Tischgenossenschaft

Eine Erkundung der Stadt Zürich unter Auslassung alter Gewissheiten und dem Zugewinn erstaunlicher Eindrücke.

Text von Christian Seiler · Illustration von Markus Roost

Ich hatte es befürchtet.

Bodo rief an.

Er war sauer. Er sagte nicht einmal „Hallo“ oder „Wie geht’s dir, altes Arschloch?“, wie Bodo halt so spricht. Er sagte nur: „Ich hab dein Buch* gelesen.“

Damit hatte ich nicht gerechnet. Deshalb hatte ich auch nicht gezögert, in meinem Kapitel über Zürich ein paar der Verhaltensmuster öffentlich zu machen, wie mein Zürcher Freund Bodo seine Nächte verbringt (und ich, wie ich mehr oder weniger erfolgreich versucht hatte, mich davor in Sicher­heit zu bringen). Musste ich mich entschuldigen? Sollte ich so tun, als sei die Verbindung unterbrochen?

Bodo nahm mir die Entscheidung ab, indem er weiter schimpfte: „So ein Unsinn. Deine Überschrift ist eine Provokation: ,Am Schluss landen wir ja doch in der Kronenhalle.‘“

So heißt das Kapitel über Zürich.

„Wer landet in der Kronenhalle?“, wütete Bodo. „Ich nicht.“

Ich konnte hören, wie er triumphal Luft holte, bevor er zum Kern seiner Botschaft vordrang: „Und du auch nicht. Du nimmst morgen den Zug nach Zürich, das Ticket ist bezahlt. Du wohnst im Widder. Du bleibst eine Woche. Ich habe mir freigenommen für dich. Steck’ ein bisschen Geld ein, Zürich ist teuer.“

Jetzt war Bodo etwas besserer Laune.

„Schönes Buch“, sagte er sogar. „Aber zu dick. Deshalb hab ich nur die Überschrift gelesen. Immer die Kronenhalle. So ein Unsinn. Bis morgen.“

Er legte auf.

Ich machte ein paar Telefonate, warf den Terminkalender zum Altpapier, dann ging ich meinen Koffer packen.

Als ich am Zürcher Hauptbahnhof ankam, freute ich mich erst einmal über die Bahnhofshalle, die so ist, wie Bahnhofshallen sein müssen. Mächtig. Hoch. Eine Kathedrale des Abschieds und der Ankunft, der ständigen Bewegung.

Bodo war nicht da. Eine dürre SMS traf ein, in der er mir die Anweisung erteilte, zuerst mein Gepäck in den Widder zu bringen und anschließend ins nahe gelegene Lotti zu kommen, dort werde er mich erwarten.

Ich brachte das Gepäck in den Widder. Der Widder ist eine Art von Luxushotel, wie ich sie von Herzen mag. Mitten in der Altstadt gelegen. Alle Zimmer von unterschiedlicher Gestalt, weil in drei benachbarte, mittelalterliche Häuser eingepasst. Das Personal von höchster Güte, also verbindlich, witzig und bestens gebrieft, ungefähr genau das Gegenteil der arroganten Prada-Verkäuferinnen, die dir das Gefühl vermitteln, du störst sie in ihrem privaten Kleiderschrank.

Entsprechend herzlich wurde ich begrüßt. Ich weiß nicht, was Bodo den Herrschaften erzählt hatte, ich möchte es auch nicht ­wissen, sonst werde ich rot. Noch weniger interessierte mich nur der Preis der Suite, wo ich untergebracht wurde, jedenfalls bis zur Stunde der Wahrheit, die jeden von uns ereilt, wenn er, ohne die Rechnung zu betrachten, dem Rezeptionisten die Kreditkarte über den Tresen schiebt und hofft, dass sie nicht „Nein, danke“ sagt.

„Wir sehen Sie später an der Bar“, sagte die Concierge, als ich ­hinaus auf den putzigen Rennweg trat, und das stimmte. Wir sehen uns immer später an der Bar, wenn wir im Widder wohnen, weil die Widder Bar eine Legende ist und man sich angesichts von Legenden anständig benehmen muss: niemals ohne Schlussgetränk ins Bett!

