Plötzlich diese Übersicht

Ein Abstecher nach Venedig im Sommer samt bunten Getränken, den letzten Kreuzfahrtschiffen, einer aufregenden Biennale, Ennui auf der Giudecca und Essen von beglückender Tiefe.

Text von Christian Seiler/Illustration von Markus Roost

Für mich gehört es zu den erhebenden Momenten in Venedig, auf der Fondamenta Sant’ Eufemia zu sitzen, in einer kleinen Bar, die sich in einer Anwandlung von Größenwahn den Namen Osteria da Moro gegeben hat, obwohl sich die Nahrungsmittel, die hier aus der Küche kommen, in der Regel auf eine Handvoll Chips beschränken, die zu überdimensionalen Campari-Spritz-Getränken serviert werden, und die jenseits des breiten Giudecca-Kanals gelegenen bunten Fassaden von Zattere zu betrachten, rechts die alten Lagerhäuser nahe der Punta della Dogana, direkt gegenüber das monumentale Portal von Santa Maria del Rosario (Gesuati), dabei den zweiten Campari Spritz zu trinken, übrigens einen ganz hervorragenden Campari Spritz, die unvermeidlichen Chips zu snacken, obwohl ich weiß, dass ich das nicht tun sollte, weil ich beim Abendessen noch hungrig sein möchte, und in mein Notizbuch Sätze zu schreiben, die so lang sind, dass ich mehr als eine ­Seite Platz für sie brauche.

Ich höre schon damit auf. Ich möchte nur die Stimmung beschreiben, die sich auf der Giudecca breit macht, selbst wenn drüben in San Marco die Touristenlawinen abgehen (Anmerkung: von Lawinen keine Spur, erhöhtes Aufkommen, nicht mehr, sehr angenehm). Die Giudecca umweht ein leiser Hauch von Ennui, jener köstlichen Langeweile, die der dänische Spezialist ­Søren Kierkegaard in seinem Versuch einer ­sozialen Klugheitslehre so erklärt: „Im Anfang war die Langeweile. Die Götter langweilten sich, darum schufen sie den Menschen. Adam langweilte sich, weil er allein war, darum wurde Eva erschaffen. Und von diesem Augenblick an war die Langeweile in der Welt und nahm zu im geraden Verhältnis zur Zahl der Menschen. Adam langweilte sich allein, dann langweilten sich Adam und Eva zu zweien, dann langweilten sich Adam und Eva und Kain und Abel en famille, dann wuchs die Menge der Menschen auf Erden, und sie langweilten sich en masse.“

Die Langeweile, die auf der Giudecca herrscht, ist in jeder Hinsicht köstlich. Man braucht ein paar Tage, um ihr aufrecht zu begegnen und sie zu verstehen. Nur, wer bereit ist, sich auf der Fondamenta Sant’ Eufemia dem Nichtstun und dem kleinen Schwindelgefühl hinzugeben, das man in Venedig gratis zum Vaporettoticket geliefert bekommt, erkennt ihren Reiz. Die Alten, die sich in den – übrigens großartigen – Geschäften mit Gemüse, Brot, Fisch und Fleisch versorgen, einander treffen, sich zum Quat­schen auf die Sessel der Osteria setzen, ohne etwas zu bestellen. Die Trankler, die am mittleren Vormittag eintreffen, den Kaffee überspringen und sofort zum Prosecco greifen und spät am Nachmittag, wenn ich von meinen Exkursionen zurückkomme, immer noch da sind, scheinbar unverändert, das Glas ist schon wieder immer noch halb leer, nur der Aschenbecher vor ihnen ist voll.

Abends verändert sich das Bild, wenn die Osterien am Wasser zu servieren ­beginnen und die Abendgäste mit dem Vaporetto von Zattere oder San Marco kommen – ausgenommen die Gäste von Harry’s Dolci natürlich, die kommen in der Regel mit dem Motorboot und ­werden von weiß livrierten Kellnern in Empfang genommen und an ihren Tisch gebracht. Natürlich habe ich ein paar Mal auch in diesem Ableger von Harry’s Bar gegessen. Aber während mich am Originalschauplatz in San Marco noch nie der Gedanke befremdet hat, dass ich um den Gegenwert dieser Mahlzeit an anderen Orten – ich werde gleich von ihnen erzählen – zwei oder drei Mal essen könnte, empfinde ich hier, auch wenn der Blick auf die Stadt berückend und der Service heiter und zuvorkommend ist, eine leichte Schräge im Verhältnis von Preis und Wert.

