Jock Zonfrillo und das unglaubliche Geheimnis der Känguru-Sauce

Wie ein schottischer Koch sich nicht mit der Tatsache zufrieden gibt, dass es keine ursprüngliche australische Küche geben soll.

Text von Christian Seiler · Illustration von Markus Roost

Willst du das Nest sehen?“, fragt Jock Zonfrillo und winkt mich in die Küche. Sicher. Ich navigiere durch das Restaurant mit seinen eleganten Tischen und Stühlen, die merkwürdige Narben haben. Die Beine der Möbel sind schwarz vom Feuer. Jock hat sie angezündet. Er wollte, dass sie so aussehen wie die Baumstämme im australischen Busch, die Spuren von Buschfeuern tragen.

„Komm“, ruft Jock laut, „sie sind schon ganz wild!“

Die Küche des Sternerestaurants ist winzig. Auf der Arbeitsfläche steht eine vierzig Zentimeter hohe Plastikbox, in der sich, weich eingepackt in Küchenpapier, ein Nest von grünen Ameisen befindet, die gerade nur einen Plan haben: aus der Box in die Küche auszuschwärmen.

Abgesehen von ihrer giftgrünen Farbe besitzen die Ameisen eine imposante Statur. Die größten sind bestimmt einen Zentimeter groß. Und sie sind schnell.

„Nimm dir zwei, drei“, befiehlt Jock. „Drück sie tot. Rasch. Dann steck sie in den Mund.“ Ich töte drei Ameisen. Dann stecke ich sie in den Mund.

Ein Schock von Säure breitet sich auf meinem Gaumen aus, viel intensiver als Zitronensaft oder Essig. Dann bleibt der Geschmack stehen, tiefgründig, ein ­wenig scharf, aber auch elegant und …

„Köstlich“, sagt Jock und nickt.

Genau genommen sagt er: „Fucking delicious.“

Seine Köche fangen mit einiger Mühe die flüchtigen Ameisen ein und versorgen das Nest wieder in der Wunderkammer der gesammelten Vorräte.

Der Schotte Jock Zonfrillo ist der wichtigste Koch Australiens. Eben wurde er vom Magazin Gourmet Travellers als bestes Restaurant des Jahres 2017 ausgezeichnet. Orana ist das spirituelle Zentrum einer Bewegung, die das Erbe der ­Aborigines ernst nimmt und in nachvollziehbaren Geschmack übersetzt. Zon­frillo sorgt dafür, dass der kulinarisch-kulturelle Komplex Australiens vermessen, registriert und der Allgemeinheit zugänglich gemacht wird. Im Restaurant setzt er dieses Wissen in erstaunliche Gerichte um, die bekannte und unbekannte ­Geschmäcker auf eine komplexe, verführerische Weise zusammenführen.

Das erstaunlichste Gericht – abgesehen von den frischen Ameisen – war der Seeigel mit Markscheibe und Känguru-Shoyu. Es handelte sich um einen etwas größeren Holzlöffel, der hübsch auf einem Teller mit Kieselsteinen, schönen Muscheln und Schneckenhäusern drapiert wurde. Auf dem Grund des Löffels lag eine flache orangefarbene Scheibe vom Seeigel, auf der ohne viele Umstände ein münzgroßes angeschmolzenes Stück Rindermark drapiert wurde.

Diese Kombination – der frische Seeigel war köstlich, und die fette Markscheibe verstärkte seinen Geschmack organisch – allein war schon interessant und ungewöhnlich. Aber die eigentliche Geschichte handelt von der farblosen, geschmeidigen Flüssigkeit, die den Löffel als dritte Komponente ergänzte. Allein diese Flüssigkeit erzählt eine ganze Menge darüber, wie Jock und seine Verbündeten in der Orana-Küche ihre Vision von australischem Essen in die Hand nehmen.

Jocks Grundidee bestand darin, eine Fleischsauce zu Fischgerichten zu machen. Dafür nahm das Team übrig gebliebenes Kängurufleisch zur Seite – Jock verwendet sämtliche Teile vom Tier, das ist ein Grundsatz, den er von den Aborigines übernommen hat – und ließ es mit einer Reihe von Gewürzen in Gläsern fermentieren. Der dabei entstehende Schimmel schloss die Proteine der Kängurumuskulatur auf, das Fleisch verwandelte sich in – ganz genau kann das niemand sagen, auch Jock Zonfrillo nicht. Noch nicht: Wenn das Labor so weit ist, wird genau ­untersucht werden können, welche biochemischen Reaktionen für dieses Ergebnis verantwortlich waren. So steckte Jock in regelmäßigen Abständen seine Nase in die zahlreichen Gläser seiner Versuchsküche und zog sie ­entweder ange­widert wieder zurück – oder er bekam den starken Eindruck, dass sich hier gerade etwas sehr Interessantes ereignet.

