Meine Türken­belagerung

Die Suche nach dem besten Kebap Istanbuls, und wie ich stattdessen ein Dessert kennenlernte, das direkt aus dem Himmel geliefert wird.

Meine Türkenbelagerung

Text von Christian Seiler Illustration: Markus Roost
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass euch in Istanbul ein Schuhputzer entgegenkommt, unter dem Arm sein Bankerl und die dazugehörigen Bürsten und Pasten. Könnte auch sein, dass er euch von unten in die Augen schaut und euer Kopfschütteln zur Kenntnis nimmt, dass ihr also unbeirrt weitergeht, vom Gefühl beseelt, kraft natürlicher Autorität ohne Grobheit oder Unhöflichkeit der ungewollten Dienstleistung entkommen zu sein.
Passt auf: Denn genau! jetzt! fällt dem Herrn die Glanzbürste auf die Straße, klacker, und obwohl ihr zwar unbeirrt seid und über Tonnen natürlicher Autorität verfügt, regt sich in dieser Zehntelsekunde doch das Mitgefühl, das euch über den Umweg diverser humanistischer Bildungssprengsel verabreicht wurde, ihr bückt euch, ruft dem Schuhputzer nach, „Hey, Mister!“, gebt ihm die struppige Bürste zurück, und ich schwöre euch, dass ihr nicht so schnell schauen könnt, wie euch der Mister, über das ganze, wettergegerbte Gesicht strahlend, die Schuhe auf Hochglanz poliert, aus reiner Dankbarkeit natürlich, „Du nichts zahlen, Herr“, sagt er, so dass ihr den Zehner am Schluss als Spende für die große Familie des in zahlreichen Sprachen versierten Schuhputzers abdrückt, fünf mehr als ihr eigentlich zahlen wolltet, aber zehn weniger, als der Schuhputzer euch nahegelegt hat.
Immerhin: Die Schuhe strahlen wie noch nie. Deshalb werdet ihr ein paar Schritte später auch nicht das Gefühl haben, übers Ohr gehaut worden zu sein. Istanbul ist eine Stadt der Taxis. Die Taxis sind klein und gelb. Klein, damit mehr Exemplare in die Stadt hineinpassen, gelb, damit man sie sich nicht versehentlich in die Einkaufstasche steckt. Eine kurze Taxifahrt dauert in Istanbul zwanzig bis dreißig Minuten, denn erstens sind die Dimensionen der Stadt gewaltig – die Metropolregion Istanbul hat mehr als 5.000 Quadratkilometer, die von 15 bis 25 Millionen Menschen bewohnt werden –, zweitens ist der Verkehr unberechenbar und wild. Kann sein, dass du am Sonntag in der Früh auf der Bosporusbrücke eine Stunde lang im Stau stehst, auch wenn es dafür keinen objektiven Grund gibt.
„Istanbul“, sagen die Istanbulisten und zucken mit den Schultern.
Ich war auf dem Weg zum besten Restaurant Istanbuls, als ich herausfinden musste, dass niemand dieses Lokal kannte. Auch das ist ein verbreitetes Phänomen. Du nennst einen Namen, die Adresse eines Hotels, und der Taxifahrer schaut dich an, als hättest du ihm vorgeschlagen, er soll dir im Tausch gegen eine Schuhbürste sein Auto überlassen. Normalerweise lässt sich diese Misere lösen, indem du an deinem Ziel anrufst, dem Fahrer dein Handy in die Hand drückst und anschließend das Gespräch zwischen ihm und dem Mann am anderen Ende der Leitung genießt, das eine Standortbestimmung ist, aber klingt wie ein Boxkampf. Wäre interessant, wie ein Boxkampf auf türkisch klingt …
Diesmal jedoch entpuppte sich der Fahrer als in Schwaben sozialisierter Elektrotechniker, der hervorragend, nun, Deutsch sprach und den Weg in die Kneipe unbedingt selbstständig finden wollte. Es war eine wilde Fahrt. Sie führte uns nach Kadiköy, das Brooklyn Istanbuls, in dessen Zentrum Straßen und Wege verwickelt sind wie ein Knäuel Wolle, das dir einmal zu oft auf den Boden gefallen ist. Das Taxi blieb stehen, der Fahrer flitzte in eine Bäckerei, einen Friseurladen, ein Geschäft für elektronische Geräte.