Nur an einem Nachmittag war mit der Langeweile Schluss. Ein Schwarm von Schleppern zog nämlich eines jener Untiere durch den Giudecca-Kanal, die während Corona für anderthalb Jahre die Stadt verschont hatten und erst ein paar Wochen vor meinem Besuch wieder begonnen haben, den Hafen von Venedig anzusteuern. Der Saurier war ein Kreuzfahrtschiff der Musica-Klasse und hieß MSC Orchestra, und selbst die Menschen, die mir in den Tagen ­zuvor als die Gleichgültigkeit selbst erschienen waren, standen jetzt am Pier, pfiffen und deuteten mit ihrem Daumen nach unten – ein Zeichen, das ich selbst unter den Umständen fortgeschrittenen Ennuis als kritisch interpretieren würde und das mit den zahlreichen Plakaten an Privathäusern und Fenstern übereinstimmte: No grandi navi. Keine großen Schiffe.

Inzwischen hat sich das Blatt gewendet. Im Juli verbot Ministerpräsident Mario Draghi allen Kreuzfahrtschiffen ab einer gewissen Größe die Einfahrt zum Hafen Venedig per Dekret. Auf der Fondamenta Sant’ Eufemia wird es also in Zukunft noch ein bisschen weniger aufregend sein, und das ist eine sehr gute Nachricht.

Ich absolvierte schüchtern meine Runden in Venedig. Ich hatte mich vor meiner Anreise nur um die zwei obligaten Reservierungen, für die es kurzfristig in der Stadt in der Regel zu spät ist, gekümmert und hätte dabei fast die neuen Regeln der Osteria alle Testiere übersehen, bei der man nicht nur reservieren und auf die Bestätigung warten, sondern die Bestätigung bis 24 Stunden vor dem vereinbarten Zeitpunkt noch einmal rückbestätigen muss, worauf man eine Rückbestätigung der Rückbestätigung bekommt. Klingt insgesamt schon ziemlich japanisch.

Ich greife vor. Neben Alle Testiere hatte ich natürlich in meinem vene­zianischen Lieblingslokal Antiche ­Carampane einen Tisch bestellt. Ich habe mich in dieses Lokal Hals über Kopf verliebt, vor allem seit ich dort die ewigen Spaghettini alla granseola gegessen habe, die vielleicht beste Übereinstimmung von Meeresfrüchten und Pasta meines Lebens. Als ich mir einmal vorstellte, wie der kulinarisch perfekte Tag in meinem Leben verlaufen müsste, fiel mir (nach Frühstück im Fäviken, Lunch bei Biquet im südfranzösischen Leucate, Tee in der Zürcher Kronenhalle) kein besserer Ort ein als dieses winzige Restaurant zwischen Rialto und Ferrovia, dessen Motto „No lasagne, no pizza, no menu turistico“ lautet. Zuerst, fantasierte ich, müssten es die Spaghettini alla granseola sein, diese ­anbetungswürdig geschmeidige Pasta mit Meeresspinne und Chiliflocken, dann die Tagliolini coi zotoi mit den kleinen Tintenfischen (und ja, ich weiß, dass man zum Abendessen selbst in Italien nicht zwei Mal Pasta bestellt. Aber warum eigentlich nicht? Es ist mein perfekter Tag, und der braucht zwei Portionen von diesen Nudeln). Rotwein dazu, bis die Backen glühen, und dann ja ­sagen zum Tiramisu, denn auch das gibt es nirgendwo besser. Noch mehr Rotwein und dann zur unhörbaren Melodie von Paolo Contes Una giornata al mare durch die Gassen tanzen, bis irgendwo eine Bar offen hat, wo ich den ersten Grappa seit Jahrzehnten trinke.

