Paradoxe Prophylaxe und andere seltene Arten

Essen und trinken, lachen und weinen in Hongkong. An der Hand von May Chow durch den tropischen Hochhausdschungel.

Text von Christian Seiler · Illustration von Roland Hausheer

May Chow steht vor einer Gänsebraterei in Hongkong Central und winkt uns zu. Es hat ungefähr 35 Grad bei einer Luftfeuchtigkeit von 80 Prozent. Wären die Hochhäuser, die hier in den Himmel wachsen, Mahagoni- oder Paranussbäume, dann würde das Bild zu meinem untrüglichen Gefühl passen, mitten im Regenwald angekommen zu sein.

Das Gute daran, nicht im Urwald, sondern in Hongkong Central zu sein, ist die Tatsache, dass May eine kultivierte Idee hat.

„Ihr habt sicher Hunger“, sagt sie, und ohne auf eine Antwort zu warten, führt sie uns zwei Mal um die Ecke, wo sich das Yat Lok, eine Art Garage mit Garküche, befindet. Gebraten wird Gans. Wie oft in Hongkong lässt das äußere Erscheinungsbild des Lokals zu wünschen übrig. Die Hütte ist grell beleuchtet, rundherum verspiegelt und mit allerhand Zetteln beklebt, auf denen chinesische Geheimnisse stehen. Natürlich verstehe ich gar nichts, außer die zahlreich angebrachten roten Kleber des Guide Michelin, der das Yat Lok mit einem Stern ausgezeichnet hat. Das ist einigermaßen verstörend, aber nein, nicht wegen der dampfenden Gans mit der knusprigen Haut, die gerade an unseren Tisch geliefert wird, die ist ein Gedicht. Das Fleisch ist zuerst mit Honig mariniert, dann angetrocknet und gebraten worden, diese Geschichte erzählt jeder Bissen.

Ich bin ja hierhergekommen, um zu lernen, und ich lerne: Auf welchem Tisch du deine Sterneküche servierst, ist in Hongkong völlig egal. Nicht die Hardware, sondern die Software entscheidet. Außerdem kannst du dir abschminken, für die Supergans eine Superrechnung zu erwarten. Sie kostet ein paar Zerquetschte, und weil ich ja gekommen bin, um zu lernen, bestelle ich noch eine Portion. Ich will trainieren, wie man die Haut am Gaumen so laut knacken lassen kann, dass May anerkennend mit der Zunge schnalzt.

Doch, es gelingt. Vielleicht wollte sie aber auch nur die Kellnerin ­darauf aufmerksam machen, dass sie noch das Huhn in einer Reisweinsauce mit Ingwer bringen soll und dann den knusprigen Schweinebauch, zum Abschluss die Geflügelsuppe mit Nudeln. Dazu gibt es Reis und Hongkong-Eistee mit Zitrone, und die Klimaanlage trocknet mit kaltem Wind den Schweiß auf meiner Stirn.

May Chow ist übrigens ein Star. Nicht nur, dass sie im vergangenen Jahr zur besten Köchin Asiens gewählt worden ist, sie betreibt inzwischen drei Restaurants in Hongkong, absolviert regelmäßig Auftritte im Food Network, lebt zusammen mit der einflussreichen Agenturbetreiberin Samantha Wong ein mindestens halböffentliches Leben und versprüht, wo immer sie gerade ist, umwerfend gute Laune, zu der sie mit ihrem kehligen Lachen auch gleich den Soundtrack liefert.

Auch ihre Biografie hat Star-Appeal. May stammt ursprünglich aus Toronto, studierte in Boston, lernte kochen, zog nach Los Angeles, wurde Privatköchin von James Cameron, bis sie 2009 nach Hongkong über­siedelte und bei Alvin Leungs Bo Innovation anheuerte. Nach ein paar weiteren Stationen kam sie auf die Idee, die ihre Karriere durch die Decke gehen ließ. Auf dem Island East Market verkaufte sie kleine, blasse Bao Buns, die wie Burger aussahen und sich augenblicklich größter Beliebtheit erfreuten. Bald eröffnete sie ein ständiges Lokal namens Little Bao in Hongkongs Soho District. Little Bao war von Anfang an überlaufen, und als sich die Gelegenheit bot, stellte May dem unterhaltsamen Imbiss ein etwas ge­hobeneres chinesisches Restaurant namens Happy Paradise zur Seite.

