Der Grenzüberschreiter

Im Mirazur an der französischen Riviera kommen Meeresbewohner ebenso auf den Teller wie Waldfundstücke aus dem Hinterland und nicht zuletzt Gemüse aus dem eigenen Garten. Ein Tag mit Mauro Colagreco, unterwegs zu rockigen Hennen, Erdäpfelminiaturen und Panorama-Zitrusfrüchten.

Text von Anna Burghardt/Foto picturedesk.com

Hier konnte man früher einen kleinen Happen essen, Briefe aufgeben, Geld wechseln …“, sagt Mauro Colagreco am Steuer, auf sein Restaurant deutend, kurz nachdem das Auto den Mirazur-Parkplatz Richtung italienische Grenze verlassen hat. Nur Caf­fè Lat­te to go gab es damals noch nicht. Was heute das mehrstöckige Mirazur ist, in diesem Jahr von der The World’s 50 Best-Liste zum besten Restaurant der Welt ausgezeichnet, war einst ein einfaches Grenzlokal. Menton ist der letzte Ort im französischen Teil der Riviera, Italien nur ein paar hundert Meter entfernt. Ein kleiner Trupp Polizisten mit eigentümlichen traditionellen Hüten markiert die Grenze. Mauro Colagreco, der aus Argentinien stammende Chef des Mirazur, hat indes „Restaurant an der Grenze ohne Grenzen“ zu seinem Leitspruch gemacht. Er spielt damit auf das Aufeinandertreffen zweier Staaten an, aber auch auf seine eigene Einwanderergeschichte, sein multikulturelles Team und die Einflüsse auf seinen Küchenstil aus fernen Ländern wie Japan.

Wenn Mauro Colagreco den Mund aufmacht, kann man nie sicher sein, in welcher Sprache seine Sätze heraussprudeln. Unangestrengt springt er zwischen seiner Muttersprache Spanisch, Französisch, Englisch und Italienisch herum, je nachdem, mit wem er es gerade zu tun hat – ob mit seinem kleinen Sohn Valentin, seiner aus Brasilien stammenden Frau Julia, von weit her angereisten Gästen, seinem englischen Sommelier, französischen Käsemachern oder einem italienischen Imker.

Ein Besuch auf dem Bauernmarkt von Ventimiglia an der italienischen Riviera dei fiori, über eine kurvige Straße von Menton aus in kurzer Zeit zu erreichen, gehört für Colagreco zum samstäglichen Standardprogramm (wenn es bei der Nummer eins der Welt und dem damit verbundenen Pensum an neuen Missionen künftig überhaupt noch ein solches gibt). Zum Standardprogramm gehört auch das Warten auf eine freie Parklücke, selbst eine lokale Berühmtheit wie er muss sich in die Autoschlange einreihen. Zeit genug, um einen kurzen Abriss seines Werdegangs zu liefern, sein Blick zwischen der Journalistin auf dem Beifahrersitz und dem Geschehen auf dem Parkplatz in der Altstadt von Veltimiglia pendelnd. Anfang 2001 kam er aus Argentinien nach Frankreich, „ein knappes Jahr vor dem endgültigen Zusammenbruch Argentiniens“, um die klassische französische Küche von Grund auf zu lernen – mit dem Plan, nach drei Jahren zurückzukehren und in Argentinien wieder ein Lokal zu eröffnen. „Aber“, sagt Colagreco gedehnt und lässt ein Punktpunktpunkt in der Luft schweben, bevor er lachen muss. In Paris kochte er zunächst bei Bernard Loiseau, dessen Schicksal zur Inspiration für den Zeichentrickfilm Ratatouille werden sollte. Von Loiseaus schweren Depressionen wusste Colagreco; dass sich sein Lehrmeister aber im Jahr 2003 erschießen würde, nachdem ihn der Gault & Millau um zwei Punkte auf drei Hauben zurückgestuft und die Zeitung Le Figaro Gerüchte verbreitet hatte, auch der Guide Michelin würde den Dreisternekoch ab­werten, war dennoch nicht vorherzusehen. „Er tötete sich einfach nach ­einem normalen Arbeitstag“, erzählt Colagreco. „Er brannte nur für das Kochen. Und er hatte schon früher einmal geäußert, dass er sich umbringen werde, sollte er seinen dritten Stern verlieren. In seinem Selbstbild war er irgendwann nur mehr eine öffentliche Persönlichkeit. Die wohl größer geworden war als der Mensch dahinter.“ Der Selbstmord Loiseaus war für dessen argentinischen Schützling schwer zu verdauen. „Er war derjenige, der mir die Haute Cuisine eröffnet hat.“ Ein Kontrollblick auf die Situation auf dem Parkplatz, noch immer keine Bewegung vor dem Schranken. „Einen Monat nach Loiseaus Tod bin ich dann zu Alain Passard ins Arpège ge­gangen.“ Stilistische Einflüsse aus diesem auf Gemüse spezialisierten Pariser Restaurant sind auch heuer noch in der Mirazur-Küche klar erkennbar. „Nach meinem Abgang im Arpège hat Alain Passard vier Jahre nicht mit mir gesprochen, auf keinen Anruf reagiert, nichts. Als ich ihn besuchen wollte, hat er mir die Tür vor der Nase zugeschlagen.“ Es brauchte die hartnäckige Vermittlung von Freunden, um den eigenwilligen Lehr­meister ins Mirazur zu bringen. Worauf Colagreco stolz ist: „Es war das erste Mal, dass Passard einen ehemaligen Schüler in dessen Restaurant besuchte.“