Ist natürlich eine gewisse Hypothek, wenn man mit solchen Fantasien nach zwei Jahren Pause wieder ein Wirtshaus besucht. Aber ich greife schon wieder (oder noch immer) vor.

Zuerst zog es mich an die Orte, wo es keine Reservierung braucht und keine Rückbe­stätigung einer Rückbestätigung. Zum Beispiel verfügte ich mich zur Weinhandlung Già Schiavi an der Fondamenta Nani, an ihre lange Theke mit der Vitrine, die voller Cicchetti liegt, handgefertigt von Signora Alessandra höchstpersönlich, die ein Brötchen nach dem anderen schmiert, mit Baccalà mantecato, Kürbiscreme, mit Sardinen, mit Schinken und Artischocke, Mortadella und Pilzen, Ricotta und Chili, irgendwo war sogar einmal Trüffelöl dabei, was ich grundsätzlich kritisch sehe, aber im konkreten Fall okay fand, weil sämtliche Brötchen so frisch und knusprig und mollig und yummie waren, dass mir das bisschen Over-the-Top völlig egal war.

Die Snacks wurden von den zahlreichen Gästen übrigens keinesfalls im Inneren der hübschen Weinhandlung eingenommen, sondern allesamt draußen am Ufer des Kanals, weshalb auch die ­Getränke – ich entschied mich für den leichten Hauswein aus dem Veneto – in Becher und nicht in Gläser abgefüllt wurden. Aus Gründen, vermute ich. Das machte die Sache nicht unbedingt elegant, und wenn ich noch ein bisschen nörgeln soll, auch der Preis der Cicchetti wurde angehoben, allerdings nur von 1 Euro auf 1,50. Das Vergnügen kann sich also allemal jeder von uns leisten.

Sicher, ein Geheimtipp ist die Enoteca nicht mehr. Ich erröte noch immer über die Peinlichkeit, als ich vor ein paar Jahren als Novize anrief, um einen Tisch zu bestellen, und der empörte Mann am Telefon in den Hörer brüllte, dass ich ihn nicht verarschen möge, sie hätten doch keine Tische.

Aber das Erlebnis ist ungebrochen: auf den Stiegen der Ponte San Trovaso sitzen, die besten Sandwiches essen, die man bekommen kann, dazu zwei, drei, ähm, Becher Wein trinken, den Möwen zusehen, die auf unbeobachtete Cicchetti spitzen, und die Sonne spüren, das Salz, den Geruch des Wassers, den Sound von Venedig. Nichts wird mich davon abhalten, immer und immer wieder hierher zurückzukehren. Dass der Weg entlang des Rio de San Trovaso die beste Schneise von Zattere, der Anlegestelle, wo die Boote von der Giudecca landen, in Venedigs Zentrum darstellt, ist dabei ein günstiger Zufall. Wenn das jetzt danach klingt, dass ein Abend in Venedig damit beginnt, ein, zwei überdimensionale, bunte Getränke auf der Giudecca zu trinken, anschließend bei Già Schiavi einen zweiten, dritten und vierten Aperitif zu nehmen und die Cicchetti durchzuprobieren, also vor dem Abendessen bereits gegessen und getrunken zu haben und mit mindestens einem Damenspitz im Abendlokal einzulaufen – da ist was dran. Aber bekanntlich gibt es ja zum Frühstück nur Kaffee und allenfalls ein mit Marmelade gefülltes Cornetto. In Summe also alles im grünen Bereich.

Das Abendessen empfiehlt sich, in der Cà d’Oro alla Vedova einzunehmen. Dort kann man zwar am Tresen Kleinigkeiten verzehren, aber es wäre schade um die warme Mahlzeit.

Da ich am ersten Abend keine ­Reservierung hatte, suchte ich ein Wirtshaus auf, das ich nur vom Stehen an der Bar kannte: die Osteria Cà D’Oro alla Vedova, ein Stückchen hinter Rialto in Cannaregio, am Ende einer kurzen engen Gasse gelegen und sowohl mit einer mächtigen Theke als auch mit einem anbetungswürdigen Terrazzo-Fußboden ausgestattet.

