessenes Getränk und entdeckte den Nosiola Fontanasanta von Elisabetta Foradori, einen Wein, der so ist wie ein kühler, frischer Nachmittag zur Kirschblütenzeit.

Das sollte die Inspiration für den heutigen Abend sein.

Bei Martin Kilga plauderten an diesem Abend Lotta und P-A Jörgensen vom Fool Magazine „eat & meet“-mäßig aus der Schule – volles Haus und Martin beschickte das Publikum mit einem ziemlich abgefahrenen Menü.

Er pochierte Fischbällchen in rotem Curry und ergänzte sie um Melone, Süßkartoffel, Mandeln, Dinkel und Pumpernickel. Er garte einen Saibling in der Folie mit schwarzem Knoblauch. Er servierte eine Kochbanane mit eingelegter Tamarillo, Brombeeren, Haselnuss und Kokosnuss-Pandan-Sauce. Das Herz und das Hirn vom Kalb kamen mit geräuchertem Paprika, Spitzkraut, Kapern und Sardellensauce, und weil das natürlich noch nicht genug war, gab es noch eine geschmorte Rinderrippe mit Räucheraal, Bärlauchsud, Spargel und jungen Erbsen. Martin Kilga zeigte, dass er in der eklektizistischen Schule von Roland Trettl im Hangar-7 gut aufgepasst hat und ihm nicht nach regionalistischen Dogmen zumute ist. Der Abend brachte einen Tsunami an Eindrücken, und die einzige Konstante war der Wein von Elisabetta Foradori.

Nein, auch das Staunen von Claudio Del Principe blieb auf ziemlich gleichbleibendem Niveau. Er konnte es nicht fassen, dass man im Paradoxon einfach zum Kühlschrank gehen darf, um sich dort persönlich die nächste Flasche Wein auszusuchen – „In der Schweiz wäre spätestens bei der zweiten Umdrehung des Korkens die Polizei da!“ – und zuckte jeweils zusammen, wenn er einen Blick auf die Speisekarte warf – nicht etwa, weil ihm nicht gefiel, was er da sah, sondern weil er angesichts der aufgerufenen Preise zum Vergleich mit der schweizerischen Gastronomie tendierte und jedesmal von Neuem anmerkte, dass man „für diesen Preis bei uns in der Schweiz nicht mal was aus dem Kaugummiautomaten bekommt“.

Am nächsten Morgen – es ging uns gut, der Wein hatte auf einfühlsame Weise seine Wirkung getan – standen wir wieder in der Stiftsbäckerei. Diesmal gab es Roggenbrot, in schönen, kompakten Zwei-Kilo-Laiben. Jeder von uns nahm einen ganzen, klar. Wir bekamen ein anerkennendes Lächeln und einen Plastiksack mit Ausstanzungen mit auf den Weg, in dem sich das Brot, so das Versprechen, halten werde, bis es aufgegessen sei.

Mit diesem Gepäck fanden wir uns zur Führung über den Grünmarkt ein, die Andreas Gfrerer, Hausherr in der Blauen Gans, von Zeit zu Zeit veranstaltet. Selbst schuld, wer nicht daran teilnimmt. Gfrerer, dessen Sinn für interessante, zeitgenössische Kunst man auf den Gängen der Blauen Gans jederzeit besichtigen kann, verfügt auch über eine erstaunliche Expertise in Sachen Lebensmittel. Er ließ uns vom Metzger ein paar interessante Schnitte vom Rind vorführen. Er machte mit ein paar Handbewegungen vor, wie man junge Artischocken richtig schält (Claudios Gesicht, in dem Gfrerer unmittelbar Zustimmung suchte, spiegelte unmittelbar Zustimmung). Er führte die ständig tratschende und immer noch mehr wissen wollende Gruppe zu einem Italo-Salzburger, der eine köstliche Passata von Datteltomaten im Sortiment hat, und hielt sich, bevor er am Fischstand eine abschließende Runde Prosecco spendierte, nur kurz im Anselm-Kiefer-Pavillon zwischen der Kollegienkirche und dem Feststpielhaus auf, um ein paar interessante Interpretationsmöglichkeiten zu den beiden dort beherbergten Kunstwerken des großen deutschen Malers anzubieten.

Ein paar Tage später erreichte mich ein Mail von Claudio. Betreff: „Roggenbrot“. Claudio wollte wissen, was für einen Stein wir da nach Hause geschleppt hatten: „Alter Schwede! Ich hab [das Brot] gestern gebuttert, gesalzen und ordentlich Markbein aus der Rindssuppe darüber gestrichen – und ich bin noch immer nicht fertig mit Verdauen …“

Die Lösung dieser Frage wird Gegenstand einer Fact Finding Mission in die Stiftsbäckerei St. Peter sein, bald, einmal, irgendwann.