„Ciya? Nie gehört.“
„Ciya? Bist du sicher?“
„Warum Ciya? Wir kochen auch ganz süper.“
Aber er ließ nicht nach. Als wir das „Ciya“ schließlich durch den Hinweis eines Gurkenverkäufers fanden, feierte er mit uns so ausgelassen, als ob sein Lieblingsklub Galatasaray die Süper Lig für sich entschieden hätte.
Das Lokal ist unspektakulär eingerichtet und proppenvoll. An der Hinterseite steht ein Holzkohleofen. Über die ganze Breite ist ein Tresen errichtet, wo hinter Glasvitrinen die Mahlzeiten von heute zu besichtigen sind. In der Luft liegt ein süßer Duft von Tomaten und etwas Rauch vom Holzkohleofen.
Hinter dem Tresen steht der Chef persönlich. Musa Daˇgdeviren, ein gedrungener Mann mit kurzem Haar und einem mächtigen Schnauzbart, ist über die Grenzen Istanbuls dafür bekannt, sich um seltene Pflanzen und Gemüsesorten zu kümmern, der türkischen Slow-Food-Bewegung sein Gesicht zu borgen und nebenbei der begnadete Koch alter türkischer Gerichte zu sein. Nur beim Friseur nebenan hat man noch nichts von ihm gehört.
Musa beginnt mit der Vorstellung seiner Speisen bei den grünen Tellern. Es gibt Salatteller mit Seegras, Thymiansalat, Spinatsalat, Weizen mit Joghurt. Es gibt eine ganze Reihe von Wildkräutern, die man einzeln oder als Arrangement versuchen kann.
In einem bauchigen Topf aus Kupfer zieht eine rote Flüssigkeit.
Suppe vom jungen Knoblauch. Auf keinen Fall auslassen!
Daneben, in einer kleinen, geheizten Terrine, stehen kleine Kegel aus Brotteig, Pilaw. Wenn ihr noch Hunger habt …
Und natürlich Kebap in allen möglichen Variationen. Kennt ihr saures Kebap? Bestellt saures Kebap!
Ich habe selten mit so viel Entschlossenheit zu Mittag gegessen wie an diesem sonnigen Frühlingstag im „Ciya“. Mein Plan war simpel. Er bestand darin, alles zu essen.
Ich begann mit den Salaten, es war ein kryptisches Erlebnis, die klein geschnittenen und jeweils unterschiedlich angemachten Kräuter auseinanderzuklauben und ihre Aromen zu sortieren. Nicht nur, dass es deliziös schmeckte: Ich hatte noch nie auf einem einzigen Teller eine solche Vielfalt von mir bis dato unbekannten Geschmäckern vorgefunden.
Als die Knoblauchsuppe aufgetragen wurde, kam ich bereits ins Schwitzen. Diese Suppe! Sie war von samtiger Konsistenz, lauwarm. Ihre Farbe schwachrot von den Paradeisern, in denen die Stängel der jungen, milden Knoblauchknollen weichgekocht worden waren. Die Stängel – nicht die Knoblauchzehen, die für einen anderen Zweck aufbehalten worden waren – sorgten für den pikanten, aber unaufdringlichen Geschmack, nicht zu vergleichen mit den Attacken auf den Stoffwechsel, die wir uns manchmal als Knoblauchsuppe zumuten. Auf dem Boden des Tellers lag in Joghurt getränktes Weißbrot. Zwischen dem Gemüse fanden sich ein paar Brocken Fleisch, die der Komposition die richtige Portion Kraft verpassten.
Auch wenn ich vorgehabt hatte, nur ganz kleine Portionen zu bestellen, aß ich die Suppe bis auf den letzten Tropfen auf. Musa schaute mir mit vor Heiterkeit zusammengekniffenen Augen dabei zu, wie ich Tropfen für Tropfen auf meinen Löffel rinnen ließ. Hätte er für einen Augenblick den Blick von mir abgewendet, hätte ich den aus leichtem Blech geschmiedeten Teller abgeschleckt. Musa lachte anerkennend und gab seinem Kellner einen Wink: Nachschlag für den Langen. Der Lange versteht etwas von Knoblauchsuppe.
Damit begann das Verhängnis. Ich aß den zweiten Teller Suppe gierig wie den ersten. Danach verzehrte ich ein herrliches Türmchen Pilaw, dem unter der Brotkruste ein flaumiges Eigenleben von Reis, Hühnerfleisch und winzigen Rosinen innewohnte.
Ich aß ein saures Kebap, delikate Lammfleischbällchen mit Perlzwiebeln, Tomaten, in Joghurt getränktem Brot und Minze.