Im konkreten Fall der Känguru-Shoyu – Shoyu ist eine aus Sojabohnen, Wasser, Weizen und Meersalz hergestellte Sauce – führte das eine zum anderen. Während langen Wochen hatte Jock das vage Gefühl, Abfall produziert zu haben. Dann vergaß er die Gläser, und als er gewohnheitshalber das nächste Mal probierte, hatte sich in den Gläsern eine geschmeidige, farblose Flüssigkeit abgesetzt, die intensiv, aber doch fein nach Fleisch schmeckte und den Seeigel und die Markscheibe ­geschmacklich in eine andere Umlaufbahn katapultierte.

Zufall? Gewiss. Aber ein Zufall, den Jock Zonfrillo erzwungen hat. Er hat auch einiges andere erzwungen, zum Beispiel, dass sein Orana als eines der besten Restaurants Australiens gilt.

Dabei ist das kleine, elegante und vielfach ausgezeichnete Restaurant, das zum Abendessen 18 bis 20 Gänge serviert, gar nicht das Herzstück von Zonfrillos Leidenschaft. Es ist im Grunde nur der leistungsstarke Motor für die Orana Foundation, die der Schotte mit dem italienischen Namen ins Leben gerufen hat, als er merkte, dass die kulinarische Kultur der australischen Ureinwohner, das Um und Auf ihrer Riten, Kulte und Traditionen, weder erfasst noch bearbeitet war und Gefahr lief, marginalisiert und vergessen zu werden.

Nun ist Zonfrillo – groß, schlank, cool, ziemlich bunt tätowiert und ausgesprochen schlagfertig – nicht gerade der Typ, der sich das kulturelle Erbe eines ganzen Erdteils auf die Schultern wuchtet – eigentlich. Er bildet kaum einen Satz, in dem das Wort „fuck“ fehlt – fucking, fucker, fuckers inklusive, nicht zu vergessen doppelfuck und triplefuck. „Ich hatte mal eine Freundin aus besserem Haus“, erzählt er. „Ihre Mutter war schockiert, als sie mich sprechen ­hörte. Sie fragte: ,Kennst du keine anderen Worte als dieses four-letter-word?‘ Ich darauf: ,Doch, Ma’m, ich kenne tausend Worte, aber FUCK kann ich einfach am besten brauchen …‘“

Fucking lustig, denke ich mir. Mit dem Mädchen blieb Jock übrigens nicht zusammen. Seine eigene
Familiengeschichte war schwierig genug, so war der Klassenunterschied nicht zu überwinden.
Jocks Großvater – „mein Nonno“, sagt Jock in seinem schweren, basalthaltigen Schottenenglisch – emigrierte aus Neapel nach Glasgow, weil ihm die Mafia auf den Fersen war. Jocks Nonno hatte sich in den Grunddisziplinen des Mob – Geldeintreibung, Schutzgelderpressung, Handel mit verbotenen Substanzen – ein kleines Vermögen verdient, das er bar in zwei, drei Koffern dabeihatte, als er – von Neapel aus gesehen – an der Peripherie der zivilisierten Welt ankam, um ein neues Leben zu beginnen.

Der Nonno hatte freilich die Rechnung ohne Scotland Yard gemacht. Als er in Glasgow ein angemessenes Stadthaus kaufen – und bar bezahlen – wollte, schlugen dessen Agenten zu. Sie hatten den Zustrom italienischer Ex-Mobster genau beobachtet und wussten, dass der Nonno in der Zwickmühle saß: Die einstigen Verbündeten, die normalerweise mit ihm auf Rachefeldzug gegangen wären, waren ihm selbst auf den Fersen.

Die Familie musste in eine winzige Einzimmerwohnung im dunkelsten Teil von Glasgow ziehen. Der Nonno kehrte zu seinen Spezialdisziplinen zurück und verdiente im kleinen Stil Schutzgeld. Seinen Sohn – Jocks Vater – ließ er lieber etwas Anständiges lernen: Coiffeur. In den Arkaden Glasgows schnitt der Papa älteren Herren die Haare. Auf der anderen Seite der Arkaden lernte er eine hübsche Coiffeuse kennen, die dort im Damensalon ihrem Handwerk nachging: Jocks Mama.