An einem anderen Abend diskutierte ich mit Gfrerer über Ironie. Das war gar nicht so einfach, wie es klingt, denn ich hatte mir als Diskussionsposition eingebildet, gegen die Allgegenwart der ironischen Abschweifung argumentieren zu wollen, die mir in vielen Lebenslagen nämlich ziemlich auf den Wecker geht, weil sie dazu führt, dass nichts und niemand ernst genommen wird.
Gfrerer tat nun etwas Diabolisches: Er nahm mein Statement nicht ernst. Er hielt es für ironisch. Das heißt, ich weiß gar nicht, ob er das tat, vielleicht brachte er auch nur seinerseits eine ironische Finte an, aber irgendwie drang ich mit meinem Anliegen nicht durch.

Es war wieder so eine Potenzial-Nacht. Wir saßen auf der Terrasse des M32, wo am früheren Abend unter einer eindrucksvollen, aus 390 Hirschgeweihen gefertigten Skulptur eine riesige Tafel gestanden hatte mit Frauen auf der linken und Männer auf der rechten Seite. Ja, wie in der Kirche. Das Thema des Abends hatten die Sterneköchin Tanja Grandits und der Ex-Ikarus-Chef Roland Trettl miteinander diskutiert – nämlich ob es eine männliche und weibliche Küche gibt und wenn ja, wie sie aussieht (und wie sie aussehen könnte). Es war eine angeregte Diskussion, die vom Hausherren Sepp Schellhorn befeuert wurde, indem er den Damen ein anderes Menü servieren ließ als den Herren, er also seine eigenen Vorstellungen von geschlechterspezifischer Küche nonverbal, nämlich stofflich in die Diskussion einfließen ließ.
• Leicht gebeizte Sardinen mit Himbeere und wilder Bachkresse
• Ochsenherztomate gefüllt mit Limetten, gebratenem Pulpo und Minze
• Bio-Alpenlachs mit gehobeltem Karfiol und Mini-Mangold in leichter Currycreme
• Leicht gegartes Kalbsfilet mit gebackenem Kalbsschlepp in Sherrysauce
• Rhabarbercreme in Schokolade

Menü Herren:
• Terrine von der Rocket-Rübe und Tataki vom Hirsch
• Cremige Polenta mit Ragout vom gebratenen Kalbsbries
• Consommé mit dem Schlepp vom Ochsen
• „Pig’s snout“ (Schweinerüssel), Kren und Wurzeln aus dem Balsamico-Sud
• Marillenpalatschinken

Fand ich ein gutes Statement von Schellhorn, der ja zu Recht für seine Innereienküche berühmt ist. Der Rüssel – weil ihr fragt – war übrigens sehr fein, ungefähr so wie ein etwas fetteres Beinfleisch, zart in der Konsistenz, reich an Geschmack. Und ja, er war als er selbst zu erkennen. Und nein, niemand brach kreischend zusammen – es gab sogar Damen, die unbedingt kosten wollten (was das vorgefertigte Fundament der Diskussion ein bisschen durcheinanderbrachte, aber nicht sehr).

Aus dem Inneren des Restaurants blickten wir hinaus auf ein Weltpanorama. Kann schon sein, dass es auch Postkarten gibt, auf denen man Festung und Kapuzinerberg und Salzach und die Kuppeln des Doms und der Kollegienkirche und den Turm der Franziskanerkirche und – was weiß denn ich noch alles – auch sieht.

Aber wenn man satt vom Essen ist, aber der Durst ist noch nicht aufgebraucht, weil es noch genug vom köstlichen Sauvignon vom Opok gibt, den Ewald Tscheppe alias Werlitsch geliefert hat, und die Gespräche werden auch nicht so schnell verstummen, weil je mehr man heute schon geredet hat, desto mehr ist heute noch immer nicht besprochen, und wenn draußen die Dämmerung einfällt und die Nacht da ist und der Mond aufgeht, und dann sind nur noch ein paar Menschen mit Gesprächsbedarf da und reden und reden – und plötzlich fragt mich der Herr Gfrerer, ob ich das ernst meine mit der Ironie.

Doch – jetzt und aus der Distanz gesprochen –, ich meine es ernst. Ernsternsternst. Wir werden die Diskussion bei Gelegenheit fortsetzen.