Ich hatte May übrigens im Steirereck kennengelernt, als sie für eine Gelinaz-Fiesta im Mühltalhof nach Österreich gereist war. Sie hatte sich schon ein paar Tage lang von Konstantin und Manuela Filippou eingewöhnen lassen, und weil das wechselseitig Spaß gemacht hatte und in der Verteilung von Einladungen nach Kalamata und Hongkong kulminiert war, wanderte ich Richtung Dominikanerbastei, um mir Mays Kontakt und ein Empfehlungsschreiben zu besorgen.

„Empfehlungsschreiben?“

Konstantin schaute mich fragend an.

„Wozu brauchst du ein Empfehlungsschreiben?“

„Weil ich in Hongkong Geleitschutz brauche“, sagte ich, nur umständlicher.

„In dem Fall“, antwortete Filippou, „komme ich mit.“

Wir befanden uns also jetzt auf einer Gruppenreise, und May schritt mit einem kleinen Schirmchen voran und erklärte uns diese aberwitzige Stadt.

Hongkong ist eine glänzende Metapher für die Dynamik der Wirtschaft und die Energie des Konsums. Die Büro- und Wohnhaustürme auf beiden Seiten des Victoria Harbour repräsentieren Stolz und Wohlstand. In Hongkong Central, dem Herzen der Sonderverwaltungszone, erstrecken sich die Logos großer Luxusmarken über ganze, großformatige Fassaden, mächtig und überdimensional. In den stets verstopften Straßenschluchten sind so viele Maseratis und Ferraris unterwegs, dass die Menschen zusammenlaufen, wenn sie einen VW Golf sehen. Für die Fuß­gänger wurden eigene Brückensysteme errichtet, auf denen sie den Straßenverkehr sicher überschreiten können – und ungestört von Shoppingmall zu Shoppingmall finden.

Erst in den etwas höher auf den Hügeln oder abseits von Hongkong Central gelegenen Bezirken der Innenstadt entwickelt sich ein gemächlicheres Stadtleben. Zwischen den Schaufenstern der Boutiquen und Antiquitätenhändler ist auch der eine oder andere windschiefe Eingang in einen buddhistischen Tempel zu sehen, wehen aromatische Schwaden vom Rauch abbrennender Räucherstäbchen.

Entlang der Schlagader aus Rolltreppen, die Hongkong Central mit den auf dem Hügel gelegenen Wohnbezirken verbindet, haben sich auch noch ein paar kleine Märkte und Essensstände gehalten, an denen Kleinigkeiten verkauft werden: getrocknete Würste, gebratene Wachteln, Teller mit Congee, Fruchtsäfte, das merkwürdige Gemisch aus Tee, Kaffee und Kondensmilch, das hier einigermaßen populär ist. Aber die fliegenden Lokale, die früher die Innenstadt beherrscht haben, sind auf dem Rückzug. Die Stadtverwaltung setzt nach dem Vorbild Singapurs auf ein sauberes – ein sehr sauberes – Stadtbild. An die Stelle von improvisierten Essensständen mit traditionellem chinesischen Essen treten immer mehr schicke Cafés, in denen man Latte macchiato schlürfen kann oder einen Aperol Spritz.

Fast alle Hotelketten mit großen Namen unterhalten in Hongkong große und höchst luxuriöse Häuser, und traditionell befinden sich dort die besten und prächtigsten Restaurants der Stadt. May erzählte ein paar lustige Geschichten über die Spezialstockwerke in den Superhotels, wo die großen Stars durchgefüttert werden, berieselt von ihrer Lieblingsmusik, mit eigenen Restrooms, damit es auf dem Klo zu keinem Auflauf kommt, weil Justin Bieber Pipi macht.

Viele dieser Hotelrestaurants präsentieren als Patrone Star­köche und westliche Küchenkonzepte. Das elegante Weltläufige ist ein ubiquitäres Leitmotiv Hongkongs, dieser reichen, aberwitzigen Stadt, die sich jeden Abend an ihrer eigenen Oberfläche berauscht, dem spektakulären Lichtermeer, das sich im Wasser des Victoria-Hafens spiegelt.
Wir saßen also in der Aqua-Bar im 30. Stock des One Peking Building in Kowloon, um uns ebenfalls an der Ansicht des Hafens zu berauschen, und weil wir schon dabei waren, tranken wir auch ein bisschen Hongkong-Bier, naschten Wasabi-Nüsse und sortierten unsere Pläne.

Einig waren wir uns darin, dass wir so viel essen wollten, wie in uns hineinpasst. Das eröffnet Möglichkeiten, setzt aber auch Limits. Mehr als zweieinhalb Mahlzeiten pro Tag sind ohne Folgeschäden nicht möglich, wenn man nicht über das entsprechende Gegengift verfügt.