Der Satz ist gut, dachte ich mir, als ich mich Richtung Lotti zum Werdmühleplatz aufmachte, den muss ich Bodo sagen. Der lässt ihn sich wahrscheinlich tätowieren.

Es wurde ein schöner Abend im Lotti. Zwar war Bodo nicht da, er schickte mir die nächste dürre SMS, „Unvorhergesehenes“ habe sich zugetragen, er werde später, und wenn nicht, er melde sich …

Bodo eben. Dafür traf ich Crisiov Lafleur, einen bulgarischen Geheimagenten, den in Zürich die ganze Stadt kennt. Er mag – wie ich – durchsichtige Schweizer Rotweine, deftige Hacktätschli, wie hier das Fleischlaberl heißt, mit Härdöpfelstock, genau: Püree.

Gibt es alles im Lotti, und der einzige Wermutstropfen dabei ist, dass es das alles nicht mehr in der Alpenrose gibt, dem wunderbaren Schweizer ­Musterwirtshaus von Katharina Sinniger und Tine Giaccobo, das vor zwei Jahren zugesperrt hat und schmerzlich vermisst wird, von manchen so schmerzlich, dass sie seither nur noch Linsendal oder Sushi essen, um niemals vor dem Dilemma zu stehen, irgendwelche Pizokel mit denen von Tine Giaccobo vergleichen zu müssen. Ein Vergleich, der notwendigerweise zum Nachteil der aktuellen Pizokel ausfallen wird, selbst wenn sie gut sind. So gut wie in der Erinnerung können sie gar nicht sein.

In einem Nachruf auf die Alpenrose im Magazin stand Folgendes: „Die Beiz ist im Endeffekt ja nichts anderes als die Summe all dessen, was hier gelacht und geliebt und gefeiert und geträumt und gestritten und gelästert wurde. Es gibt Kneipen, deren Bilanz diesbezüglich tief im Groben steckt, vielleicht sind die Stammgäste auch entsprechend froh, wenn der Wirt eines Tages ohne Angabe von Gründen den Schlüssel zwei Mal umdreht und verschwindet.

Aber hier ist das anders. Die Leute, denen es gelungen ist, ein letztes Mal einen Tisch zu reservieren, sitzen lange nach dem Essen noch auf den grün gestrichenen Stühlen, lassen den Kopf in den Nacken fallen und versuchen, sich die Alpenrose einzuprägen, Detail für Detail, so wie man ein Gedicht auswendig lernt oder ein Lied, zum Beispiel Scenes from an Italian Restaurant von Billy Joel:
„A bottle of white, a bottle of red
Perhaps a bottle of rose instead
We’ll get a table near the street
In our old familiar place
You and I, face to face, mmm“

Stimmt, denke ich mir, mmmm.

Crisiov neben mir kostete den letzten Schluck vom Rotwein, den wir noch hatten. Pinot Noir Chölle von Markus Ruch, mmmm.

„Sollen wir noch einen?“, fragte ich.

„Mmmm“, antwortete Crisiov, und am Ende des Abends hatten wir ziemlich viel gegessen und getrunken, Forelle mit Wildkräutern, Pilze, ein geröstetes Markbein, Hacktätschli und natürlich noch was Süßes, und ich weiß nicht, ob Crisiov auf die Idee kam oder ich, noch ein Abschlussgetränk in der Widder Bar zu nehmen.

Als wir ankamen, schoss der Barkeeper sofort auf mich zu.

„Herr Bodo ist gerade gegangen. Er lässt Sie herzlich grüßen.“

Außerdem hatte er seine drei Gin Tonics auf mein Zimmer buchen lassen.

Ich schlief gut. Für den nächsten Tag hatte ich mir nichts anderes vorgenommen, als Espresso zu trinken. Nichts als Espresso. Das braucht nicht viel Zeit. In Italien ist der Besuch des Cafés ja rituell auf das Allernötigste beschränkt. Man kommt, bestellt seinen Caffè, zahlt, rührt ein bisschen Zucker in den schwarzen Stoff, setzt die Tasse an, trinkt sie mit einem Schluck aus und geht wieder, wohin auch immer.