Auf die Zeit im Arpège folgten, bevor er 2006 das Mirazur eröffnen sollte, ein paar Monate in Alain Ducasses Plaza Athénée, ebenfalls in Paris. „Puh, das war hart. Es war genau die Zeit, als ein Küchenchef den anderen abgelöst hatte, wir mussten die drei Sterne aber natürlich behalten. Ducasse war ab und zu da, hat aber nie gekocht. Ich habe um halb sieben in der Früh angefangen und bin um halb zwei in der Früh gegangen.“ Was er dort gelernt habe? „Druck auszuhalten und Perfektion. Für einen Gang mussten wir Kaviarkörner einzeln mit der Pinzette zu einer Perlenkette anordnen“ – Colagrecos Gesichtsausdruck spricht Bände. Endlich ist ein Parkplatz frei.

Den Hallenteil mit der konventionellen Ware lässt der Koch links liegen, steuert zielstrebig die Tische der Produzenten seines Vertrauens an. Hier eine kräftige Umarmung, garniert mit ein paar deftigen Schulterklopfern, hier eine Ghettofaust, da ein betroffenes Gesicht, wenn er erfährt, dass es dem Sohn einer Bäuerin wieder schlechter geht. Mit den Händlern spricht er ausnahmslos Italienisch. „Wir auf der französischen Seite sprechen ja auch alle Italienisch, aber kaum passiert man die Grenze, spricht keiner Französisch.“ An einem Stand füllt er sich ­Enteneier in einen Kübel und lässt sich diesen unter dem Tisch aufbewahren, er wird ihn auf dem Rückweg holen. Junger Lauch wandert ebenso in dünne Plastiksackerln wie Bittersalat. Einem Bauern zeigt er auf seinem Handy stolz ein Foto von einer exorbitant großen Roten Rübe. Diese Kolosse, nach Jahren in der Erde zwei bis drei Kilo schwer, kommen aus dem Gemüsegarten des Mirazur und sind Teil eines Signature Dishes: Sie werden in Salz gebacken, dünn aufgeschnitten und mit hausgemachtem Obers sowie Störkaviar zu Rüschen drapiert. Man kombinierte das Rüben-Chiffon aber auch schon mit Heidelbeeren sowie, wenn es sich um eine Goldrübe handelte, mit Pfahlmuscheln und Safransauce. Beim Honigstand wird Colagreco emotional, fällt in gestenreiches Schwärmen, besseren Honig als diesen aus dem Hinterland werde man nirgends bekommen. Er fragt nach einem, dem einen Glas, reicht persönlich den hölzernen Einwegverkostungslöffel und wartet auf die angemessene Reaktion. Stimmt, wow. Eine schnelle Runde durchs Fischgeschäft, man kennt ihn auch hier, obwohl er die Ware für das Mirazur zum großen Teil von zwei Vertrauensfischern bezieht. „Vor ein paar Jahren hatte Menton noch sieben Fischer, heute sind es zwei. Wir kaufen, was wir bekommen. Nicht alle Gäste eines Abends bekommen den gleichen Fisch, das geht sich meist gar nicht aus.“ Ein schneller Zwischendurchkaffee in einem Lokal neben der Markthalle, und er tritt den Rückweg an – nur nicht auf die Enteneier vergessen! Ganz direttissima geht es nicht, Colagreco wird wie schon bei der ersten Runde da und dort aufgehalten mit dem Wunsch nach einem gemeinsamen Selfie. Man kennt ihn auch dank seiner Auftritte in Masterchef Italia – „ist das nicht dieser Koch …?“ Auch vor der Halle muss sich Colagreco noch einmal fotografieren lassen. Plötzlich bemerkt er die Plastiksackerln in seiner Hand, sein Blick wird skeptisch: Macht sich vielleicht nicht so gut, ist aber eben jetzt so. Und der Blick richtet sich wieder gen Handykamera.

