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In Berlin tut sich viel Neues. Bei Tag und bei Nacht. Eröffnet wird laut, geschlossen dann recht leise.

Text von Hans Mahr Foto von White Kitchen

Ein Glaserl Sauvignon blanc von Tement in der Hand, hinter ihm ein Porträt von Bruno Kreisky: Willi Schlögl, steirischer Weinfreak mit Geschäftssitz in Berlin, hat eine neue Weinbar aufgemacht – Freundschaft heißt sie. „Wir trinken hier auf die deutsch-österreichische Freundschaft!“, lacht er.

200 österreichische Weine werden in der Freundschaft in Berlin-Mitte ausgeschenkt. Für Berliner Nachtschwärmer (und die, die schon am frühen Abend unterwegs sind) gibt’s auch österreichische Schmankerln: Leberkäse vom Fleischhauer Urban aus St. Johann im Pongau, einen Rindfleischsalat mit Kernöl und Beef Tatar vom steirischen Ochsen.

Seit er aus der berühmt-berüchtigten Cordobar ausgestiegen ist (die wurde wegen Lärmklage der Nachbarn geschlossen und wird als „normales“ Restaurant Cordo weitergeführt), hat er die Freundschaft gleich neben der bekannten Prachtstraße Unter den Linden zum neuen Hotspot der Berliner aufgebaut. „In Berlin tut sich so viel, die Szene hier ist sicher die dynamischste im ganzen deutschen Sprachraum.“

Da hat er recht, der Willi. Aber wir wollen uns weniger aufs Nachtleben als auf die dynamische Restaurantszene konzentrieren. Und auch die wird von einem Österreicher angeführt. Mit seinem Horváth, dort, wo in den 70er-Jahren das Exil von Aktionist Ossi Wiener ­Furore machte, hat sich Sebastian Frank an die Spitze der Berliner Gastronomie gekocht. Seine pannonisch-internationale Küche hat er in den letzten Jahren um ein paar Retro-Ideen erweitert: Das „Butterbrot“ wird bei ihm mit Felchen-Kaviar und Kartoffelrahmcreme gereicht, das Griestascherl mit Bergkäse gefüllt, der reduzierte Saft vom Paprikahenderl als Sauce für den gegrillten Stör („Stör-Paprikasch“) verwendet, und als Hommage aufs faschierte Laberl gibt’s ein Pilz­haschee aus Kräuterseitlingen, das dem Laberl nicht nur ähnlich sieht, sondern auch ähnlich schmeckt.

Der Mann hat das Zeug zum dritten Stern, sagen sie in Berlin. Obwohl Qualität allein, das wissen wir vom roten Führer für Wien, die Michelin-Wertungen leider nicht mehr bestimmt. Sterne, Hauben, egal. Sebastian Frank ist in Berlin sesshaft geworden: „Meine Frau ist aus Berlin, die zwei Kinder wachsen hier auf, und das Haus, das wir gerade gebaut haben, ist auf 15 Jahre abzuzahlen – ich denk, ich werd wohl in Berlin bleiben!“

Natürlich ist die Spitze der Gastronomie auch in Berlin umkämpft. Wer’s asiatisch inspiriert haben will, geht zum großartigen Tim Raue, der trotz seiner zahlreichen anderen Restaurants ­meistens im Stammhaus in der Rudi-Dutschke-Straße ­anzutreffen ist. Neulich hat er gemeinsam mit Heinz Reitbauer (in dessen Steirereck hat Sebastian Frank übrigens gelernt) ein achtgängiges Menü gekocht, der Heinz mit seinem Saibling im Bienenwachs und der Tim mit seiner Wasabi-Garnele. Und Tim Raue gab vor Publikum sogar zu, dass er sich einmal ebenfalls beworben hat, im Steirereck – aber dann doch in Berlin geblieben ist. Gut für Berlin, schlecht für Wien, ­einen echten „Tim Raue“ könnten wir schon vertragen.

Der neueste Avantgarde-Vogel kommt eher aus der Wein-Welt. Billy Wagner war (und ist bis heute) ein exzentrischer Sommelier, der gemeinsam mit seinem Kompagnon und Koch Micha Schäfer das Nobelhart & Schmutzig eröffnet hat. Wie es seit dem Brooklyn Fare in New York architektonisch en vogue ist, gibt’s kaum Sitzplätze an Tischen, sondern Hochstühle an einer riesigen, hufeisenförmigen Bar. Dort werden elf aufregende Mini-Gänge mit viel Gemüse von Chicorée bis Dillblüten und Wacholder zum Verkosten gereicht – um wohlfeile 120 Euro (inklusive Wasser, sprudelnd und still). Und was sich Billy ­Wagner für die Weinbegleitung einfallen lässt, ist wie immer grandios. Die karamellisierte Vulva („Das war ein Kunstobjekt!“, sagt Billy) als Wegzehrung, die meine Frau empört hat, wurde zwischenzeitlich durch ein Canelé, eine Art französischer Mini-Gugelhupf, ersetzt.