In Zürich ist das genauso, nur um eine Spur edler. Im Campo zum Beispiel, das den ehemaligen Durchgang unter dem brutalistischen Amtshaus auf dem Helvetiaplatz besetzt, finden die Grobheit des Sichtbetons und die Eleganz der Schreinerarbeiten auf so überzeugende und schlichte Weise zusammen, dass ich ganz berückt auf einen der Seegrashocker aus der Dordogne sank und mich nicht entscheiden konnte, ob ich die institu­tionelle Leere auf dem Helvetiaplatz genießen oder mich doch dem ­Muster der schmalen Douglasien-Lamellen widmen sollte, die den Raum verkleiden. Ich bekam den ersten Espresso, meine Stimmung hob sich.

SMS von Bodo: „La Stanza?“

Also lief ich wenig später im ebenso wunderbaren La Stanza ein, fand einen freien Platz an der Bar und konsumierte erst einmal all das, was gratis zum Espresso kommt: den Duft der frisch gemahlenen Bohnen; den Sound der Düsen, die die Milch aufschäumen; das Belcanto der beiden Nachbarn an der Bar, die sich über irgendwas lustig machten, wovor sie sich offenbar fürchteten; die spielenden Schatten der Blätter, die das Fenster zum Garten zum Bildschirm machten. Kommen – Sein – Gehen. Wer den Besuch der Espressobar beherrscht, vollzieht eine Übung, für die viele Menschen lange Meditationskurse machen müssen.

Mir war offenbar ein bisschen philosophisch zumute, als mich die schwere Pranke auf der Schulter aus den Träumen riss und Bodo mir ins Ohr schrie: „Da bist du ja. Schwerer zu erreichen als der Bundeskanzler!“

Wäre ich er, würde ich sagen: „Recht hat er.“

Wir hatten ein paar Sachen zu besprechen.

„Willst du wirklich hier …“, Bodo zeigte etwas angewidert auf die blitzenden Kaffeemaschinen.

„Wir könnten in die Kronenhalle Bar“, sagte ich, aber Bodo war die Finte nicht einmal ein Schmunzeln wert. Wir begaben uns stattdessen ins Niederdorf, den ältesten Teil Zürichs, und weil man die blaue Stunde schon ahnen konnte, zog mich Bodo in die Bodega Española, eines der schönsten Lokale der Welt, das ich allerdings auch ohne Bodo gekannt hätte.

„Ruhe“, sagte Bodo und bestellte eine Flasche Cava.

Dann legte er dar, was er mit mir vorhatte. Ich sollte Zürich erleben, wo es frisch, knackig, grün und cool ist. Weil darum gehe es heutzutage, nicht mehr um Sterne und Traditionsrestaurants mit schönen Wandvertäfelungen. Sagte er mir in einem Traditions­restaurant mit schönen Wandvertäfelungen. Am Ende des Impulsreferats, als der Cava langsam zur Neige ging, hatte ich allerdings die begründete Ahnung, dass Bodo mich nicht umsonst in die Schweiz bestellt hatte.

Von der Bodega hatten wir es nicht weit in die Bauernschänke am Neumarkt. Das war ein Treffer. Von manchen Restaurants bin ich ja schon Fan, sobald der erste Gang auf den Tisch kommt. Jedes Gericht ein kleines Kunstwerk, „highly instagramable“, ich musste mich ein bisschen überwinden, um die perfekte Komposition, von Fachleuten mit langen Pinzetten angerichtet, mit meiner Gabel zu zerstören. Aber ich kriegte es hin.

Die Bauernschänke ist ein im Wesen grobschläch­tiges Wirtshaus (mit schönen Wandvertäfelungen), das unter der neuen Führung von ein paar Feinmechanikern in einen Prototypen für das ideale zeitgemäße Speise­lokal verwandelt wurde. Nenad Mlinarevic, Valentin Diem und Patrick Schindler haben ein sehr angenehmes Konzept ausgearbeitet, um die Spitzengastronomie zu entmystifizieren. Die Gerichte auf der Karte sind klein, sie werden vorzugsweise in die Mitte des Tisches gestellt. Vorteil: eine Gesellschaft von, sagen wir, Bodo und mir kann sich mühelos durch das gesamte Angebot futtern und verlässt die Bauernschänke weder voll bis obenhin noch mit Resthunger. Dass dieses Essen von einer der besten Weinkarten Zürichs flankiert wird, ist ein weiterer Pluspunkt. Es handelt sich weniger um die bekannten Etiketten der Luxusgastronomie als um eine neue Generation von Spitzenwinzern, deren Weine eine eigene Handschrift haben und perfekt zur Lässigkeit des Essens passen.