Von nebenan – Ciya kocht auf drei Stationen – wurde ein Lahmajoun eingeflogen, ein Stück Teig, das mit dünnen, mit Zitronensaft beträufelten Rindfleischscheiben belegt war. Ach.
Dann kam ein Spieß, von der Holzkohle leicht aromatisiertes Lammfleisch mit knuspriger Oberfläche und dem Hauch von Minze. Ich konnte nicht mehr.
Musa erkannte das Problem. Er schickte den Mann mit den Nachspeisen.
Als der Kellner eine Handgranate namens „Kerebiç“ mit einer geheimnisvollen weißen Creme vor mir auf den Tisch stellte, reckte Musa so abrupt den Hals, dass ich mir einen Augenblick nicht sicher war, ob er der Versuchung widerstehen würde, sich sein Lieblingsdessert gleich wieder von mir auszuborgen.
Sein Restaurant „Ciya“ hat Musa Daˇgdeviren zu einem Eldorado der türkischen Küche gemacht, der einfachen, geradlinigen, bäuerlichen türkischen Küche, und das ist ein Adelsprädikat. Ihn interessierte, was in Zeiten des Mangels gekocht worden war. So stieß er auf die Mischung von Milch mit Mandeln und Rosenwasser, eine Delikatesse aus Kriegszeiten. Er recherchierte in der ganzen Türkei, klaubte anatolische, syrische, persische Einflüsse auseinander, um sie umso begeisterter wieder aufzunehmen und in sein kulinarisches Vokabular aufzunehmen. Musa verkörpert die selbstverständliche Versöhnung von Orient und Okzident, in seinem Denken und in seinem Tun.
Er ließ sich von Bauern aus dem agrarischen Hinterland erklären, zu welchem Zeitpunkt ein Gemüse geerntet werden muss und wie es am besten weiterverarbeitet wird, und er kombinierte seine solide Ausbildung als Bäcker, die er als Bäckersohn im zarten Alter von zehn Jahren begonnen hatte, mit der Inspiration des späteren Chefkochs.
So entstanden unglaublich aufwändige Kreationen zwischen Obstgarten und Backstube, zum Beispiel das Dessert von grünen Walnüssen. Dafür werden Walnüsse noch unreif im August gepflückt, in Wasser mit Zitrone eingelegt und später geschält. In einer 41 Tage dauernden, komplizierten Prozedur nehmen die grünen Nüsse das Aroma von Nelkenwasser auf, in dem sie zuerst gekocht und mit dem sie später bedampft werden. Das Ergebnis ist grün und sieht aus wie eine kandierte Frucht, ist aber von einem ganz anderen Reichtum, von einer Vielfalt an Aromen, von einer Konsistenz, die eher zum Mürben als zum Gummiartigen tendiert. Natürlich, auch die grüne Nuss aß ich, so wie die kandierten Oliven, Tomaten, Kürbisse und Bitterorangen.
Dann erst die Handgranate.
Jetzt sass ich am Fenster meines Hotels und las in einem Buch. Das mag ein schlanker Satz sein, aber hinter den Worten verbirgt sich ein riesiges Fenster, das wiederum nur eines von sieben meterhohen Fenstern war, aus dem ich von meinem Zimmer hinaus auf den Bosporus schauen konnte. Prächtig spielten die Farben auf dem Wasser. Vogelschwärme formierten sich auf der Suche nach Insekten zu grafischen Mustern. Riesige Schlepper schipperten auf dem Weg zum Schwarzen Meer oder auf der Rückfahrt Richtung Dardanellen so nahe am Hotel vorbei, dass ich kontrollieren konnte, ob der Kapitän im Kommandostand auf der Brücke auf seine Frisur achtet – tut er! In keiner anderen Stadt sind die Herren so akkurat frisiert wie in Istanbul, das gilt im Speziellen für Dampfschifffahrtsgesellschaftskapitäne.
Das Hotel. Es heißt „Ajia“, türkisch für „Asien“, und liegt etwas abseits der Touristenrouten am asiatischen Ufer des Bosporus. Etwas abseits heißt, wie bereits angedeutet, etwa eine Stunde mit Taxi und Schiff vom historischen Zentrum Eminönü entfernt, aber einmal ganz davon abgesehen, dass die Reise durchaus vergnüglich ist, präsentiert sich das Ajia selbst als historisches Zentrum. Das Hotel ist ein entkernter Sultanspalast, der nach allen Regeln der Kunst in ein schickes, helles Dormatorium verwandelt wurde, und ich bekam, fragt mich nicht warum, ein Upgrade ins schickste, hellste Zimmer, und das beeindruckte selbst einen unbeeindruckbaren Kandierte-Oliven-Fresser wie mich ganz gehörig.