Kon­stantin entschied sich als erprobter Selbstheiler für Americano, ich votierte für Gin Tonic, und ich kann vorausschicken, dass diese Prä­ventivmaßnahmen sich als äußerst wohltuend erwiesen haben.

Einig waren wir uns sowieso, dass wir die aus Paris importierten Drei-Sterne-Restaurants auslassen würden. Stattdessen wollten wir auspro­bieren, was die besten chinesischen Adressen zu bieten haben. Außerdem hatte uns May ein paar Überraschungen versprochen, wir waren neugierig.

Auf eigene Faust tranken wir Sake im Yardbird und naschten etwas frittierte Hühnerhaut, gebratene Sot-l’y-laisse und Spieße vom Hühnerfaschierten. Sake und Huhn: Das ist bereits das Konzept dieses ungeheuer lässigen Lokals in einer Straße, in der in zahllosen Geschäften getrocknete Fische jeder Art und Herkunft verkauft werden. Die Trockenfische dienen, erzählte mir mein Freund Stanley ein paar Tage später, zur chinesischen Selbstmedikation. Jedem Tier wohnen gewisse Heilungskräfte inne, man muss sie nur zu extrahieren wissen.

Wir extrahierten aus dem Yardbird erstklassige Stimmung, auf deren Kamm wir durch das schwüle Dunkel des frühen Abends zu The Chairman surften, wo May ein Menü für uns vorbestellt hatte.

The Chairman gilt – aber das erfuhren wir erst später – als modernes chinesisches Restaurant. Wir hätten es vermutlich für ein Bollwerk der kantonesischen Tradition gehalten. Aber da lagen wir falsch, denn obwohl das Restaurant gleißendes Neonlicht mit einer Innentemperatur von maximal siebzehn Grad kombinierte, aßen wir hier mit größter Sensi­bilität zubereitete Gerichte, deren geschmackliche Tiefe und Finesse ­herzerwärmend waren.

Es begann mit einem frittierten Taro Cake, der mit geräucherter Ente gefüllt war, ein Mjammjamm-Hammer zu Beginn. Es folgte der Rock Lobster in der Congee mit Fischbrühe und Spinatblättern, nicht nur gut abgeschmeckt, sondern auch von idealer Konsistenz, bissfest, an der ­metaphysischen Grenze zum Samtigen. Der gedämpfte Grouper, ein ­etwa dreißig Zentimeter langer Salzwasserfisch, der unter einem Berg ­Zwiebeln begraben auf den Tisch kam, war mit Lardo und getrockneter Mandarinenschale veredelt. Das sorgte für grelle Kontraste – und nahm ein Hauptmotiv der kantonesischen Küche auf, die für ihr Bekenntnis zum Deftigen, manchmal sogar Brachialen berühmt ist.

Das nächste Gericht war für mich der Höhepunkt des außerordentlichen Menüs: ein Taschenkrebs mit den denkbar zartesten Reisnudel­blättern und einem gereiften Shaoxing-Wein in der Sauce. Ich wartete, bis Konstantin die Sauce mit dem Finger vom Teller zu entfernen begann, um es ihm nachzumachen. Irgendwie hatten wir Angst, dass vorzeitig Schluss sein könnte mit dieser Einführung in eine chinesische Küche, wie wir sie noch nie genossen hatten.

Aber es kam eh noch ein Huhn mit grünem Szechuan-Pfeffer, Chili und karamellisierten Schalotten, nicht ausgelöst, wie es in China üblich ist, sondern fest am Knochen. Als dann der Schweinebauch-Eintopf mit schwarzen Jujube-Datteln, eingelegtem Pilz und fluffigen Buns serviert wurde, nickten wir ­anerkennend, wie gut May uns einzuschätzen wusste.
Aber es war noch immer nicht Schluss. Jetzt gab es Gemüse: Chinese Kale, lange grüne Stängel mit Fischpaste, Ingwer und Knoblauch, eine unverhohlene Aufforderung an unsere Mägen, den Verdauungsprozess anzuwerfen. Schließlich wartete noch eine voluminöse Schüssel mit Sticky Rice, Krabbenfleisch, Frühlingszwiebeln und untergerührter Sauce auf uns.

Wir machten sie fertig. Sonst hätten wir auch kein Dessert bekommen, und das waren Geleewürfel mit Hawthorn Jelly (das so ähnlich wie Sanddorn schmeckte), roter Dattel-Pudding und eine Mandelsuppe.

Jetzt, als der Tisch zum wiederholten Male abgeräumt wurde, sprach der Kellner plötzlich Englisch.

„May sagen, ihr gut essen.“

Wir nickten, zahlten und schleppten uns durch den Dschungel zurück ins Hotel.