Bei seinem Nonno lernte Jock, wie eine Focaccia duftet, wie eine Tomatensauce zu schmecken hat und dass man sein Schicksal selbst in die Hand nehmen muss, wenn man zu etwas kommen möchte.

Als Zwölfjähriger arbeitete Jock bereits als Abwäscher in einer Küche, um sich ein Fahrrad kaufen zu können. Da war es nicht weit zu einer Lehre als Koch. Als er sechzehn war, verließ er Glasgow und ging nach Chester in die englische Provinz, um im Arkle, einem mit einem Michelin-Stern ausgezeichneten Restaurant, als Commis zu arbeiten. Er interessierte sich zu dieser Zeit fürs Kochen etwa genauso intensiv wie für harte Drogen.

Nach ein paar Monaten schmiss ihn der Küchenchef raus. Das Heroin wirkte sich ziemlich ungünstig auf Jocks Arbeitsleistung aus. Der Küchenchef rief Jock zum Abschied nach, er werde persönlich dafür sorgen, dass er nie wieder eine Stelle in einem Sternerestaurant bekomme.

Was Jock jetzt tat, erzählt eine Menge über seine Mentalität. Nicht zufällig hatte er sich einen Totenkopf auf den Arm tätowieren lassen und den Spruch: „Why join the navy, when you can be a pirate?“

Jock entschied sich dafür, entweder beim besten Koch des Landes anzuheuern oder sich einen neuen Beruf zu suchen.

Der beste Koch Englands war in den frühen Neunzigerjahren Marco Pierre White. Marco war nicht nur der erste Brite, der mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet wurde, der höchsten Währung der Gastrobranche, sondern ein Rockstar unter den Köchen, langhaarig, wild, schön und berühmt. Er war der Pirat in den Gewässern der ­Spitzengastronomie. Sein Kochbuch White Heat atmete den Geist von Sex, Drama und dem großen Versprechen perfekten Geschmacks.

Jock fuhr mit dem Nachtzug nach London, versteckte sich in den Bordklos vor dem Billeteur, denn er hatte kein Geld für die Fahrkarte. Unausgeschlafen und erschöpft klopfte er morgens am Personaleingang des Restaurant Marco Pierre White im eleganten Knightsbridge.

Ein Berg von einem Mann öffnete: Marco Pierre White persönlich.

„Was willst du?“

Jock stotterte, obwohl er noch nie gestottert hatte.

„Einen J-j-job …“
„Wo hast du schon gearbeitet?“

Jock überlegte einen Augenblick, ob er lügen oder die Wahrheit sagen sollte. Er entschied sich für die Wahrheit.

„Im Arkles. Ich wurde gef-f-feuert.“

Marco Pierre White bat den Jungen hinein. Dann ging er zum ­Telefon, rief im Arkles an und erkundigte sich nach Jock. Jock hörte seinen Ex-Küchenchef am anderen Ende des Drahtes aus der Haut fahren. Im Stakkato gab er Auskunft darüber, dass Jock seine Sta­tion nicht unter Kontrolle gehabt habe, immer zu spät dran war und überhaupt: ein widerlicher Typ, ein Junkie, ein Arschloch.

Marco Pierre White hängte seufzend auf. Er sah Jock in die Augen und fragte: „Glaubst du eigentlich, dass deine Mutter stolz auf dich ist?“

Obwohl Jock die Insignien des harten Kerls auf den Arm tätowiert hatte, brach er augenblicklich in Tränen aus. Die Mama. Er schüttelte schluchzend den Kopf.

Marco fixierte ihn lang, dann sagte er: „Ich gebe dir einen Probetag. Dann sehen wir, ob du kochen kannst. Ich hoffe, du hast deine Messer dabei.“

Jock hatte die Messer dabei. Er bestand den Probetag und wurde aufgenommen. Die ersten drei Monate schlief er in der Garderobe des Restaurants, weil er sich im teuren London kein Zimmer leisten konnte. Als er dabei erwischt wurde, organisierte ihm Marco ein Bett in einer Jugendherberge. Jock bewährte sich und kriegte die Heroinsucht so weit unter Kontrolle, dass er Marco Pierre White nicht enttäuschte. Er blieb zwei Jahre, dann reiste er zum ersten Mal nach Australien, um ein bisschen surfen zu gehen und das Drogenproblem endlich in den Griff zu kriegen.