Natürlich gibt’s auch jede Menge andere Spitzengourmetadressen in Berlin, die einen Besuch wert sind. In der Rutz Weinbar beweist Marco Müller, dass er zu Recht „Berliner Koch des Jahres“ war – im Erdgeschoß gibt’s bodenständige, aber feine Gasthausküche und im ersten Stock ­exzellentes Fine Dining. Und im Pauly Saal zeigt seit Kurzem Dirk ­Gieselmann, was er bei den Haeberlins in der Auberge de l’Ill gelernt hat: feine französische Küche mit moderner Ausprägung.

Aber was Berlin wirklich ausmacht, ist die Vielzahl neuer Lokale, die in den letzten Jahren aus dem Boden geschossen sind. Kaum ein Tag vergeht ohne Neueröffnung – aber auch kaum eine Woche vergeht, ohne dass eins der trendigen Gasthäuser wieder zusperrt. Trennen wir die Spreu vom Weizen. Das Tulus Lotrek in Kreuzberg gehört sicher zu denjenigen, die bleiben werden. Gemütliche Holztische, eine kompetente und freundliche Bedienung und fünf bis sieben bemerkenswerte Gänge vom Saibling mit Tomatenwasser über den Kaisergranat bis zum Lammtatar und -rippchen. Eindeutig der Favorit unter den neuen Gourmetadressen. Genauso wie das Lode & Stijn auf der anderen Seite des Landwehrkanals, wo zwei Holländer vier kleine Vorspeisen und vier Hauptgänge von der wilden Auster bis zum gegrillten Maibock servieren.

Das Golvet in Berlin-Mitte wiederum präsentiert die beste Aussicht auf Berlin (aus dem achten Stock auf den Potsdamer Platz) und ein aufwendiges, ein bisschen extravagantes Menü: die Jakobsmuschel mit Rhabarber, die Königskrabbe mit Kalbskopf, den Döner mit Spargel – und zum Abschluss „Grün, Grün, Grün“, ein Dessert von Sauerampfer mit grünem Spitzpaprika und Chili. Nicht süß, sondern mal was anderes.

Aber es haben auch einige Gourmet-Versuchsküchen aufgemacht, die von der Kritik wohlwollend bis enthusiastisch gefeiert werden. Mir sind die, ehrlich gesagt, ein bisschen zu ­manieriert und zu ideologisch. Das Einsunternull etwa serviert „Gerichte wie die Stadt Berlin – ehrlich, bunt, kreativ, multikulturell inspiriert und mit bodenständigem Charme“. Gut, aber selbst für den Eigentümer zu anstrengend. Im winzigen Ernst (zwölf Sitzplätze) in Wedding liegt die Speisekarte aufgrund der Nationalität des Kochs nur auf Englisch auf. Vorneweg muss man ein Ticket kaufen – um 185 Euro –, und der Chef erklärt einem Gang für Gang endlos, warum er was wie und weshalb gekocht hat. Und das Eins44 ­residiert in einem Neuköllner Hinterhof, wo sich früher eine ­Destillerie befunden hat; dort orientiert man sich an der nordischen Küche, allerdings deutsch-ernsthaft. Was es gerade an Gräsern, Samen oder Wurzeln gibt, kommt auf den Tisch, etwa bei in Fichtennadelsirup gegarter Petersilienwurzel mit Selleriestreifen.

Zurück zum Essen, das Spaß macht und ein bisschen ein­facher gestrickt ist. Im Kumpel & Keule findet man eine der besten Fleischküchen in Berlin, die Burschen holen sich tatsächlich alles aus dem Berliner Umland. Das Tatar vom Tafelspitz kommt mit Cognac und Wacholder, die Lammbratwurst mit knackigen Linsen und die Bäckchen und Entrecotes vom Schwein werden als „Doppelte Sauerei“ angepriesen. Im Herz & Niere ist das Konzept ähnlich, allerdings gibt’s dort Fleischliches auch „Nose to Tail“ inklusive Rinderlunge, Ochsenherz und Spanferkelleber. Und für den Wiener Innereien-Freak steht ab und zu auch ein Lammhirn auf der Karte. Dass auch das Gemüse vom „eigenen Acker“ kommt, wie einem am Tisch erklärt wird, macht das Kreuzberger Lokal noch sympathischer.

Apropos Gemüse und eigener Acker. Wie ein großstädtisches Versuchslabor mutet die Good Bank nahe dem Alexanderplatz an. „Vertical Farming“ nennt sich das Konzept, bei dem mitten in der Stadt auf sieben Etagen Salat und Gemüse unter LED-Licht gedeiht und – frischer geht’s nicht – direkt aus den Glasschränken auf den Teller kommt. Keine Angst, die Good Bank ist nicht nur etwas für Vegetarier, man kann auch Salad-Bowls mit Lachs oder Beef bestellen.