Ein Hotel ist Heimat auf Zeit, und ich meine, dass das Grund genug ist, um bei der Wahl seiner Unterbringung sehr sorgfältig zu sein. Ein Hotel hat die Funktion einer Schleuse zwischen der Innenwelt des Reisenden und der Außenwelt, die ihn einhüllt, ­eine Außenwelt, die oft genug irritierende Gerüche verströmt und beängstigende Laute von sich gibt.
Wenn man unbedingt eine Lawine an Geld ausgeben will, kann man es sich natürlich leicht machen und ein Zimmer bei einer der weltumspannenden Luxushotelgruppen reservieren, egal ob sie jetzt Park Hyatt oder Mandarin Oriental, Shangri-La oder Intercontinental heißen. Diese Häuser, da kann man sicher sein, werden den Kulturschock des Reisens mit Bequemlichkeit und tröstlichem Service abmildern, wenn sie ihn nicht überhaupt ausradieren und zum Verschwinden bringen.

Deshalb pfeifen manche Menschen auch ganz offensiv auf die Bequemlichkeit eingeführter Orte. Sie wohnen, wenn sie reisen, in den kleinen ­Absteigen in der Bahnhofsgegend und bilden sich ein, dass der mangelnde Komfort so etwas wie Authentizität bedeutet. Auch die Generation, die ihre ersten Reiseerfahrungen als Couchsurfer hinter sich gebracht und dabei mehrheitlich gute, zuweilen aber auch ziemlich abtörnende Erlebnisse gesammelt hat, findet bei Airbnb ein weites Feld an entsprechenden Erfahrungsmöglichkeiten.
Ich kann sowohl den Grand Hotels als auch dem Couchsurfen etwas abgewinnen. Am liebsten aber habe ich Hotels, von denen es leider viel zu wenige gibt: Häuser von überschaubarer Größe, die nicht unbedingt dort liegen, wo Gucci, Prada, Hermes zu Hause sind, sondern vielleicht Fast-Food-Lokale oder Geschäfte, bei denen man selbst beim besten Willen nie etwas ­kaufen würde (weil man auf Reisen zum Beispiel keine Bürogrünpflanzen oder Badezimmerfliesen braucht).

Es sind Hotels, die vielleicht nicht allen Anforderungen genügen, an denen sich Hoteltester abarbeiten müssen, vielleicht sind ihre Foyers auch klein und ihre Lobbys überschaubar. Aber dafür stellen sie unter Wahrung des nötigen Komforts Kontakt zwischen dem Draußen und dem Drinnen her, dem Neuen und dem Rückzugsort, und sie beweisen dabei vor allem eines: Charakter. Der Charakterort, den wir uns ausgesucht hatten, lag in Wan Chai, also ein bisschen abseits des allergrößten Trubels, wobei der Trubel in Hongkong ja sozusagen Architektur gewordener Normalzustand ist.

Das Hotel heißt The Fleming. Es wurde mir doppelt empfohlen: ­einmal vom Exiltiroler Christian Rhomberg, der in Hongkong den legendären Kee Club gegründet hat und jetzt im neuen Kulturquartier von Central, einer von Herzog & de Meuron umgebauten, ehemaligen Polizeistation, ein chinesisches Grand Café namens Madame Fu aufgesperrt hat. Die zweite Empfehlung kam, richtig, von May.

The Fleming hat 66 fein geschnittene Zimmer, eine winzige Lobby und ein italienisches Restaurant im Erdgeschoß, das abends bei Bedarf in eine Bar umfunktioniert wird. Draußen Verkehr, Karaokerestaurants, zwielichtige Shows, zwei Häuserblöcke weiter fährt die doppelstöckige Straßenbahn nach Central, und obwohl der Eingang ins Haus nur ein schwarzer Korridor ist, hebt er die Laune und signalisiert: Hey, gute Adresse.

Können Sie sich vorstellen, worüber wir sprachen, als wir im Fleming angekommen waren und uns an die Bar verfrachtet hatten? Wir sprachen über das Paradoxon der nachträglichen Prophylaxe, und dass nach diesem Essen ein Americano bzw. Gin Tonic keinesfalls ausreichen werde.

Dann wurde es spät.

Wir stellten uns beim in Hongkong weltberühmten Dim-Sum-Shop Tim Ho Wan im Keller des riesigen IFC-Einkaufs­zentrums, wo auch die Flughafenbahn ankommt, in die Schlange und warteten eine Stunde, bis wir endlich an unserem Tisch saßen. In Hongkong stehen die Menschen gerne Schlange, jedenfalls, wenn sie an deren Ende eine Mahlzeit erwartet, die einen gewissen Zauber hat und nicht zu viel kostet. Dim Sum sind da eine hervorragende Idee.