Australien war ein merkwürdiges Land. Sydney war eine merkwürdige Stadt. Durch manche Straßen hüpften Kängurus. Als Jock im Restaurant 41 einen Job bekam, war er von all den Flaschen und Dosen mit japanischen und chinesischen Schriftzeichen überfordert. Was sollte der Scheiß? Sein Dreisterne-Wissen, auf das er sich einiges eingebildet hatte, war plötzlich gar nichts mehr wert.

Im 41 wurde eine Art Fusionsküche gekocht. Die asiatischen Einflüsse, die Dashis, Shoyus und Reduktionen faszinierten Jock. Trotzdem ging er nach einem Jahr zurück nach England, heuerte wieder bei Marco Pierre White an und eröffnete für ihn ein Restaurant an der Küste Cornwalls.

Dort arbeitete Jock zum ersten Mal eng mit Produzenten und Farmern zusammen. Das stand in einem seltsamen Kontrast zu den Gepflogenheiten, wie er bisher gearbeitet hatte. Hier tummelten sich lebendige Tiere auf der Weide. Dort wurden stoßsicher verpackte Hühner aus der Bresse und Lammrücken aus Neuseeland angeliefert. Plötzlich sah Jock völlig neue Zusammenhänge, und als er im Jahr 2000 ein zweites Mal nach Australien reiste, diesmal als Küchenchef des 41, begann er, sich abseits des Küchenbetriebs ein paar elementare Fragen zu stellen.

Was ist eigentlich australische Küche? Warum spricht niemand darüber? Was sind australische Produkte? Welche Tiere sind hier heimisch? Seit wann?

Und: Warum habe ich eigentlich noch nirgends australische Ureinwohner gesehen? Die Typen leben hier seit 60.000 Jahren, die müssen mir doch etwas zu sagen haben.
Jock lernte, dass die australischen Aborigines kein einheitliches Volk waren, sondern aus Stämmen und Clans bestanden, unterschiedlichste Sprachen sprachen und vielfältige Traditionen besaßen. In seinem Geschichtsbuch unterstrich er mit rotem Stift die Information, dass vor der Ankunft der Briten im Jahr 1788 bis zu 700 Stämme von Ureinwohnern auf dem Kontinent gelebt hatten, die auf archaische Weise Jäger und Sammler gewesen waren.

Allein diese Information elektrisierte Jock: Was hatten die Ureinwohner Australiens gejagt? Was gesammelt? Und wie hatten sie ihre Beute zubereitet? Wie aufbewahrt? Wie haltbar gemacht? Zu welchem Anlass aßen sie welche Speisen? Es musste eine uralte kulinarische Kultur in Australien geben, daran war nicht zu rütteln. Er begann, seine australischen Kollegen im Restaurant auszufragen.

Die Antworten ernüchterten Jock. Nicht nur, dass die Kollegen nichts wussten. Kaum einer teilte sein flackerndes Interesse für „Bush Tucker“, wie das Essen der Ureinwohner seit den Achtzigerjahren etwas abschätzig genannt wird. Man verstand darunter so was wie „Superfood“ aus dem australischen Busch, exotische Früchte, Beeren, Kerne, mit denen man die guten, alten angelsächsischen Steaks und Pies verzierte und folkloristisch aufpeppte, basta. Nichts, was den Namen „Kultur“ verdiente.

Mehr noch, Jock spürte einen trägen Widerstand gegen das Thema, den er sich nicht erklären konnte – und nicht erklären wollte. Jock stand vor einer kulturellen Hürde, die er im Grunde seines Herzens klar als rassistisch erkannte. Gleichzeitig war ihm klar, dass das Akzeptieren dieser Hürde nicht minder rassistisch wäre, auch wenn es sich dabei zweifellos um eine diffuse Mehrheitsposition handelte.

Eines Tages ging Jock zum Rocks Market am Fuße der Hafenbrücke von Sydney: buntes Treiben, Weltklasse-Panorama, Touristenspektakel. Er drückte sich durch die Massen, bis er das schäbige Wuh-Wuh eines Didgeridoos hörte und einen alten Aborigine sah, der es sich im Schatten der Marktstände bequem gemacht hatte und musizierte. Der Typ sah abgewrackt aus. Mit seiner Musik verdiente er sich ein paar Dollar für das Nötigste.

Jock sprach den Mann an.