An der Bar empfing mich ein junger Typ mit bunten Armen, der ein wenig abgekämpft aussah.

„Prego?“

Ich erklärte ihm, dass ich gern essen möchte. Er fragte mich nach meiner Reservierung. Ich antwortete, dass ich nicht reserviert hätte und nicht wusste, dass man auch hier reservieren müsse. Er seufzte.

„Una minuta.“

Es dauerte eine Viertelstunde, aber dann bekam ich mein Tischlein, und weil es inzwischen schon spät und ich ernsthaft hungrig war, bestellte ich zur Vorspeise die marinierten Meeresfrüchte, dann die schwarze Pasta und schließlich das Fritto misto, dazu eine Flasche Friulano von Livio Felluga, und ich kann nur eines sagen: Ich wurde von Anfang bis zum Schluss positiv überrascht. Die Meeresfrüchte waren mild und von perfekter Konsistenz, veredelt, aber nicht vermatscht. Die schwarze Pasta war von einer beispiellosen Tiefe, ich versuchte, den Geschmäckern, aus denen sich der tiefschwarze Sepia-Sud zusammensetzte, auf den Grund zu gehen, stieg aber irgendwann aus, als sich noch eine weitere und noch eine Bassnote offenbarte, um das traditionelle Gericht einfach zu genießen. Das Fritto misto schließlich kam noch tanzend vom Feuer direkt aus der Küche, die Panier der Scampi und der Oktopusse war so zart und knusprig, dass ich mich an japanische Tempura-Erlebnisse erinnert fühlte. Als ich aufgegessen hatte und meine Flasche zur Neige ging, hatte ich ein überwältigendes Glücksgefühl, das sich im Glänzen meiner Augen und der Position der wahrscheinlich schwarz umrahmten Mundwinkel manifestierte. Jedenfalls schenkte mir sogar der erschöpfte Kellner ein Lächeln und ließ sich dazu hinreißen, mir beim Vorbeigehen auf die Schulter zu klopfen und mit unüberhörbarer Ironie zu fragen, ob ich noch ein Dessert wolle.

Kein Dessert. Heute kein Dessert. Bitte.

Ein paar Tage später saß ich wieder auf der Giudecca. Nirgendwo zeigt sich Venedig so konkret und ­lesbar, wie von der Fondamenta Sant’ Eufemia aus betrachtet. Während man zwischen San Marco und Cannaregio die Klischees und kleinen Wunder der Stadt – ihre Farben und Gerüche, ihre überraschenden Wendungen, ihre ubiquitäre Geschichte – im Übermaß wahrnimmt, bietet die Giu­decca, um es mit den Schweizer Künstlern Fischli/Weiss zu sagen, „plötzlich diese Übersicht“, abgesehen einmal von den bunten Getränken.

Peter Fischli hat übrigens in der Fondazione Prada die grandios pädagogische Ausstellung Stop Painting eingerichtet, eine Geschichte der Kunst abseits der Malerei, vergnüglicher und wirkmächtiger als jedes Kunstgeschichteseminar. Es ist eine der Ausstellungen, die ich in Venedig genoss, neben den spektakulären Contrapposto Studies des Konzeptkünstlers Bruce Nauman in der Punta della Dogana und dem überbordenden, fordernden Angebot der Architekturbiennale, die unter dem sinnfälligen Motto How will we live together? steht. Ich musste mich in den Giardini übrigens an das Motto der Kunstbiennale von 2019 erinnern. Es lautete May you live in interesting times, und die Kuratoren wussten damals bestimmt nicht, was sie mit ihrer Parole anrichten würden.