Nach dem Mittagessen mit Julia Colagreco, noch in Ventimiglia, führt der Küchenchef zu seinem Garten, in der Gasse hinter dem Restaurant gelegen. Das Mirazur ist heute als Farm-to-table-Restaurant bekannt. Auf einem großen Areal mit denkmalgeschützten Villenruinen und den Resten steinerner Becken, einst der Sommersitz von Belgiens König ­Albert, pflanzt Colagrecos Neffe Nahuel di Gregorio zahlreiche Gemüsesorten für das Lokal. Manches wächst direkt in den alten Becken, anderes schmiegt sich an sonnenerwärmte Steinmauern. Eine massive Felswand, die Mentons besonderes Mikroklima ermöglicht, klemmt den Garten gleichsam zwischen Meer und Hinterland ein. Hier wachsen nicht nur Erbsenranken, zwischen denen Colagrecos kleiner Sohn herumschurlt und sich den Mund mit jungen Schoten vollstopft – „er ist verrückt nach Erbsen!“ –, sondern auch bunte Paradeiser, Senfblätter, Kohlrabi, gelbe Himbeeren … Erdbeeren werden von bewusst als Nachbarn gesetzten Zwiebeln vor Ungeziefer beschützt, das Grün der Zwiebeln indes hat der Gärtner zu Knoten geschlungen, um das unterirdische Wachstum anzuregen. „Und jetzt zu den Hühnern“, gibt Mauro Colagreco (er ist direkt aus der Küche in den Garten gekommen, trägt noch die weiße Kochjacke) die Order aus. Im Gehege hebt er eine auffallend gefiederte Henne mit poppiger Mähne auf. „Das ist Tina Turner.“ Tina Turner sitzt ganz ruhig in den breiten Händen des Argentiniers. Auch ihr dürfte der Koch schon ein Begriff sein, sie verschont ihn aber mit Selfie-Wünschen. Die Eier aus dem Garten werden in der Küche unter anderem für Desserts verwendet: „An sich dürfen wir das nicht mehr, neue Bestimmungen, ist mir aber egal.“

Mit diesem Garten, von dem man fast ebenso prachtvolle Ausblicke aufs Meer hat wie aus dem Speiseraum des Mirazur, ist die Selbstversorgung aber noch lange nicht zu Ende. Hinter dem Zaun auf der anderen Straßenseite wachsen Feigen und Erdäpfel. Die Erdäpfel haben es zu einiger Bekanntheit gebracht: Sie werden in murmelgroßem Zustand geerntet, also in einem Format, in dem man sie nirgends zu kaufen bekommt. „Early potatoes of the garden“ nennt man die winzigen Kugeln auf der Karte. Kombiniert werden sie, explizit bissfest gegart, einmal mit einer zitrusduftigen Oberssauce, Tapioka und Wildforellenkaviar, ein anderes Mal mit fein geschnittener Kabeljauschwimmblase und zerzupften lila Schnittlauchblüten, mit dem „Bart“ von Steinbutt (dem äußeren, oft missachteten Teil des Filets) oder mit Fisolen und Kapuzinerkressecreme.

Die Liste der Gerichte, die im Mirazur allein in diesem Jahr schon serviert wurden, ist irrwitzig lang. Colagreco hat nach eigener Aussage keine zwei Tage dasselbe Menü, sondern agiert je nach Fang-, Ernte- und Marktlage. Mitunter tatsächlich im Mikromengenbereich, etwa bei Wildpilzen, Innereien oder Artischockenherzen aus dem eigenen Garten, Letztere gerne mit sardellenwürziger Bagna-cauda-Sauce serviert. Der Koch empfindet diesen Arbeitsmodus einerseits als Risiko: „Wir müssen uns sehr oft etwas ausdenken, ohne es wirklich einstudieren zu können.“ Es halte ihn und sein Team aber in Bewegung, es beflügle. Es kann durchaus vorkommen, dass die Sommelière ein Glas Wein auf den Tisch stellt, in Vorbereitung auf den nächsten laut Plan folgenden Gang, sich kurz darauf aber schon wieder mit einem neuen Glas nähert: „Der Chef hat gemeint, die Morcheln, die sie jetzt noch übrig haben, sind doch nicht gut genug.“

Die Gerichte des Mirazur werden freilich oft, was alles einfacher macht, nach dem Baukastenprinzip zusammengestellt: Die Bagna-cauda-Sauce zum Beispiel gibt es nicht nur zu den wenigen kostbaren Artischocken aus dem Garten, sondern auch zu einer Art Pasta, die aus Calamarituben geschnitten wird. „Julia Colagreco mag die Konsistenz von Tintenfisch an sich gar nicht. Das hat den Chef dazu inspiriert, ihn in Nudelform zu servieren.“ Die Lieferanten von Meer und Hinterland schaffen es oft auf die täglich geänderten und stets in mehreren Sprachen verfügbaren Speisekarten des Mirazur: „Schafe von Mrs. Michelle“, steht da etwa, „Gamberoni, gefischt von unserem Freund Giuseppe“ oder „Milchlamm von Anne-Marie Curti“.