Der hielt ihm die Hand hin und sagte: „Ich bin Jimmy.“

Jimmy lebte auf der Straße, und Jimmy war der Weise, der Jock Zonfrillo endgültig das Tor zur kulinarischen Kultur der australischen Ureinwohner aufstieß.

Sofort sprachen die beiden über Essen. Jimmy holte weit aus. Seine Sprache veränderte sich. Er sprach mit singender Poesie über Pflanzen, über Vögel, über Bäume, über Land. Er hörte nicht mehr auf zu sprechen. Sprach über das Meer, über die Jahreszeiten, in denen die Fischschwärme auf Wanderschaft gehen und wann sie am besten zu fangen sind. Er sprach über die Temperatur des Wassers und dessen Einfluss auf die Größe der Fische. Er sprach über den Wind, wann er aus welcher Himmelsrichtung kommt und was das bedeutet.

Das Erste, was Jock durch den Kopf ging, war: fuck. So eine Unterhaltung auf diesem Niveau konnte er mit keinem seiner Köche führen. Das Zweite war, dass er mit seinen Mutmaßungen über das Vorhandensein einer tiefwurzelnden Food-Tradition Australiens nicht daneben gelegen hatte, im Gegenteil: Alles schien noch interessanter zu sein.

Jimmy sprach weiter. Er erzählte, wie der Stachelrochen schmeckt, wenn die Küste blüht; dass der von Fettadern durchzogene Bauch des Rochens das beste, das kostbarste Stück sei. Man müsse es ganz langsam und schonend schmoren, in großen Pflanzenblättern auf kleinstem Kohlefeuer.

„Fuck“, sagte Jock. „Fuck, fuck, fuck.“

Diese Typen haben schon vor 50.000 Jahren, bevor wir hierher gekommen sind, erstklassig gegessen, und zwar ohne, dass sie einen Guide Michelin zur Hand gehabt hätten oder ein Jamie-Oliver-Kochbuch.

Das Gespräch mit Jimmy dauerte vier Stunden. Aufgeladen wie ein Tesla-Akku lief Jock Zonfrillo zurück ins ­Restaurant und trommelte seine Köche zusammen: Hört mal zu, boys, wir müssen uns um die Küche der Aborigines kümmern. Da ist etwas fucking Großes verborgen. Wir können einen Schatz heben. Seid ihr dabei?

„Weißt du, was das Schlimmste war?“, fragt mich Jock, als ich mit ihm und zwei Freunden bei einem Japaner in Adelaide zu Mittag esse.

Ich schüttle den Kopf.

„Keiner wollte das wissen!“

Jock macht eine wirkungsvolle Pause.

„Keine. Sau. Wollte. Das. Wissen.“

Deprimiert kündigte Jock seine Stelle. Er hörte auf zu kochen und zog stattdessen ein Importbusiness für japanische und deutsche Messer hoch, wurde Generalvertreter für „Thermomix“, ein neumodisches Küchengerät, und kümmerte sich um Ausstattungen für Cafés und Pubs.

Das fand er zwar nicht besonders interessant, dafür hatte er jetzt Zeit zu recherchieren. Jock wusste, dass bereits drei Viertel der rund 460.000 Aborigines in die Städte gezogen waren und ihre traditionelle Lebensweise aufgegeben hatten. Wenn er den Dingen auf den Grund gehen wollte, musste er sich sputen.

Sein erstes Ziel waren die APY-Lands, das Anangu Pitjantjatjara Yankunytjatjara-Land im Süden Australiens, wo etwa 2.500 Aborigines in einer selbst verwalteten Region leben. Er setzte sich in Sydney ins Auto und fuhr 2.600 Kilometer durch rotes, staubiges Land.

Die Reise dauerte mehr als zwei Tage. Du kannst hier Stunden, Tage auf schnurgeraden Straßen durch die Wüste rasen, ohne auch nur das Lenkrad bewegen zu müssen.

Erschöpft kam Jock in der Community an. Zuerst suchte er nach ­Menschen, die Englisch sprachen, damit sie ihm als Übersetzer zur Seite stehen konnten.

Dann ließ er sich beim Ältesten der Gemeinde vorstellen.

„Ich heiße Jock Zonfrillo. Ich möchte von euch lernen.“

Der Älteste sagte nur einen Satz: „Du bist hier nicht willkommen.“

Jock starrte ihn ungläubig an und wiederholte, warum er gekommen war.

Ich bin dein fucking Freund.

Der Älteste stand auf und ging.

Jock blieb nichts anderes übrig, als nach Sydney ­zurückzufahren.