Dim Sum heißt „ein bisschen Herz“. Der Name spielt darauf an, dass die berühmten Teigtaschen ursprünglich von Hausfrauen entwickelt ­wurden, die ihre Reste zu Füllungen verarbeiteten und diese „mit ein bisschen Herz“ in Teig packten und zum Tee servierten. Erst als das Dim-Sum-Essen weithin populär war, öffneten die ersten Lokale, die sich der Kunst der Hausfrauen annahmen – und sie perfektionierten.

Jedes Gericht wird erst zubereitet, sobald die Bestellung in der Küche eingetroffen ist. Nichts wird auf Verdacht oder auf Vorrat produziert. „Es geht nur um die Zeit im Dampf“, hat mir Mak Pui Gor einmal ­erklärt, der mehrere preisgekrönte Dim-Sum-Lokale besitzt, unter anderem auch das Tim Ho Wan: „Deshalb braucht jede Dim-Sum-Station ­einen Spezialisten.“

Der Dim-Sum-Meister bestimmt die Rezepturen der einzelnen Gerichte und variiert sie je nach saisonalem Angebot. Aber an jeder der tra­ditionell sechs Stationen steht ein Souschef, der die optimale Garzeit überwacht und persönlich dafür sorgt, dass jedes Gericht seine perfekte Konsistenz bekommt.

Wir fädeln uns also in das Kinderzimmer-Interieur des Tim Ho Wan ein, Sitzkomfort wie in der Economy-Klasse eines Ferienfliegers, und bestellen, was das Zeug hält. Bald kommen Berge von Dim Sum, aber wir fürchten uns nicht. Durch die Haut der Teigtaschen schimmert die Füllung aus glasigen Shrimps und dem Grün von Frühlingszwiebeln. Der Reisteig ist straff und elastisch, er präsentiert seinen Inhalt mit einer fast religiösen Attitüde von Verschämtheit und Verkündigung.

Wir essen. Halten inne. Nicken schweigend. Essen weiter. Teigtaschen, die mit Schweinefleisch gefüllt und von einer chinesischen Wolfsbeere gekrönt sind. Eine Reisteigrolle mit Leber. Eine Rindfleischkugel, die in eine Haut aus seidigem Tofu eingeschlagen ist. Schließlich die frisch gebackenen, unglaublich süßen Buns mit ihrer Füllung aus gegrilltem Schweinefleisch. Das fast schon penetrant Süße ist Ouvertüre und Kontrapunkt zu dem saftigen, bissfesten Fleisch, und die Kombination dieser kräftigen Aromen und starken Würze tritt auf wie die chinesische Küche selbst: laut, plakativ und ziemlich unterhaltsam.

Natürlich ist das nicht unsere letzte Dim-Sum-Mahlzeit. Wir essen Dim Sum bei einer anderen ­Filiale von Tim Ho Wan in Mong Kok, und sie sind mindestens so gut (und wir stehen mindestens so lange an). Wir essen Dim Sum in einer regelrechten Massenausspeisung in Causeway Bay, in einem unansehnlichen Lokal namens Din Tai Fung, und die Teigtaschen sind elegant und deliziös. Wir essen bloß deshalb nicht mehr Dim Sum, weil wir dann keine Zeit mehr gehabt hätten, etwas anderes zu essen.

Zwischendurch traf ich meinen Freund Stanley. Als Stanley hörte, dass ich nach Hongkong komme, hatte er mir per WhatsApp einen Stundenplan durchgegeben, der genau vermerkte, wann er mit mir wo zu sein vorhatte.

Er holte mich in Wan Chai ab und sagte: „Wir müssen raus aus der Stadt. Du siehst aus, als hättest du schon viel zu viele Teigtaschen gegessen.“

Wir fuhren über kleiner werdende Straßen nach Lantau Island, wo wir mit einem kleinen Boot einen Ausflug unternahmen und die absurde Baustelle der Brücke besichtigten, die ab 2019 Hongkong und ­Macau miteinander verbinden soll. Das Besondere an dem Mammutprojekt ist, dass die himmelhohe Brücke in der Mitte des Meeresbeckens hinunter in einen Tunnel führt, der das Meer frei macht für die gigantischen Transportschiffe mit ihren Containertürmen, die nicht unter der Brücke durchpassen würden. Die Verbindung Hongkong–Macau wird also Autofahrern mit Höhenangst genauso etwas zu bieten haben wie solchen mit Klaustrophobie.