Wir probierten die Karte buchstäblich rauf und runter. Eindrucksvoll waren der gedämpfte Zander mit den Kohlrabi, und um die rohen Scampi mit der Wassermelone wurde höflich ­gekämpft (Bodo gewann). In das Rindstatar war eine köstliche fette Creme untergerührt worden, und die Radieschen schufen scharfe Kontraste. Das Gericht mit dem Stracchino, der ­Tomate und dem Basilikumöl war schließlich nicht nur köstlich, s­ondern auch auf nachvollziehbare Weise einfach, sodass ich ohne gröbere Versagensängste damit kokettieren konnte, es zu Hause nachzukochen. Das galt auch für einen Teller mit eingelegter Gurke, nudelig geschnittener Zucchini und geräucherter Ricotta samt einem Avocadodressing.

Interessant, dass wir schon wieder einen Wein von Markus Ruch tranken. Wir diskutierten das später in der Widder Bar und formulierten die vage Absicht, das bei Gelegenheit zu wiederholen.

Am nächsten Tag leckte ich meine Wunden bei Sprüngli am Paradeplatz. Nicht, dass ich mir Pralinen oder ­Luxemburgerli verordnet hätte, ich wollte nur die ­Vorkriegsluft im Tea Room im ersten Stock wittern. Dort ist es tröstlich altmodisch und umständlich, dabei aber nicht abgewohnt und heimelig wie in den prototypischen Cafés in Paris oder Wien, sondern irritierend ernsthaft und auf sympathische Weise spießig, so wie ein eleganter älterer Herr, der seinen Anzug mit den aufgepumpten Achtzigerjahre-Schultern nicht etwa ironisch trägt, sondern stolz und selbstverständlich.

An einem kleinen glänzenden Tisch nahm ich eine harm­lose, aber köstliche Abstinenzlermahlzeit zu mir, einen Verveine-Tee und zwei Canapés. Ich liebe es, hier in Ruhe Zeitung zu lesen. Die etwas förmliche Ruhe in den stets gut gefüllten Räumlichkeiten senkt meinen Blutdruck und befähigt mich, selbst ­knäckebrottrockene Leitartikel in der NZZ ohne jeden Anflug von Ungeduld zu lesen, vielleicht sogar zwei Mal, wenn mir zwischendurch das Kinn auf die Brust gefallen ist.

Im Café Sprüngli fühlte ich mich jung und alt. Ich war nach einer Stunde im Café nicht wirklich sicher, ob ich noch derselbe war, der vorhin hineingegangen war, und ja, ich glaube an den magischen helvetischen Realismus, vor allem, wenn er sich in der Farbpalette von Windgebäck äußert oder im tiefen Rosa ­einer Zwischenmahlzeit namens Bircher Müsli.

Bodos SMS befahl mich für sechs in den Kreis 4: „Gamper. Pünktlich!“

Die Typen vom Farm-to-table-Restaurant Gamper sperren nämlich um sechs auf und nehmen keine Reservierungen. First come, first served. Ist ein Tisch frei, setzt du dich. Ist keiner frei, wartest du (sowohl Essen als auch Weinkarte sind die Wartezeit wert). Es gab eine köstliche kalte Randensuppe (wie die Roten Rüben hier heißen) mit gerösteten Haselnüssen und Schnittlauchöl und später ein Tatar vom Maibock mit Radieschenblättern und rohe Kohlrabistreifen mit Estragon. Verliebt habe ich mich aber in ein kleines Gericht, das der im Celler de Can Roca ausgebildete Koch Markus Frehner zwischendurch schickte, eine Tarte Tatin von Tropea-Zwiebeln, die ich mit dem allergrößten Vergnügen – und ein, zwei Gläsern Matassa Blanc aus der Côtes Catalanes – verzehrte.