Er war frustriert. Routinemäßig kümmerte er sich um seine Messer und Thermomix-Aufträge. Aber dann erinnerte er sich daran, was er in Glasgow auf der Straße gelernt hatte: Du darfst nicht nur einmal fragen. Du musst so lange fragen, bis du die Antwort bekommst, die du hören möchtest.

Wenige Wochen später brach er wieder in die APY-Lands auf, 2.600 Kilometer mit dem Jeep, nur um das nächste Mal zu hören, dass er „nicht willkommen“ sei.

Zonfrillo sagt gern über sich selbst, dass er eher die schwierigen Wege geht. Bis er aber in den APY-Lands zum ersten Mal eingeladen wurde, sitzen zu bleiben und zu sagen, warum er eigentlich wirklich hier sei, musste er die staubige Reise von Sydney noch sechs Mal auf sich nehmen. Dann hatte der Älteste den Eindruck gewonnen, dass der Typ mit der feuchten Frisur und dem bunten Arm zwar lästig, aber auch hartnäckig sei.

Das Gespräch dauerte wieder nicht lange. Wieder ­erfuhr Jock nichts Konkretes. Aber er erhielt eine Art philosophische Präambel für die künftige Zusammenarbeit. „Merk dir eines, Mann“, sagte der Älteste, „du musst mehr zurückgeben, als du dir nimmst.“

„Der Typ hat so tief in mich hineingeschaut, dass ich geglaubt habe, ich löse mich gleich in meine Bestandteile auf“, sagt Jock und wiederholt ehrfürchtig den Satz: „Mehr zurückgeben, als du dir nimmst.“
Wieder macht er seine dramaturgische Pause und unterstreicht sie mit einem feinen Lächeln, dem jeder doppelte Boden fehlt.

„Das ist mein Mantra geworden. Daran denke ich seit damals jeden Tag.“

Pause.

„Jeden. Fucking. Tag.“

Ich wandere mit Jock Zonfrillo durch die Adelaide Hills, wo sonst seine Köche ­unterwegs sind, um nachzusehen, „womit mother nature nach uns wirft“ und es fürs Orana einzusammeln. Er hat mir seine Gummistiefel geborgt, damit mir keine Viecher in die Sneakers kriechen. Er unterweist mich in der Bestimmung verschiedener Eukalyptusbäume und zeigt mir in der Krone einer speziellen Art meinen ersten Koala, der sozusagen mitten in seinem Essen ein Schläfchen macht.

Jock pflückt Macadamianüsse von einem wilden Baum, öffnet die harte Schale mit einem Stein und gibt mir den frischen, blütenweißen Kern zu kosten, der meinen Gaumen sofort mit einem hauchzarten Pelz überzieht. „Wie eine junge Kokosnuss“, schwärmt Jock, „findest du nicht?“

In seinem Wohnhaus, einem ausladenden, einstöckigen Gebäude mit Flachdach in den Hills, nimmt er seine riesige Berkel in Betrieb und schneidet einen Speck hauchdünn auf, den ihm gerade ein Bauer vorbeigebracht hat. Der Speck schmilzt fast auf der Zunge.

„Stell dir das mit grünen Ameisen vor“, sagt Jock und lacht los. „Keine Angst, nur ein Scherz.“
An der Küchentür, die direkt in den Garten führt, macht sich Jocks ungarischer Vizsla, ein kupferbraunes Prachtstück von Vorstehhund, zu schaffen. Er will ins Haus. Im Maul trägt er eine enorme Ratte, die möglicherweise noch nicht ganz tot ist.

„Guter Junge“, sagt Jock, schließt aber unauffällig die Tür, damit ­seine Frau, eine bildschöne Werberin und TV-Moderatorin, das Präsent nicht sehen muss, das der Vizsla in die Küche bringen will.

Später fahren wir mit Jocks Porsche-Geländewagen über die Straßen der Hills, von Summertown nach Uraidla und Basket Range. Hie und da bleibt Jock stehen, um aus einem Obstgarten einen Apfel zu klauen oder ein paar Nüsse einzusammeln.

Er stellt mich einer Reihe von Winzern vor, die Gentle Folks oder The Other Right heißen und hier auf eine Weise Wein produzieren, dass jeden europäischen Weinmacher der Schlag treffen würde. Die Weine sind weder von Gesetzen noch von Erwartungen eingeschränkt, sondern Ausdruck einer rauschhaften geistigen Freiheit.