Stanley zeigte mir den Tian Tan Buddha, die gigantische Buddha-Statue bei Ngong Ping, dann beschloss er, dass ich eine Mahlzeit verdient habe. Wieder steuerten wir einen buddhistischen Tempel an, diesmal die Ling Yan Monastery. Dort gab es für ein paar Münzen Mittagessen, selbstverständlich vegetarisch und, wie es bei buddhistischen Tempelmahlzeiten üblich ist, ohne den Geschmack von Knoblauch und Zwiebelgewächsen.

Es war ein herzerwärmendes Essen, eine pürierte Bohnensuppe, Bambussprossen mit Lotuswurzeln und Pilzen, gebratener Tofu, Pilze mit Paprikaschoten und Ananas. Ich aß alles auf, weil mir Stanley mit dringlicher Stimme mitgeteilt hatte, dass die Gastgeber im Tempel erwarten, dass alles, was man bestellt hat, auch seiner Verwendung zugeführt wird. Essen zurückzuschicken, sei nicht möglich. Also fühlte ich mich auch nach der leichten vegetarischen Mahlzeit, als hätte ich gerade eine ­Schneise durch das gesamte Angebot des Tim Ho Wan geschlagen.

Ein ganz besonderer Augenblick gelang, als wir in May Chows Happy Paradise den Empfehlungen der Chefin folgten. Wir hatten tags zuvor im Little Bao das Gesamtverzeichnis der witzigen grellen Bun-Kreationen durchprobiert: kleine blasse Burger Buns mit Schweinebauch, Fisch-Tempura oder frittiertem Szechuan-Huhn, aufgerüstet mit mazerierten Zwiebeln, Gurken und einer Sauce, die auch beim zweiten Waschgang hartnäckig Zeugnis für ein Essen ablegt, das schnell verzehrt und nebenan, in der auf 15 Grad heruntergekühlten Celebrity-Bar The Old Man, nachbesprochen werden musste, bis sich die 15 wie 25 Grad anfühlten.

Mays chinesisches Bistro Happy Paradise ist da ein anderes Kaliber. Die Hütte ist dunkel und von den bunten, grellen Farben einer Wandinstallation aus ­Neonröhren durchflutet. Ziemlich laute, ziemlich coole Musik, und May, die ein enges schwarzes T-Shirt mit dem Happy Paradise-Logo trug, servierte, was die Karte hergab: Eine kalte gedämpfte Eiercreme mit Ingwer, Okra und Schalottensaft. Sauerteigwaffeln mit Bottarga, Zwiebeln und Schnittlauch. Salatstämme mit zu ­Nudeln geschnittenem Tintenfisch und junger Kokosnuss. Rindszungensalat mit scharfem Soja, Jicama, eingelegtem jungen Ingwer und einer Sauce von angebratenen Schalotten. Sautierte Garnelen mit gebratenem Kürbis, einem dichten, köstlichen Fond, getrocknetem Garnelenrogen und Krabbenöl. Muscheln mit weißer Pfeffersauce, chinesischem Sellerie und Koriander. Das scharfe panierte Szechuan-Hühnchen.
Am Schluss kam die in Tee gedämpfte und dann gegrillte Taube. Sie war knusprig, köstlich gewürzt und so appetitlich duftend, dass bald nur noch ihre letzten Hinterlassenschaften auf dem Teller lagen: Hals, Kopf und Krallen.

Aber statt die Reste wegzuräumen, setzte der Kellner zu einem kleinen Referat über verborgenen Geschmack an. Bei der Taube zum Beispiel befinde sich der beste Bissen genau hinter dem Schnabel: das Hirn.

„Und wie …?“, fragte ich etwas eingeschüchtert.

„Schnabel knacken und saugen“, sagte der Kellner.

Da ein Vogel nur ein Hirn hat, überließ ich meinem Sitznachbarn den Vortritt. Er hätte mich sonst auch in die Hand gebissen.

Jetzt öffnete er den Schnabel der Taube so weit, bis es knackte, beugte sich dann über sie, als wolle er sie küssen, saugte kräftig an – und bekam einen ziemlich verklärten Blick.
„Süß“, sagte er, und ich dachte zuerst, er meint die bestandene Mutprobe, aber er meinte den Geschmack des sämigen Bissens. Dann wechselte er einen tiefen Blick mit dem Kellner. Der Blick enthielt alles: Danke, du Fuchs; gern geschehen, mein Freund. Ohne, dass wir einen bestellt hätten, bekamen wir zur Verdauung den unglaublich steifen 5 Spices Gin and Tonic.