Ich verbrachte zwei ganze Tage in den Giardini und dem angrenzenden Arsenale. Als Höhepunkte empfand ich die Wasserkreislauf-Installation im dänischen Pavillon, die rührende Geschichte einer dörflichen Gemeinschaftsarchitektur in Indonesien, die Story der Holzarchitektur in den Fly-over-­Zonen Amerikas – neben unzähligen anderen In­spirationen und ganz speziellen Unterhaltungs­programmen. Als ich beim Biennale-Buffet in den Giardini ein Panino holte und eine Flasche Wasser, erlebte ich außer Konkurrenz eine Lektion in gemeinschaftlicher Asozialität. Auf einem Sonnenschirm des Gastgartens saß eine große Möwe, die auf Beute lauerte und als bevorzugtes Ziel jene Menschen anvisierte, die gerade ankamen, einen Tisch suchten und noch nicht begriffen hatten, ­warum die Tische in der Nähe des Sonnendecks, wo die Möwe in Position saß, nicht besetzt waren.

Alle Menschen, die rundherum an den Tischen saßen und schwer mit ihren Salaten und Sandwiches beschäftigt waren, hatten die Neuankömmlinge ­natürlich genau im Blick und warteten, vielleicht nicht ganz so gierig wie die Möwe selbst, aber voller Spannung, auf den Moment, in dem diese den nächsten Angriff fliegen würde. Wenn die Möwe sich tatsächlich in den Sturzflug auf ein Pizzastück begab, ertönten also nicht nur die spitzen Schreie der unmittelbaren Opfer, sondern auch die irgendwie beifälligen, gedämpften Kommentare des Publikums, das sich weniger bedroht als unterhalten fühlte.

Auffällig war, dass die Menschen, denen ihr Essen vom Tisch geraubt worden war, anschließend wie selbstverständlich an die Tische an der ­Peripherie des Gastgartens auswichen und sozusagen Teil des Publikums wurden, das – wie die Möwe selbst – auf die nächsten Opfer wartete. Neuankömmlinge wurden zwar genau beobachtet, aber nicht etwa gewarnt. Im Angesicht der Möwe ist jeder mit sich allein – und mit seiner Pizzaschnitte.

Im Antiche Carampane – ­Losungswort: No pizza, no menu turistico – wird das Hochamt der Granseola zelebriert. Auch andere Meeresfrüchte wie Stabmuscheln sind von erster Qualität.

Ich hatte mich sehr auf den Abend in der Antiche Carampane gefreut, war zu früh dort, musste warten. Durfte dafür an einem Tisch draußen auf der Gasse Platz nehmen, was an diesem warmen Abend sehr angenehm war. Bestellte voller Vorfreude einen Nosiola von Elisabetta Fora­dori und aß sehr gute klassische Vorspeisen – ­Sarde in saòr, Baccalà mantecato, die köstliche Stockfischcreme mit ­einem Artischockenboden aus Sant’ Erasmo (siehe A la Carte 3/21) und einer kleinen Portion Polenta mit einem Stück Schwertfisch. Natürlich bestellte ich auch die Spaghettini alla granseola, die natürlich gut waren, aber meine verklärte Vorstellung der Speise nicht einzulösen vermochten. Ich kann nicht genau sagen, ob es an mir lag und an meiner übersteigerten, fast schon mythischen Erwartung oder an der Küche, wobei ich in der Regel kein mäkeliger Skeptiker bin, vor allem, wenn es um ausgelöste Meeresspinnen geht. Und nein, dem Gericht fehlte es weder an Salz noch an den wichtigen Chiliflocken. Aber ich empfand den Zauber nicht, der es bisher immer umweht hatte. Dass ich nach dem gebratenen Fisch schon die Rechnung serviert bekam, weil spätestens um halb zehn das zweite Seating an der Reihe ist, komplettierte ein Erlebnis, das mich insgesamt zufrieden, aber doch nicht ganz glücklich machte.

Um es vorwegzunehmen: Das war auch bei meinem Essen tags darauf in der Osteria alle Testiere ähnlich. Dort, in der winzigen Gaststube, wo vielleicht zwanzig Menschen Platz ­haben, wenn ein paar auf dem Schoß der anderen sitzen – deshalb die Rückbestätigungsorgien –, fragte ich mich sogar, ob wohl der Koch gewechselt hat, als nach den Jakobs­muscheln mit Linsen und Queller eine Portion Hummer mit Gnocchetti kam, die mit Zimt abgeschmeckt und für mein Dafürhalten viel zu süß und dominant waren. Da Padrone Luca die wichtigen Magazinartikel der letzten zehn Jahre an die Wand gehängt hatte, konnte ich in einem eigenen Artikel nachlesen, dass ich selbst beim nämlichen Gericht eine „feine Ahnung von Zimt“ schon einmal sehr gut gefunden hatte, weshalb ich mir nicht vorstellen konnte, dass ein und derselbe Koch so unterschiedliche Interpretationen von Fingerspitzen­gefühl haben kann – bis der Koch aus der Küche schaute und unwiderlegbar er selbst war.