Jock ist der Botschafter dieser Freiheit, und er ist ein Katalysator dafür, dass sie auf andere überspringt und Entwicklungen den Weg bahnen kann. Seit er begonnen hat, die Küche Australiens zu vermessen und auf respektvolle, innovative Weise einem großen Publikum zugänglich zu machen, ist er in die Rolle des kulinarischen Außenministers geschlüpft, inklusive eigener Fernsehshows, unzähliger Pressetermine, zwei Restaurants und dem Ehrenamt, eine Leistungsshow der australischen Küche namens „Tasting Australia“ zu kuratieren.

Dazwischen lagen nur ein paar zehntausend Kilometer Staub­straße. Jock besuchte Communitys im ganzen Land und lernte Menschen wie Patricia Marrfurra McTaggart kennen, die ihm zum Beispiel beibrachte, wie man Mangrovenkerne erntet und verwertet.

Patricia Marrfurra lebt im Northern Territory, jener Gegend Australiens, wo die englischen Siedler zuletzt ankamen und die meisten Ureinwohner, die sich noch nicht an die moderne Lebensweise angepasst haben, zu Hause sind.

Zuerst zeigte sie Jock, wo die Einheimischen seit Jahrhunderten den Busch abbrennen, um ihn neu zum Blühen zu bringen. Sie ließ ihn Sprossen und Blüten kosten, die direkt aus der Asche wachsen und, wie Jock sagt, fucking amazing schmecken. Sie brachte ihm bei, auf Bewegungen in der Asche zu achten, es könnten Death adders sein, gefährliche Giftschlangen, die diese Verhältnisse lieben. Sie lehrte ihn, den Ruf des weißen Kakadu richtig zu interpretieren, der vor sich anschleichenden Krokodilen warnt.

Sie zeigte ihm wilde Pastinaken, Sandelholznüsse, Finger-Limes, Bergpfeffer, verschiedene Lilly-Pilly-Beeren und die Strand-Sode: „Australische Ureinwohner. Wie ich.“

Oder die Buschkarotte, Vigna lanceolata, die man sehr vorsichtig aus der Erde graben muss. Jock beschreibt ihren Geschmack als „eine Mischung aus Kartoffel und ­roher Kastanie“. Fragt sich nur, wie man die Buschkarotte richtig zubereitet, um sie im Orana als eigenes Gericht servieren zu können. Ihr Inneres ist faserig und zäh. Es wird von einem süßlichen, saftigen Fruchtfleisch umschlossen, das wiederum in einer groben Haut steckt. Die Orana-Köche werden untersuchen, ob man die Buschkarotte dämpft, brät, bäckt, zu Mehl zerreibt oder zermust, oder ob man sie röstet, schabt und mit Wasser aufkocht, wie zum Beispiel Kaffee.

Die Wurzeln der Wasserlilie, die auf der Oberfläche stehender Gewässer treiben und roh wie Kartoffeln schmecken, werden im Restaurant zum Beispiel gemahlen und einer schwarzen Pfefferpaste beigemengt, die als Beilage zur gegrillten blauen Schwimmkrabbe dient. Die winzigen Perlen der Finger-Lime mischt Jock roh mit blauem Kaviar. Oder die Samen der Mangroven: Sie schmecken am besten, wenn man sie in Salzwasser fermentiert und anschließend zu einem Püree verarbeitet, zu dem die Orana-Küche am liebsten gekochtes Salzwasserkrokodil serviert, das mit schwarzen Ameisen gewürzt wird. Deren Säure ist etwas weniger intensiv als die der grünen Artgenossen.

Im Jahr 2013 machte Jock Zonfrillo die australische Küche endlich zu seinem Hauptberuf. Er gründete die Orana-Foundation und das gleichnamige Restaurant. „Orana“ heißt in der Sprache der Ureinwohner „Willkommen“.

Seither hat die Stiftung mehr als tausend Ingredienzien der aus­tralischen Küche erfasst, benannt und ihre Verwendungsmöglich­keiten katalogisiert. Sie konserviert Wissen, über das nur noch ein paar tausend Aborigines verfügen und das im Begriff ist, für immer verloren zu gehen.

Die Stiftung steht in engem Austausch mit der Universität Adelaide, dem Botanischen Garten Adelaide und dem Museum of South Australia. Insgesamt 15 Forscher arbeiten regelmäßig daran, Herkunft, Vorkommen und Saison von essbaren australischen Pflanzen und Tieren festzuhalten, jede Form von Kontext zu notieren und der Allgemeinheit zugänglich zu machen.