Platz und Ruhe. Zwei Faktoren, die nach ein paar Tagen in Istanbul ein stattliches Gewicht entwickeln.
Am Desk des Ajia empfing mich Mete. Mete ist ein stolzer Desk-Manager. Er weihte mich mit breiter Brust in die imposante Geschichte des Ajia ein, zeigte mir ein paar Zimmer mit eigens entworfenen Möbeln und jeweils spektakulär platzierten Philippe-Starck-Badewannen. Er führte mich zum Schnellboot aus dunkelbraunem Edelholz, mit dem Hotelgäste auf die andere Seite des Bosporus chauffiert werden, was zum Beispiel von Vorteil ist, wenn man im Müzedechanga, dem herrlichen Restaurant des Sakip Sabanci Müzesi, des Museums für moderne türkische Kunst, ein Abendessen einnehmen möchte (doch davon später). Mete führte mich ins Restaurant, das ebenerdig liegt und die atemberaubende Terrasse bespielt. Er zeigte mir Fotos von Blumenarrangements, die bei Hochzeitsfesten im Aija von etwa tausend Floristen zusammengestellt worden sein mussten, und er ließ mir ein türkisches Frühstück servieren, das mein Herz wärmte und meine Hose bekleckerte: warmer Schafskäse, eingelegte Oliven, aber auch herrlicher Honig, flaumiges weißes Brot, etwa sechzehn kleine Schälchen aus weißem Porzellan und kandierte Früchte, die auf einer weißen Hose rote Flecken hinterlassen.
Außerdem fertigte Mete eine ultimative Liste von Restaurants für mich an, die ich besuchen sollte. Es war gleichzeitig eine Aufstellung der schicksten Orte Istanbuls. Das Lucca fand sich darauf, ein Szenecafé mit gehobener Küche. Das 360, über das die Geschmackspolizisten von „Wallpaper“ meinen, es sei ein „Fest fürs Auge“. Das Vogue, das von derselben „Doors-Group“ betrieben wird wie das Aija, und in der ganzen Stadt für frische Sushi bekannt ist.
Wer jenes neue Istanbul kennenlernen will, das tanzt und vibriert, das den Fundamenten einer historischen Stadt eine gehörige Portion Geschmack, Design, Schick und Lebenslust hinzugefügt hat, ist mit Metes Liste fantastisch bedient.
Aber ich saß an einem von sieben Fenstern und versank in dem Erinnerungsbuch des türkischen Literaturnobelpreisträgers Orhan Pamuk, das schlicht „Istanbul“ heißt. Ich las zum Beispiel diesen Satz: „Wenn ein melancholisch veranlagter Mensch an einem nebligen Frühlingstag, an dem sich in der Stadt kein Blättchen rührt, oder in einer windlosen, stillen Mondsommernacht das Bosporus-Ufer entlangwandelt und auf seine eigenen Schritte lauscht, schließlich an einer kleinen Landzunge anlangt, etwa bei Akinitiburnu oder beim Leuchtturm vor dem Asiyan-Friedhof, und plötzlich aus all der Stille heraus das gurgelnde Rauschen der Strömung hört und die weißen Schaumkronen sieht, die in einem Licht schimmern, das er sich nicht erklären kann, dann wird es ihm nicht anders ergehen als mir (…), und verwundert wird er eingestehen, dass der Bosporus eine Seele hat.“
Seele. Plötzlich spürte ich den unwiderstehlichen Drang, dass ich der Seele dieser Stadt nachschmecken müsste.
Die Kruste des Kerebiç brach auf, und das Leuchten aus Musas Augen veränderte die Temperatur im Raum. Vielleicht war es auch die smaragdgrüne Masse, die mich durcheinanderbrachte, das gelbe Schimmern an ihren Rändern und ihre erstaunliche Struktur, die daher rührte, dass die Pistazien nicht von einer Maschine zerkleinert, sondern mit einem Messer in kleinste Teile geschnitten worden waren. Wie viele Erd- oder Walnüsse in die Masse gemischt werden, ist das Geheimnis des Kochs, genauso wie das Verhältnis von Zucker, Zitrone und Gewürzen, die der Nussmasse helfen, ihr Aroma optimal auszuspielen.