Manchmal saßen wir abends an der Bar des Fleming. Manchmal saßen wir in anderen Bars, vorzugsweise sechzig bis hundert Meter über dem Straßenniveau, Blick auf den verschwenderisch illuminierten Hafen und die Skyline, die ihm Halt gibt, nur durch eine Glasscheibe vom Abgrund getrennt, mit den Gedanken beim offensichtlichen Verschwimmen von Wirklichkeit und Fantasie.

Tagsüber streunten wir durch Wan Chai, Causeway Bay und Kowloon, es verschlug uns bis nach Mong Kok: Stanley nahm uns mit auf einen erstaunlichen Blumenmarkt, und an einem Abend führte er uns durch ein Labyrinth aus Autobahnbrücken zu einem japanischen Buffet in einem Lokal namens Noah’s Arc, das nicht nur so hieß, sondern auch aussah wie ein Schiff.

Die besten Americanos bzw. Gin Tonics bekamen wir im Ronin, einer japanisch angehauchten Gastrobar, die hinter einer namenlosen Tür verborgen war, sodass ich zwar zum vereinbarten Zeitpunkt an der vereinbarten Adresse war, aber den Eingang nicht fand, während Konstantin mit dem untrüglichen Instinkt des Gastronomen längst am langen Counter saß und sich Americano-mäßig einen gewissen Vorsprung verschaffte.

Wir aßen im Ronin übrigens prächtig. Der kanadische Koch Matthew Abergel, der das Lokal auf die 50 Best-Liste Asiens gekocht hat, erwies sich als echter Feinmechaniker des Abschmeckens und produzierte die wahrscheinlich gelungenste Synthese aus Tradition und Modernität. Er schickte uns einen raffinierten Salat aus Seetang und Gewürzen, dann ­eine Shigoku-Auster mit Kumquat-Essig und Yuzu, die von einem eingelegten und pochierten Kumquat-Stückchen gekrönt war. Vier Fische kamen nur leicht veredelt als Sashimi – eine Bernsteinmakrele mit Sesam, eine Saba-Makrele, eine lokale und eine Itoyori-Seebrasse, alle charaktervoll in ihrer Konsistenz und dem mit wenigen Handgriffen perfekt zur Geltung gebrachten Geschmack. Eine Masse aus Jakobsmuscheln und Ebi-Shrimps war in ein Shisoblatt eingeschlagen und als Tempura frittiert, und dünne Scheiben vom Kagoshima Beef – unerhört rosa, unerhört marmoriert – wurden elegant mit Maitake-Pilzen, einem Eidotter und dem hauchdünn julienne geschnittenen Weiß einer japanischen Winterzwiebel angerichtet, während ein robustes Dashi für Halt und Kontrast sorgte.

Gleichzeitig kümmerte sich der Bartender – schlank, kerzengerade Haltung, Buster-Keaton-mäßig ernste Miene – mit fanatischer Aufmerksamkeit um uns. Er wählte mit strengem Blick den richtigen Sake aus, rührte noch einen Americano an – den besten Americano übrigens, den irgendwer in Hongkong je angerührt hat –, schenkte Wasser in eisgekühlte Gläser ein und erinnerte uns mit der aristokratischen Schwere seiner Bewegungen da­ran, dass Gastgeberschaft zwar ein Privileg, aber auch eine majestätische Pflicht ist.
Ich mochte das Essen im Ronin sehr. Fast hätte ich es auf Platz eins meiner internen Hongkong-Hitparade gesetzt, hätte May Chow nicht ihre Freundin Agnes Chee gebeten, für uns ein Menü im Seventh Son zu bestellen. Seventh Son ist ein Traditionsrestaurant in Wan Chai, das kantonesische Küche in Reinkultur ­zelebriert, einmal mehr übrigens in Räumlichkeiten, die für jede Staatsratssitzung der DDR einen würdigen Rahmen abgegeben hätten.

Die Klimaanlage ließ schmerzhaft kalte Luft einströmen. Das Licht war gleißend hell wie in einem Operationssaal. Aber das Essen war eine einzige Party.

Sämtliche Gerichte, ohne Ausnahme, waren herausragend. Sie wurden sukzessive aufgetragen und auf unserem großen Drehtisch um die Welt geschickt. Die Party begann mit Dim-Sum-Teigtaschen, die mit Krabben und Schweinefleisch gefüllt waren. Auf sie folgten knusprige Shrimps-Gemüse-Dumplings, dann kamen Reisrollen mit einer chinesischen Brokkoliart, von der vor allem die Stängel Verwendung finden.