Die Gamper-Macher wirken übrigens über ihr kleines Stammlokal hinaus stilbildend. Sie haben zwei Mal um die Ecke eine schicke Weinbar eröffnet, wo ich tags darauf die Freuden des Zürcher Räuschlings kennenlernte, einer alten Rebsorte, die frisch und knackig ist und für den mittleren Nachmittag geeignet. Auch mit dem Wermut, dem ­Bistro im alternativen Kino Riffraff, gibt es Überschneidungen in Personal und Küchenphilosophie: Ich kann von mit großer Sorgfalt zubereiteten Sharing-Tellern mit Onsen-Ei, Tatar vom Hirsch und der Spezialität des Hauses, dem Coq au Vin mit Wermut, berichten.

Tranken wir Wermut? Bestellte Bodo eine zweite Portion vom Coq au Vin? Besprachen wir das bisher Erlebte und alles, was noch folgen würde, in der Widder Bar?
Zürichs rhetorische Fragen.

Zum Glück gab mir Bodo anschließend einen Tag frei, sodass ich einen Ausflug nach Schwamendingen machen konnte, wo mein Freund Stefan Tamò das Restaurant Ziegelhütte betreibt.

Ich spazierte von der Endstelle der Tram mit der Nummer 6 beim Zürcher Zoo über den Zürichberg, pflügte mich durch den großzügigen Mischwald hinüber ins deklarierte Arbeiterquartier, dessen Eroberung durch die Hipster zwar langsam begonnen, aber noch keine sichtbaren Veränderungen hinterlassen hat.

Tamò sieht aus, als spiele er Bongo in der Band von Manu Chao. Er hat in den letzten zwanzig Jahren die Szenegastronomie Zürichs entscheidend mitgeprägt, zog sich aber nach einer ganzen Reihe von erfolgreichen Neugründungen in sein Heimatquartier Schwamendingen zurück, wo die Ausflugsbeiz Ziegelhütte zu haben war. Seither bekommen die sehr unterschiedlichen Gäste, was sie jeweils wollen. Ein anständiges Côte de Bœuf, aber auch eine Kässchnitte, einen Schwartenmagen oder Fleischkäs mit Pommes frites, und nur, wer sich hie und da auf diese deftigen Klassiker der Schweizer Kulinarik einlässt, kann ermessen, mit welcher Aufmerksamkeit und Zuwendung sie hier unter den Augen des Chefs, die schon alles gesehen haben, zubereitet werden.

„Gut schaust du aus“, sagte Tamò. Aber ich wusste, dass er das nicht so meinte. Er wollte einfach einen ­guten Grund haben, mit mir anzustoßen, also tranken wir Bier, und weil Bier allein keine gute Idee ist, orderte Tamò zuerst den Fleischkäs, der erstaunlich mild und zugänglich war, und weil ich nachher noch „Papp“ sagen konnte, ließ er ein Côte de Bœuf auf den Grill legen und riss eine Flasche spanischen Rotwein auf. Was man halt in Schwamendingen macht, wenn der Onkel aus Wien vorbeikommt und ein bisschen gespitzt ausschaut.

Während wir uns über das herrliche Stück Hochrippe hermachten, kam die SMS von Bodo: „Kein Fleisch essen. Machen wir morgen!“

Ausnahmsweise hatte Bodo nicht zu viel versprochen. Zuerst schleppte er mich zu Hatecke. Das ist eine Metzgerei aus Graubünden, die in Zürich eine Filiale eröffnet hat, und ich sage euch, selbst jemand, der schon viele Metzgereien gesehen hat, hat noch nie so eine Metzgerei gesehen: ein lichtdurchflutetes Geschäft am Löwenplatz, wo ausgesuchte Teile von Rind und Kalb, peinlich genau geputzt, so symmetrisch ausgerichtet sind, als hätte der Mensch, der die Vitrine betreut, früher bei Tiffany gearbeitet. Edler Stein, unsichtbares Glas, unendlich viel Platz: Filets und Koteletts treten als Schmuckstücke auf, als Luxusartikel. Zum Glück kosten sie auch so viel, sonst wäre ich endgültig verwirrt gewesen. Die tobleroneförmige Salsiz schmeckte übrigens großartig, das Tatar war ein Gedicht. Dass etwas, was du hier snackst, früher einmal „muh“ oder „mäh“ gesagt haben könnte, scheint ausgeschlossen.