Für die weiße Creme ist übrigens Geschichtsunterricht gefragt. Ihren merkwürdig würzigen Geschmack bekommt die aus Staubzucker und Wasser hergestellte Basis von der Wurzel eines Baums, der in Antakya heimisch ist, dem ehemaligen Antiochia, der Hauptstadt des Seleukidenreichs. Antiochias Vorstadt Daphne beherbergte einige Jahrhunderte lang eine bedeutende Pilgerstätte für den Gott Apollo, die von einem weitläufigen Wald umgeben war. Die Aromatisierung einer türkischen Süßspeise mit Wurzeln aus dem Hain des Apoll darf also getrost als Manifest für die ätherische Kunst des Kochens gedeutet werden, zumal Apoll in seinem göttlichen Ministerium für Musik und Kunst zuständig war.
In diesem Bewusstsein verzehrte ich meinen Kerebiç bis auf den letzten Krümel.
Der türkische Food-Blogger Cenk Sonmezsoy behauptet auf seiner Website CafeFernando.com, dass er, wenn er ein ausführliches Mittagessen im Ciya mit einer Portion Kerebiç beschließt, noch einmal alles von vorn essen kann.
Ich möchte das bestätigen. Kerebiç essen, zwei Tage ausschlafen, da capo al fine.
Allerdings war ich nicht zum Schlafen nach Istanbul gekommen. Das war mir schon ein paar Tage vorher klar geworden, als ich gegen vier Uhr früh, es war noch stockdunkel, das Fenster zum Bosporus geöffnet hatte, um ein bisschen frische Luft zu schnappen. Schlaftrunken starrte ich in die Dunkelheit über der Meerenge, ahnte die Konturen des europäischen Ufers mehr als ich sie sah, als aus dem tiefen Schwarz plötzlich der Ruf des Muezzins erklang. Der beschwörende Gesang war von großer Magie und Schönheit, er elektrisierte mich. Ich verharrte am Fenster und beobachtete, wie das Licht des frühen Morgens die Welt sichtbar machte, und als der Muezzin schließlich schwieg, war es hell und ich war wach.
Ich strich den Zettel glatt, den ich mir im Ciya in die Tasche gesteckt hatte, nachdem ich die beschämend günstige Rechnung für sechsundzwanzig Speisen und Getränke beglichen hatte. Musa hatte mir eine Liste von Orten zusammengestellt, die er für empfehlenswert hielt, die nahm ich jetzt in Angriff.
Kräftigen Fisch aus dem Bosporus aß ich im Doga Balik, einem Fischrestaurant im obersten Stock eines kleinen Hotels im europäischen Istanbul. Patron Ibrahim Soˇgukdaˇg erfreute mich mit dem Anblick seines hellblauen Anzugs, den man ohne bösen Willen für einen Pyjama halten darf, und mit einer Auswahl interessanter Salate, die einen interessanten Boden für den puren Fischgenuss bereiteten.
Im Müzedechanga, einem architektonisch beeindruckenden Zubau zum Museum moderner türkischer Kunst, kam ich in den Genuss veredelter türkischer Speisen wie zart geräuchertem Schafkäse, Artischockenherzen mit Erbenspüree und Sauerampfer oder gefüllten Zucchiniblüten mit reifem Schafskäse und Sojasauce. Ein Stück Lachs, in Roter Bete mariniert, war das optische Highlight des Menüs, während mir beim Genuss der Wurst mit Pistazien die Tränen der Freude über die Wangen liefen, als ich die fantastisch süße rote Zwiebel im Bohnenpüree probierte. Außerdem machte der leichte, türkische Sauvignon blanc von der Kellerei Sarafin aus Saroz zum reizvoll gewürzten Essen gute Figur.
Im Pandeli, dem mit Sicherheit schönsten Lokal, das ich in Istanbul besuchte, feierte ich zuerst einmal mit einem „Efes Pilsen“, dass ich es überhaupt gefunden hatte: Es liegt am Ausgang des Gewürzbasars. Eine winzige Tür führt zu dem steilen Stiegenaufgang, der mit türkisen Kacheln prachtvoll dekoriert ist. Ich sah von meinem Tisch in der mit den gleichen Kacheln geschmückten Stube hinunter auf die Galata-Brücke, auf die Hundertschaften von Fischern, die Schulter an Schulter hinter dem Geländer standen und ihre Ruten in das Goldene Horn hängen ließen. Ich aß ein „fiifl kebap“ vom Rindfleisch, rauchig und dunkel, und eine herrliche Lammstelze mit gestampften Kartoffeln und Risi Pisi.