Dann der erste Höhepunkt: gekochte und mari­nierte Schweineohren, die wie eine Blume angerichtet wurden und die leichte Säure des mit Essig versetzten Kochwassers reflektierten. Den Schweinsohren folgte gegrillter Aal, über den Agnes eine interessante Geschichte erzählte. Die Zuchttiere werden, bevor sie ­gefischt werden, zwei Tage nicht gefüttert, damit ihr Fettanteil sinkt.

Dabei hatte der Koch durchaus ein Faible für Fett. Er grillte einen ganzen Schweinenacken und schnitt ihn anschließend in lange Streifen, die unterschiedlich fett, knusprig und salzig waren.

Dann kam ein zweiter Höhepunkt, der den fanatischen Hang der Chinesen zu interessanten Texturen deutlich machte. Ein Teigwürfel war mit Suppe getränkt worden, bis er keine Flüssigkeit mehr aufnehmen konnte. Dieser Suppenwürfel kam dann in den Tiefkühler. Anschließend, als er fest war, wurde er paniert und frittiert, sodass er außen knusprig und innen von einer merkwürdigen Zwischenkonsistenz war, weder fest noch flüssig. Ich mochte das. Andere am Tisch ekelten sich vor der Konsistenz ein bisschen.

Jetzt kam das spektakulärste Gericht: ein Spanferkel, dessen Leben maximal ein paar Tage lang gedauert haben konnte. Die Haut war in kleine Rechtecke geschnitten worden, sodass man sie jetzt – heiß, würzig und knusprig – abnehmen konnte und mit weichen weißen Teigrechtecken von passender Größe – sie waren aus Bun-Teig gebacken, der sich ganz ähnlich anfühlte wie der Teig von Tramezzini – zu Sandwiches zusammenlegen und verzehren konnte. Als Komplementärgeschmack dazu stand eine tiefschwarze, aus Meeresfrüchten reduzierte XO-Sauce auf dem Tisch und etwas saures Gemüse.

Das Schwein war mariniert, gekocht und schließlich am Spieß gegrillt worden. Es wurde jetzt Schicht für Schicht verzehrt, zuerst die Haut, dann die hauchzarte Fettschicht mit dem zarten Muskelfleisch, wobei uns Agnes davor warnte, „den Magen zuzumachen“, denn der Chef – mit dem gemeinsam sie ein Standardkochbuch der kantonesischen Küche geschrieben hatte – war noch lange nicht fertig mit uns.

Es kamen zuerst gekochte und dann frittierte Taubeneier mit Brokkolistängeln und weißen Bambuspilzen, und wieder war die Konsistenz der springende Punkt: Die Eier sahen aus wie kleine Schwämme und fügten sich mit den schlüpfrigen Pilzen zu einem Ensemble der Zwischenkonsistenz. Die Chinesen fahren voll darauf ab, und wir machten uns langsam damit vertraut, und wirklich viel ließen wir auch nicht übrig.

Aber das Eiergemüse war nur die Ouvertüre zum nächsten Hauptgericht, denn jetzt hatte der Chef noch eine Ente für uns eingebraten, gegrillt und glaciert. Weil ihr fragt: Der Kopf war dabei, aber der Schnabel war angeschnitten, und es kam nicht zum „kiss of death“ wie im Happy Paradise.

Das Menü endete mit einer köstlichen Suppe mit Tofuhaut und samtigen Nudeln. Direkt aus dem Dämpfer kamen dann rote Dattelwürfel, das erste von drei Desserts. Das zweite waren Törtchen mit einer Enteneiercreme und am Schluss die schwarze Sesamrolle, wie das passende Satzzeichen, das diese großartige Erzählung chinesischer Kochkunst beendet.

Als wir später an der Bar wieder mit para­doxer Prophylaxe beschäftigt waren, schlug ich vor, wir könnten uns doch ausrechnen, wie ­viele Gerichte wir pro Tag gegessen hatten.
„Vergiss es“, antwortete Konstantin traurig und bat den Kellner um ein paar Nüsschen. „Der Schnitt war vielleicht ganz okay. Aber ­unterm Strich war es viel zu wenig.“
Das war der Moment, als wir uns entschlossen, nicht zurück nach Wien zu fliegen, sondern in die Gegenrichtung.

Yat Lok
G/F, 34–38 Stanley Street, Central,
Tel.: +852/2524/38 82

Little Bao
www.little-bao.com

Happy Paradise
www.happyparadise.hk

Yardbird
www.yardbirdrestaurant.com

The Chairman
www.thechairmangroup.com

Tim Ho Wan
www.timhowan.hk

Ronin
www.roninhk.com

Seventh Son
www.seventhson.hk

Aqua
www.aqua.com.hk

The Fleming
www.thefleming.com