Außer den zwei Gärten unweit des Restaurants hat man noch einen Zitrusgarten zur Verfügung, zu dem die Stadt Menton dem Mirazur-Team Zutritt gewährt. Das Anwesen liegt ebenfalls hoch über dem Meer. Colagreco steht, schaut, deutet, lächelt zufrieden. Und schlüpft unter einen Baum, an dem – es ist Mai – noch einige letzte Früchte hängen, um eine davon zu pflücken. „Orange cadenera“, glaubt er. Stimmt nicht, stellt sich später heraus, zu groß dafür. Er will auch noch die höher gelegenen Haine herzeigen, von dort soll der Blick aufs Meer noch besser sein. Ein Bienenangriff beendet den Ausflug abrupt. „Lauf!“, schreit Colagreco aufgescheucht, wild fuchtelnd seine dunklen Haare zerpflügend. Beim Auto sagt er: „Hat mich doch glatt eine unter den Haaren gestochen!“ Wirklich erschüttern kann ihn das nicht. Der Besuch des von Wachhunden beschützten Zitrusgartens wird als theoretischer Unterricht fortgesetzt. Die Liste der derzeit dort vertretenen Varietäten, hausintern als „Récapitulatif agrumes“ gespeichert, umfasst genau einundsiebzig Posi­tionen: Mandarine Cléopâtre, Lime de Tahiti, Orange Buckeye, ­Pomelo Royal … Im März serviere das Mirazur Menüs, in denen in jedem Gang eine bestimmte Zitrusfrucht eine tragende Rolle spiele, erzählt Colagreco. „Wir verwenden alles. Schale, Fruchtfleisch, Saft, Blätter, Blüten.“ Schweinsbauch wird mit Blutorangen geschmort, Kumquats begleiten Skorpionfisch und Rouille mit schwarzem Knoblauch, Yuzusauce belüftet ein Gericht aus den per se eher dumpfen Zutaten Kalbsbries, Karfiol und Herzmuscheln. Und jene Zitrusfrucht, die bisweilen Teil des schon erwähnten Erdäpfelgangs sein darf, ist die Sudachi, eine kleine grüne japanische Sorte.

Wieder heißt es ins Auto steigen: Colagreco muss heute noch zu seinen Käsemachern nahe dem Städtchen Sospel am Rande des Mercantour-Nationalparks „Die werden sich leider bald zur Ruhe setzen. Schrecklich.“ So oft er kann, fährt er persönlich seine Laibe abholen und den Kühen hallo sagen. Praktisch, dass seine jüngste Neuerwerbung, ein ausgedehntes hügeliges Grundstück, genau auf dem Weg dorthin liegt. Colagreco steuert seinen Kleinwagen also die kurvigen Straßen hinauf, sich nicht immer an die vorgesehene Straßenhälfte haltend, und erzählt, wie wichtig ihm das Hinterland sei. „Wer ins Mirazur oder prinzipiell an die Côte d’Azur kommt, glaubt immer, hier dreht sich alles nur ums Meer. Aber wir haben genauso die Berge. Mit Wild, Pilzen, Kräutern, wilden Beeren, Milchprodukten.“ Er biegt abrupt ab, parkt auf hohem Gras vor einem klapprigen Gatter. „Los geht’s!“ Auf seinem neuen Grundstück wachsen knorrige Olivenbäume, aus denen er demnächst eigenes Öl pressen möchte – „technisch haben wir schon mit den alten Oliven, die noch dran waren, als ich das Land hier gekauft habe, geübt“ –, zahlreiche Kräuter wie Schafgarbe, Obstbäume und Haselnussstauden. „Unsere Stage-Köche schicken wir hierher zum Foraging-Üben“, sagt Colagreco und lacht. „Wer bei mir beginnt, muss gleich einmal in den Wald und jetzt auch auf diese Wiesen hier.“ Was der derzeitigen Nummer eins der Welt vorschwebt: Das Mirazur soll nicht nur ein Farm-to-table-Restaurant sein, sondern einen ganzen Landstrich abbilden.

Mirazur
30 Avenue Aristide Briand
06500 Menton, Frankreich
Tel.: +33/4/92 41 86 86
www.mirazur.fr