Es war Nachmittag, das Pandeli war fast leer. Wenige Meter unter uns schoben sich unzählige Menschen durch den Gewürzbasar, während das Pandeli schon den melancholischen Geruch der nahenden Sperrstunde verströmte.
Ich setzte mich ans Fenster, das den Blick in den von vielen Lichtern erleuchteten Gang des Basars erlaubt, und sah dem pantomimischen Spiel der Verkäufer zu, wie sie einander mit gewandten Stereotypen zu übertrumpfen versuchten. Es war interessant, sie ohne Ton zu erleben, aber ihre fast selbstironischen Bewegungen sprachen für sich: Sie luden ein, übertrieben, karikierten und sie hatten Spaß an ihrem Tun, das Gelächter nach jeder absolvierten Pirouette verriet sie. Sie waren gern hier. Ich war gern hier. Für diesen Moment gehörten wir zusammen.
Ich zahlte die Rechnung und stieg die steilen Stiegen hinunter, drückte die Tür auf und wollte mich vom Gewimmel des Bazars hinaus in den späten Nachmittag spülen lassen. Plötzlich blickte ich in ein Augenpaar, das sich direkt auf mich zu bewegte. Es gehörte zu einem Lächeln ohne Zähne, und das Lächeln saß auf den Schultern eines kleinen, krummen Mannes, der eine Holzschachtel mit den Utensilien des Schuhputzers unter dem Arm trug und fand, das ich seiner Vorstellung eines Kunden perfekt entsprach.
„Mister?“, fragte er. „Hey Mister!“ antwortete ich, und hob die Bürste auf, die ihm gerade hinuntergefallen war.
PS: Wenige Tage nach meiner Rückkehr erreichte mich ein Brief von Food-Blogger Cenk Sonmezsoy, der es geschafft hatte, unter erheblichen Mühen ein Rezept für Kerebiç aufzutreiben. Hier ist es, mit allem Dank an Cenk und Hochachtung für seine Recherchefreudigkeit:
Cenk an Christian:
1. Çiya gibt das Rezept nicht raus.
2. Dieses Rezept ist eine Mischung verschiedener Kerebic-Rezepte, ich habe versucht, dass es dem von Çiya möglichst nahekommt. Es folgt dem Antep-Stil (aus der Stadt Gaziantep), deshalb hat es Pistazien und Creme. Andere Regionen verzichten auf die Creme und nehmen statt Pistazien Walnüsse.
3. Um die Creme anzufertigen, brauchst du eine Pflanze namens Gypsophila repens. Die verdauungsfördernde Wirkung dieses Desserts ist der Creme zuzuschreiben, wenn sie mit dieser Pflanze zubereitet wurde.
4. Wenn du die Pflanze nicht findest, nimm nur Staubzucker. Geht auch.
5. Das Rezept ist nicht sehr detailliert. Sorry. Aber es ist das beste, das ich finden konnte. Hoffe, dass ich dir helfen konnte. Cheers, Cenk
Zutaten für 36 Stück
3 Eier
1 Tasse Staubzucker
1 Tasse Joghurt
1 Tasse Olivenöl
250 g flüssige Butter
1 EL Vanilleextrakt
1 TL Backpulver
4 Tassen Universalmehl
2 Tassen Grieß

Füllung:
2 1/2 Tassen Pistazien (geschält)
2 EL Staubzucker
Creme:
2 Wurzeln der Gypsophila repens
5 Tassen Staubzucker
Für den Teig alle Zutaten in eine Teigschüssel geben und mit der Hand zu einem weichen Teig verkneten. Wenn der Teig zu trocken ist, etwas Milch zugeben. Wenn er zu feucht ist, etwas Mehl. Den Teig in 36 Bällchen von der Größe einer Walnuss teilen, mit der Hand flach drücken und einen Esslöffel der Füllung darauf platzieren. Anschließend den Teig darumschließen. Wenn vorhanden, in einer Kerebic-Form pressen. Im Ofen auf Backpapier setzen und bei 180 °C so lange backen, bis das Gebäck an der Oberfläche eine goldene Farbe entwickelt.
Für die Creme: Die Wurzeln waschen. Mit vier Tassen Wasser in eine mittelgroße Pfanne geben und eine Nacht lang ziehen lassen. Am nächsten Morgen zwei Stunden lang auf kräftiger Hitze kochen lassen. Wenn notwendig, Wasser zugeben. Abgießen, den Staubzucker dazugeben und in einer Küchenmaschine mixen, bis die Creme geschmeidig und steif ist.