Da wir schon bei außergewöhnlichen Konzepten sind, die in Berlin gedeihen. Wer’s gerne futuristisch und digital hat, sollte sich das Data Kitchen-Konzept anschauen. Frühstück oder Lunch wird übers Handy avisiert, die Auswahl ist groß – vom Beelitzer Spargel mit Bärlauch über die Saiblingsrolle mit Gemüseampfer bis zum modernen Strammen Max. In der Data Kitchen wird dann alles frisch zubereitet und der Kunde über E-Mail verständigt, wenn’s fertig ist. Mit einem Code kann die Glasbox im Restaurant geöffnet und der Lunch gemütlich im 55-Sitze-Lokal verspeist werden. „Fast Slow Food“ nennen das die Gründer und danken der Software-Firma SAP für die Unterstützung. Wohl bekomm’s.

Zurück in die alte Welt. Wie New York, London oder Paris hat sich auch Berlin zu einem Zentrum des „Ethno Dining“ entwickelt. Die großen Küchen der Welt sind alle mit Spitzenrestaurants vertreten. Im Kin Dee isst man wie in Thailand, im Kochu Karu wie in Korea und im Hotspot gibt’s die beste chinesische ­Küche inklusive einer sensationellen Weinkarte. Nahöstliches findet man im Layla vom israelischen Starkoch Meir Adoni, der nach Tel Aviv und New York in Kreuzberg sein drittes Lokal eröffnet hat, oder im Prism vom anderen Israeli-Star Gal Ben Moshe, der moderne arabische Küche serviert. Und selbst Russland ist vertreten, Evgeny Vikentev hat die russische Revolution nach Berlin gebracht. In St. Petersburg wird seine avantgardistische russische Küche gefeiert, im Cell im West-Berliner Charlottenburg stehen Jakobsmuscheln mit Stachelbeeren, Heilbutt mit Ziegenmilch und das Chicken mit Wildem Knoblauch auf der Speisekarte. Im Übrigen erspart man sich den Trip nach St. Petersburg.

Und wo bleibt das echte Berlinerische, die „original Berliner Küche“? Na ja, sagen wir’s einmal ehrlich, so großartig war’s um die Kulinarik in Berlin nie bestellt. Da dominierte eher Handfestes und Rustikales. Bei meinem ersten Berlinbesuch vor einigen Jahrzehnten bin ich noch zu Heini Holl nahe dem Kurfürstendamm gepilgert. Dort gab es die besten Krautrouladen, fast armdick. Oder ein riesiges Eisbein, bei uns unter „Schweinsstelze“ bekannt. Ganz gut, aber nix für die Diät.

Der Heini Holl ist zwar tot, aber seine Küche lebt noch weiter. Zu verkosten am besten im Zur letzten Instanz an der Spree, im angeblich „ältesten Lokal von Berlin“, immerhin soll sich dort schon 1621 eine Branntweinstube befunden haben. Oder bei Radke’s Gasthaus Alt-Berlin, schon seit 35 Jahren um die Ecke vom KaDeWe, wo man meine Kohlroulade von anno dazumal „in Gedenken an Promi-Wirt Heini Holl“ offeriert.

Nach so viel Völlerei braucht man dann einen hochprozentigen Absacker. Und den nimmt man am besten – siehe eingangs – bei Willi Schlögl in der Freundschaft. Denn der Willi hat auch ordentliche Schnäpse, österreichische und deutsche, damit man die Roulade auch verdauen kann.

Freundschaft
www.instagram.com/bar_freundschaft

Cordo
www.cordobar.net

Horváth
www.restaurant-horvath.de

Tim Raue
www.tim-raue.com

Nobelhart & Schmutzig
www.nobelhartundschmutzig.com

Rutz Weinbar
www.rutz-restaurant.de

Pauly Saal
www.paulysaal.com

Tulus Lotrek
www.tuluslotrek.de

Lode & Stijn
www.lode-stijn.de

Golvet
www.golvet.de

einsunternull
www.restaurant-einsunternull.de

Ernst
www.ernstberlin.de

Eins44
www.eins44.com

Kumpel & Keule
www.kumpelundkeule.de

Herz & Niere
www.herzundniere.berlin

Good Bank
www.good-bank.de

Data Kitchen
www.datakitchen.berlin

Kin Dee
www.kindeeberlin.com

Kochu Karu
www.kochukaru.de

Hotspot
www.restaurant-hotspot.de

Layla
www.layla-restaurant.com

Prism
www.prismberlin.de

Cell
www.cell.restaurant

Zur letzten Instanz
www.zurletzteninstanz.com

Radke’s Gasthaus Alt Berlin
www.alt-berlin.de