Ich war ein bisschen überwältigt von Hateckes Laubsägearbeiten für Carnivoren. Ich sehnte mich nach etwas – das Wort fällt mir schwer – Echtem. Ich bat Bodo, mir etwas anderes zu zeigen als eine Metzgerei, die wie ein Juweliergeschäft aussieht.

Bodo lächelte mich um eine Spur zu lang arrogant und wissend an.

Ich begriff. Er hatte diesen Wunsch vorhergesehen, geradezu inszeniert. Wir hatten eine Reservierung in der Metzg. Bodo sagte generös wie das Christkind: „Ich habe ein Côte de Bœuf vorbestellt.“

Ich war im Glück. Was ist besser, als ein Mal Côte de Bœuf zu bekommen? Eben. Außerdem gefiel mir der Ort, an den mich Bodo geführt hatte, ausnehmend gut. Das Interieur der Metzg an der Langstraße drückte die Philosophie ihrer Besitzerin ziemlich ungeschminkt aus. Hier wurde nichts behübscht. Im Grunde handelte es sich um ein Fleischgeschäft, das ausschaut wie ein Fleischgeschäft, in dem ein paar Tische aufgestellt wurden und wo die Chefin persönlich etwas kocht, was man sich sonst einpacken lassen und mitnehmen könnte.

Marlene Halter, Inhaberin und Küchenchefin, hat ihr Handwerk an vertrauenswürdigen Orten gelernt, namentlich bei Tine Giacobbo in der Alpen­rose und bei Stefan Tamò im Italia und in der Ziegelhütte. Sie ­besitzt den Mut zu maximaler Zuspitzung. Als ich etwas später am Abend – nach ­einem Artischockensalat und einer halben Flasche Pinot Noir Klettgau von Markus Ruch – das fertige Stück serviert bekam, lag es mutterseelenallein auf dem Teller: Es machte enorme Freude, das saftige, wohlschmeckende Fleisch mit nichts als Salz und mehr Rotwein zu verzehren.

Tag der „purezza“, Tag des Fleisches, aber auch: Tag des Rotweins.

Und schon wieder dieser Winzer namens Markus Ruch. Ich zog Erkundigungen ein. Es kostete mich zwei Telefonate aus der Widder Bar, dann hatte Severin Aegerter, Inhaber einer der besten Weinhandlungen, die ich kenne – sie ist leider in Bern und nicht bei mir um die Ecke –, einen Termin in Neunkirch, Klettgau, für mich ausgemacht.

Am nächsten Vormittag besuchte ich Markus Ruch im Klettgau, und ich trank Pinot noir bei ihm, der mir eine neue Dimension eröffnete: Wein von flirrender Lebendigkeit, Würze und Spannung. Nicht geschmeidig, fordernd. Nicht antwortend, fragend.

Markus Ruch holte mich mit seinem Hollywoodstarlächeln vom Bahnhof ab. Er ist ein Quereinsteiger mit kaufmännischer Lehre und Vergangenheit als Kundenberater in einer Bank. Nach einem Praktikum hatte er die Winzerausbildung nachgeholt und einige Jahre Erfahrung auf Weingütern in Italien, Chile, der Schweiz und Frankreich gesammelt.

Die Vorzüge der Biodynamie brachte ihm der legendäre Christian Zündel im Tessin bei. Im Burgund ließ sich Ruch – „ich bin der Markus“ – vom Bio-Pionier Dominique Derain in die Feinheiten der Vinifikation einführen und bekam einen Eindruck davon, was der Begriff „Terroir“ für einen Winzer wirklich bedeuten kann, nämlich „die bedingungslose Ausreizung der Herkunft“ und deren ungefilterte Übersetzung in Wein.

Anschließend suchte sich Markus Ruch eine Weinbauregion aus, die keine Tradition in der Herstellung großer Weine besitzt. Er nahm sich 2007 ein Zimmer in Hallau und pachtete eine winzige Parzelle von zwanzig Ar mit Pinot-noir-Stöcken in Weinfelden, die er buchstäblich in seiner Garage vinifizierte. Für sein Auskommen jobbte er in einem größeren Weinbaubetrieb, pachtete nebenbei neue Weingärten und arbeitete am eigenen Wein.