Ich trieb mich in den Tagen darauf auf klandestinen Wegen herum. Ich sah merkwürdige Dinge wie eine Ausseer Plätte, ein traditionelles Boot aus dem Salzkammergut, das samt ein paar musizierenden Lederhosenträgern huckepack auf einem Lastenschiff durch den Canal Grande transportiert wurde, fragte mich, ob das wohl Kunst sei, Fremdenverkehrswerbung oder etwas noch Gefinkelteres. Ich durchstreifte das ehemalige Ghetto und war tief beeindruckt, holte mir in einer Mazzes-Bäckerei etwas zu naschen, spazierte auf der breiten Fondamenta dei Ormesini den Rio della Misericordia entlang, wo ich mir bei Timon einen Imbiss holen wollte, dort aber in einen Junggesellenabschied geriet, dessen Mittelpunkt ein junger Mann war, der auf seinem Rücken ein Kreuz trug, auf dem der Name Laura angeschrieben stand. Ich konnte mir gerade noch ein paar Crostini mit Schinken und eingelegten Pilzen sichern, bevor ich die Flucht ergriff, im Gegensatz zu einer Kolonie vergnügter Kärntner, die der Einladung der besoffenen Burschen, mit ihnen weiterzuziehen, augenblicklich Folge leisteten.

Fun Fact: Später in Dorsoduro traf ich, umgeben von einer champagni­sierenden, Italo-Pop-Songs singenden Mädelstruppe mit uniformen T-Shirts, auch besagte Laura – die vom Kreuz ihres Bräutigams –, und ich wünsche mir, dass die beiden, falls sie ihre Polterabende ohne bleibende Schäden überstanden haben, sehr glücklich miteinander werden.

Abends ging ich auf Nummer sicher und kehrte bei der Trattoria alla Madonna ein. Dieser venezianische Klassiker ist nur ein paar Hausecken von Rialtomarkt und -brücke entfernt, und weil es so warm war, standen zum ersten Mal, seit ich mich erinnern kann, auch Tische in der Calle della Madonna, die bereits im stimmungsvollen Halblicht lag und nur von ein paar Funzeln erhellt wurde.

Hier ist das kulinarische Business as usual keine Drohung, sondern ein Versprechen. Im Eingang, gleich neben dem hell erleuchteten Buffet, stehen in langer Reihe die ausgelösten Meeresspinnen, die in voluminösen Muschelschalen ­serviert werden, und in einem Plastikeimer befinden sich unglaubliche Mengen jener meisterhaft angerührten ­schwarzen ­Sauce, mit der die obligaten Sepiaringe samt Pasta oder Risotto serviert werden.

Der Drang zum Tresen samt seinen Vitrinen voller Brötchen, Gemüse, Fleischbällchen und Sardinenvariationen ist groß. Hier stellen sich die Auskenner bei Al Timon an der Fondamenta dei Ormesini an. Dazu gibt es ein Glas Weißwein, und verzehrt wird die Mahlzeit in der Regel draußen vor der Tür – am Wasser.

Also aß ich zur Vorspeise eine wirklich reich bemessene Portion Granseola, die köstlich war, und zur Hauptspeise das schwarze Risotto, und die routinierte Präzision, mit der diese venezianischen Klassiker zubereitet wurden, rührte mich und machte mich augenblicklich ruhig und zufrieden, deutlich zufriedener als an den Tagen zuvor.