Die Kosten dafür trug Jock bisher aus seiner privaten Kasse. Er nahm die Aufforderung, mehr zurückzugeben als herauszunehmen, auf religiöse Weise ernst. Es spielte ihm in die Karten, dass das Orana von Anfang an große Aufmerksamkeit erhielt und dass er vom Discovery Channel für das TV-Format Nomad Chef engagiert wurde.

Als Nomad Chef wiederholte Jock vor der Kamera, was er in den australischen Outbacks unzählige Male ausprobiert und erlebt hatte. In 18 Episoden reiste er in die abgelegensten Territorien Australiens und Afrikas, um mit Ureinwohnern zu kochen. Die Show wurde in 220 Ländern ausgestrahlt. Sie machte Jock berühmt und spülte eine Menge Geld in die Kassen – „das ich echt gut brauchen konnte, um die Scheißrechnungen zu bezahlen“. Die 50-Best-Liste der weltbesten Restaurants richtete ihre Scheinwerfer auf das Orana, das Restaurant erhielt eine Auszeichnung nach der anderen. Die wichtigste Anerkennung erfolgte allerdings erst kürzlich: Im Mai erhielt Jock Zonfrillo die Zusage des australischen Umweltministeriums, die Orana-Stiftung mit 1,5 Millionen australischer Dollar auszustatten. Das heißt, dass die Arbeit in der näheren Zukunft etwas einfacher wird.

Längst hat das Orana ein ganzes Netzwerk über den Kontinent verteilter Mikroökonomien geschaffen. Wann immer Jock auf seinen Reisen zu den Communitys auf interessante Produkte stieß, versuchte er, eine Art Versorgungskette für sein Restaurant zu begründen. Als er zum ­Beispiel die köstlichen süß-herben Kakadu-Pflaumen kostete, fragte er bei seinen Konfidenten nach: Wann sind sie reif? Wie viele davon kann ich haben? Was sollen sie kosten? Ich biete das Doppelte.

Im ganzen Land werden Menschen vom Orana dafür bezahlt, dass sie ein Auge auf Beeren, Knollen, Kräuter, Früchte haben, um im richtigen Moment in Adelaide anzurufen und Jock mitzuteilen, dass zum Beispiel die Kakadu-Pflaumen von 25 großen Bäumen reif sind: Wann holst du sie ab, Mann?

Das sind Momente, in denen Jock programmgemäß aus der Haut fährt. Wäre diese Information ein paar Tage früher bei ihm angekommen, hätte er den Transport in Ruhe organisieren können. Aber so muss er noch am selben Abend ins Flugzeug steigen und nach Darwin aufbrechen, um vor Ort dafür zu sorgen, dass die scheiß Pflaumen in gutem Zustand auf den Weg gebracht werden. Und sein Team in der Küche muss sich schleunigst überlegen, was es mit anderthalb Tonnen Kakadu-Pflaumen anfängt, wenn sie nächste Woche in Adelaide ankommen, reif, duftend und schwer. „Was für herrliche ­Probleme“, sagt Jock.

An einem späten Herbsttag im Mai sitzen wir auf der Terrasse der Ochota Barrels, dem vielleicht einflussreichsten Weingut der Adelaide Hills. Taras Ochota, der Inhaber, hat lang in Punkbands Bass gespielt, bevor er auf Wein umsattelte. Gerade bedampft er die Fässer in seinem Kellergebäude mit lauter Musik von Joy Division.

Jock steht am Grill. Er hat eine geschmorte Lammschulter mitgebracht, die jetzt auf Betriebstemperatur gebracht werden muss.

In der Hand hält er ein Glas, das Taras mit Weißwein gefüllt hat.

„Mmmh“, sagt Jock, dreht sich zu mir um und lässt mich kosten.

Der Wein ist frisch und von eigenwilliger und herausfordernder Aromatik.

„Chardonnay?“, frage ich unschuldig.

„Kann schon sein“, sagt Jock, und ich sehe, wie ihm gegenüber Taras listig zu grinsen beginnt.

„Wie jetzt?“, frage ich.

Dann gibt Jock die Antwort, in der alles enthalten ist: der Staub der Landstraßen, der Rauch der Buschfeuer, die Geheimnisse der Ältesten, die rauschhafte Freiheit derer, die sich um ihre Hinterlassenschaft kümmern.

„Australien“, sagt Jock und macht eine Pause, die Taras mit seinem eckigen, zustimmenden Lachen füllt.
„Fucking Australien.“