Als wir über seine Weinberge flanierten, erzählte Markus, wie er augenblicklich aufgehört habe, die Reben zu düngen und Herbizide einzusetzen. Damit wurden die „verwüsteten“ Böden „wieder wach geküsst“, während ihn die Nachbarn, die von den „gedopten Weinbergen ringsum“, auslachten: Was für ein merkwürdiger Typ, der seine winzigen Gärten mit der Hand bewirtschaftete. Der hat ja nicht einmal einen Traktor.

Ich konnte Ruchs Weingärten auf den ersten Blick von den angrenzenden, konventionell bewirtschafteten Zeilen unterscheiden. Unter seinen Reben wuchs knöchelhoch Gras, wo bei den Nachbarn mit Unkrautvertilgungsmittel für verbrannte Erde gesorgt worden war. Seine Reben waren feiner, ihre Blätter kleiner, ihr Auftritt vitaler.

Ruch trieb die Theorie der Mangelwirtschaft im Weingarten auf die Spitze. Er unternahm mehr oder weniger alles, um seinen Reben das ­Leben schwer zu machen. Schon die Auswahl seines Standorts zeugt davon: Der Klettgau, nördlichster Zipfel der Schweiz, ist eine kühle Region, was für die Pflege von Pinot noir entscheidend ist.

„Wenn du die Hitze im Weinberg nicht unter Kontrolle kriegst“, sagte mir Ruch, „dann hast du die falsche Traube am falschen Ort.“

Die Klettgauer Böden sind karg. Die Reben müssen tief wurzeln, um an Nährstoffe zu kommen. Selbst die ausgebildeten Trauben werden noch den Strapazen von hohen Temperaturschwankungen ausgesetzt, indem sie bis Ende Oktober am Stock hängen, völlig ausreifen und ein Maximum an Spannung ausprägen.

Zurück in seinem Haus, öffnete Ruch eine Flasche vom Pinot Noir Haalde, Jahrgang 2013.

„Ein schwieriges Jahr“, sagte er, aber sein Kopfschütteln meinte er nicht negativ, eher anerkennend, so wie er auch kein Faible für die sogenannten großen Jahre hat, die alle paar Jahre ausgerufenen Jahrhundertjahrgänge, sondern eher für die merkwürdigen, windschiefen, fordernden Saisonen, die Natur und Winzer vor Herausforderungen stellen.

„Katastrophales Frühjahr. Lese Ende Oktober. Spontan ver­goren, zum Teil mit ganzen Trauben. Minimal geschwefelt. So ­lange im großen Holz, bis die Weine ihre reduktive Phase überwunden haben. Abgefüllt, wenn die Frucht zurückkommt.“

Der Wein war geheimnisvoll und lyrisch, frisch und, ja, spannungsgeladen. Er erinnerte nicht ans Burgund, was für viele Pinot-noir-Winzer angesichts der berühmten Pinots von der Côte de Nuits das höchste Lob schlechthin ist. Dieser Wein war ein Einzelstück, unverwechselbar, Dokument eines kühlen Jahres abseits ­großer Denominazione, charaktervoll und herausfordernd, merkwürdig wie dieser Typ selbst mit seinem ikonischen Lachen.

SMS von Bodo: „Wo bist du? Wir sind bei Gül verabredet. Ich habe ,einmal alles‘ bestellt.“

Ich antwortete: „Iss alleine. Trinke Pinot bei Markus Ruch.“

Dann schaltete ich das Handy ab.

Um zu wissen, was ich versäumt hatte, drängte ich mich tags darauf bei nämlichem Gül, einem türkischen Spezialitätenrestaurant, an die Bar – meine Freundin Andrea, die in Zürich jeden kennt, alle Verbindungen untereinander sowie sämtliche Hochzeitstage, ebnete den Weg für mich. Großartiges Lokal im Hinterhof eines gesichtslosen Kreis-4-Baus, ein überragendes Angebot an eleganten türkischen Speisen, die das Wort „Kebab“ noch nie gehört haben. Ganze Minisardellen im Öl gebacken mit Zitronen-Mandelcreme. Handgerollte Bulgurknödel auf Joghurt. Gegrillter Oktopus mit Isotcreme. Baklava mit Earl-Grey-Eis.