Als ich vor der Frage stand, wo ich meinen vorerst letzten Abend in der Stadt verbringen würde, resümierte ich die Abende davor. Ich hatte den Eindruck, dass die einfacheren Lokale den anspruchsvolleren gerade den Rang ­ablaufen, deshalb entschied ich, ein zweites Mal meinen tätowierten Freund in der Cà D’Oro alla Vedova aufzusuchen, und weil ich ihn kein zweites Mal überstrapazieren wollte, rief ich am selben Tag an und bekam problemlos einen Tisch für den mittleren Abend. (Das Corte Sconta, das auch eine gute Alternative für die kulinarische Abschiedsfeier gewesen wäre, hatte leider zu und sperrte erst nach meiner Abreise wieder auf. Seither höre ich nur Bestes, kann es aber nicht aus eigener Wahrnehmung bestätigen.)

Diesmal bediente mich ein anderer, mindestens so bunt tätowierter Kellner, der meine Weinbestellung falsch verstand und mir irgendeine Flasche brachte, die ich nicht haben, die er aber auch nicht zurück in den Keller bringen wollte, weil er die Kapsel bereits aufgeschnitten hatte. Logischerweise war der Wein, den ich wirklich wollte, schon aus und zwei Ersatzflaschen auch, aber ich blieb hartnäckig, und das erwies sich als günstig, denn so kam ich zu einer Flasche Vitovska von Edi Kante zum Diskontpreis, der den lauwarmen Oktopussalat, den ich als Vorspeise bestellt hatte, ganz besonders schmeichelhaft begleitete. Zur Hauptspeise bekam ich, eine Reminiszenz an den obligaten Snack, der normalerweise an der Bar eingenommen wird, zwei ziemlich große, frisch aus der Küche gelieferte Polpette.

Hier ist das Rezept für den lauwarmen Oktopussalat, das ich mir später aus meiner Kochbuchbibliothek herauszupfte, um an dieser Stelle einen Eindruck der einfachen, aber beglückenden Küche dieses Hauses vermitteln zu können.

Wir brauchen einen kochfertigen Oktopus von 1,5 Kilo – um ihn zart zu machen, sollte er ein Mal eingefroren und wieder aufgetaut werden –, 1 Knolle Fenchel, halbiert, 1 Zwiebel, halbiert, 2 Stangen Staudensellerie, fein gewürfelt, 1 Handvoll Petersilienstängel, grob gehackt, 3 festko­chen­de Kartoffeln, geschält, 1 Knoblauchzehe, fein ­gehackt, 1 Handvoll glatte Petersilie, ebenfalls fein gehackt, 1 TL Chiliflocken, Salz, Pfeffer, 4 EL Olivenöl und 1 EL Zitronensaft.

Den Oktopus in einem großen Topf mit Fenchel, Zwiebel, Sellerie und Petersilienstängeln in ungesalzenem Wasser weich kochen. Dauert maximal eine Stunde. Herausnehmen und abkühlen lassen. Augen, Kauwerkzeuge und Innereien wegwerfen. Oktopus in mundgerechte Stücke schneiden, die Haut abziehen und waschen. Kartoffeln in Stücke schneiden, mit Wasser bedecken und kochen. Abgießen und beiseitestellen.

In einer großen Schüssel Oktopus und Kartoffeln mit Knoblauch, Petersilie und Chiliflocken vermengen und mit Salz, Pfeffer, Olivenöl und Zitronensaft würzen. Vor dem Servieren im Ofen kurz erwärmen. Der Salat soll lauwarm und geschmeidig sein wie diese Stadt im frühen Sommer.

„Tutto bene?“, fragte der Kellner.

„Danke“, sagte ich.

„Und bitte: Dessert!“

Osteria da Moro
www.facebook.com/Osteria-da-­Moro-1915267678745040

Osteria alle Testiere
www.osterialletestiere.it

Antiche Carampane
www.antichecarampane.com

Già Schiavi
www.cantinaschiavi.com

Cà D’Oro alla Vedova
www.acebook.com/allavedova

Al Timon
www.altimon.it

Trattoria alla Madonna
www.ristoranteallamadonna.com

Corte Sconta
Calle del Pestrin, 3886,
30122 Venezia VE
T +39/41/522 70 24