Nächster Ort, um den ich Zürich beneide.

Verschlagen fragte ich nach Bodo.

„Der Typ, der gestern ,einmal alles‘ bestellt hat?“

„Genau der.“

„Er lässt Sie grüßen. Er hat angekündigt, dass Sie kommen werden. Wenn Sie so nett wären, hier ist die Rechnung von ­gestern.“

Um mich zu trösten, spazierte ich stadtauswärts zum Viadukt, wo sich nicht nur die wunderbare Markthalle befindet, sondern auch, zwei Mal um die Ecke an der Ottostraße 15, die Zentrale für Gutes. Das ist der Laden, den die früheren Alpenrose-Inhaberinnen betreiben, um im Sommer das beste Eis der Welt – „Glace“ sagen die Schweizer unerbittlich – zu verkaufen und im Winter Suppen.

Ich drücke mich dort jeweils in die kleine Stube, um die Frauen zu herzen und irgendetwas Erstaunliches zum Kosten zu be­kommen, irgendwas ist immer da.
„Es hat Entenleberparfait“, sagte Tine.

Ich hatte geahnt, dass ich Glück haben würde. Tines Enten­leberparfait ist das einzige Rezept, das sie nicht in ihrem epochalen Buch Jetzt müsst Ihr selber kochen verewigt hat, und ­dieses Glas Entenleberparfait würde mich genauso auf meiner Rückreise nach Wien begleiten wie die Flasche Pinot Noir Chölle 2013, die mir Markus Ruch gestern als Wegzehrung zugesteckt hatte. Ich brauchte nur noch das passende „Ruchbrot“ von John Baker, dann im Widder mein Gepäck abholen und den Nachtzug erwischen.

Im Widder waren die Rezeptionisten schwarz angezogen, weil sie meinen Abschied betrauerten. Auch mein Herz war schwer, was vielleicht an der bevorstehenden Begleichung der Rechnung lag.

Aber bevor ich noch in die Brusttasche meiner Jacke greifen konnte, wurde abgewinkt: „Ist erledigt …“

Als ich mein Abteil im Nightjet bezog, schickte ich ein bisschen gerührt meine Abschieds-SMS an Bodo.

„Danke. Ich revanchiere mich in der Kronenhalle.“

Er antwortete zehn Sekunden später.

„Du bist ein Trottel. Und unverbesserlich.“

Das tat gut. Noch bevor der Nightjet abfuhr, deckte ich mein Tischlein für die beste Jause, die man in irgendeinem Zug kriegen kann.

Widder
Rennweg 7, 8001 Zürich
Tel.: +41/44 224 25 26
www.widderhotel.com

Lotti Lokal
Werdmühleplatz 3, 8001 Zürich
Tel.: +41/43 399 01 01
www.lotti-lokal.ch

Campo
Molkenstraße 7, 8004 Zürich
www.barcampo.com

La Stanza
Bleicherweg 10, 8002 Zürich
www.lastanza.ch

Bodega Española
Münstergasse 15, 8001 Zürich
Tel.: +41/44 251 23 10
www.bodega-espanola.ch

Bauernschänke
Rindermarkt 24, 8001 Zürich
Tel.: +41/44 262 41 30

Café Sprüngli
Paradeplatz, Bahnhofstraße 21, 8001 Zürich
www.spruengli.ch

Gamper
Nietengasse 1, 8004 Zürich
Tel.: +41/44 221 11 77
www.gamper-restaurant.ch

Ziegelhütte
Hüttenkopfstraße 70, 8051 Zürich
www.wirtschaft-ziegelhuette.ch

Metzg
Langstraße 31, 8004 Zürich
Tel.: +41/44 291 00 88
www.metzg-grill.ch

Gül
Tellstraße 22, 8004 Zürich
www.guel.ch

Zentrale für Gutes
Ottostraße 15, 8005 Zürich
www.zentrale.ch