Die Liebe zum Job geht durch den Magen

Speisen in der Nachbarschaft von Beamten, Versicherungsmenschen und Bankern. Über Betriebskantinen, die Appetit machen, und wie sich die Zeiten des Homeoffice auf dieses gastronomische Geschäftsmodell auswirken.

Text von Alexander Rabl Illustration von Eva Vasari

La cantina, das ist in Italien ein kulinarische Freuden verheißender Begriff. Die Kantine hingegen war über viele Jahre eine Drohgebärde für Esser. Es ist die zweckgebundene, alleine der Aufrechterhaltung verpflichtete, lustfreie Nahrungsaufnahme, in Gesellschaft von Kollegen, Intrigenschmieden, umwölkt vom Geruch des Cordon bleu. Warum dann haben wir diesem Thema hier Platz eingeräumt? Weil es auch Ausnahmen gibt. Und weil das Klischee der Betriebskantine, die man nur wegen der Kalorienzufuhr betritt, vielleicht bald Essenspause hat. Unsere Geschichte beginnt in Graz.

Graz vermeidet es eigentlich, durch erfindungsreiche Gastronomie Aufsehen zu erregen. Und doch ließ gerade die Hauptstadt der Steiermark im vergangenen Sommer mit einer spannenden Eröffnung aufhorchen. Es war ausgerechnet eine Betriebskantine, genau genommen ein Hybrid zwischen Kantine und Restaurant. Konstantin
Filippou hatte seiner Heimatstadt das Arravané geschenkt. Der Name steht für eine Pferderasse aus dem Peloponnes. Falls Sie es nicht wissen: Filippou ist Griechisch und steht für „Freund des Pferdes“. Pferdefleisch steht im Arravané allerdings bislang nicht auf der Karte, dafür viel Mediterranes mit prononciert griechischer Note, etwa Filippous sensationelles Garnelen-Saganaki. Er wollte, so sagt er, immer schon etwas mit „Soul Food“ machen. Also das Gegenteil der oft als intellektuell und kühl empfundenen Haute Cuisine. Das gestalterisch bemerkenswerte Lokal, zu dem auch ein Café gehört, steht auf dem neu ­errichteten Betriebsgelände der Merkur-Versicherung.

Griechisch für Versicherung

Deren über 500 Mitarbeiter dürfen zum ersten Mal in der Geschichte des Unternehmens das Privileg einer eigenen Kantine genießen, denn bisher befand sich die Versicherung in der Stadt, und die Mitarbeiter schwärmten mittags in die umgebenden Wirtshäuser aus. Christian Kladiva, Vorstand von Merkur, hatte etwas Spezielles im Sinn. Er sagt: „Wir wollten etwas auf die Beine stellen, das dem Spirit des Unternehmens entspricht: nachhaltig, qualitätsvoll und gesundheitsfördernd. Etwas, das unseren Mitarbeitern Freude macht.“ Der Anspruch wies über das landesübliche Niveau weit hinaus. Man habe sich Google und Facebook angesehen und sich inspirieren lassen. „Es war die erste Kantine in der ­Unternehmensgeschichte. Wir waren ehrgeizig, es sollte etwas Besonderes sein.“ Die Kantine als Aushängeschild einer Company, etwas, das Unternehmen in Österreich noch lernen müssen, lernen werden. Nora-Selina Pein, die bei Konstantin Filipppou in Wien den Mâitre gab und jetzt das Lokal leitet, stellte ein gutes Team zusammen. Wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Auftraggeber und Gastronomen? Pein sagt: „Wie in solchen Fällen oft üblich, bekommen die Mitarbeiter des Unternehmens einen Bonus, eine Stützung, für ihren Lunch.“ Der beträgt in diesem Fall etwa 8 Euro. Was darüber hinausgeht, bezahlen sie selbst. „Was die Gäste gerne mögen, ist diese Mischung aus österreichisch und mediterran“, fügt Nora Pein hinzu. „Auch Schweinsbraten wird zwischendurch gerne mal gegessen. Oder Pinsa, eine süditalienische Variante der Pizza.“

Im vergangenen März tauchte das C-Wort auf. Seitdem sind Teile der Belegschaft der Versicherung und des benachbarten Verlags permanent oder abwechselnd im Homeoffice. Die ebenfalls in der Nachbarschaft befindliche Messe ist geschlossen. Wie sich das auf den Geschäftsgang auswirkt, ist eine eher rhetorische Frage. „Wir mussten unseren Plan, was die Auslastung und den Umsatz betrifft, natürlich kräftig korrigieren“, sagt Nora Pein. „Jetzt sind wir froh, dass wir die zwanzig Leute unseres Teams fix beschäftigen können.“ Optimismus ist der beste Impfstoff in dieser Krise. Oder wie Konstantin Filippou sagt: „Wir versuchen, trotz der Umstände einen kühlen Kopf zu bewahren.“ Griechisches Soul Food hilft vielleicht dabei.

Modern Japanisch für Banker

Dass gute Gastronomie neben der Motivation der Mitarbeiter gut fürs Image ist, hat die Erste Bank in Wien erkannt. Ihr Iki am Erste Campus ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit mit dem Mochi-Team. Während man sich im winzigen Mochi-Original oft vorkommt wie ein Teil einer Bento-Box, ist das Iki hell, großzügig dimensioniert und architektonisch absichtlich zwischen der Funktionalität einer Kantine und dem schicken Ambiente eines zeitgeistigen Restaurants angesiedelt. Kein Wunder, dass auch hier die nicht zum Bankgeschäft gehörenden Gäste eine wichtige Zutat für das Betriebsergebnis darstellen. Die Mochi-Leute haben ihre Klassiker eingebracht: Ramen, Spinatsalat mit Sesam und Trüffel-Miso-Dressing, knusprige Ente oder gratinierte Melanzani zum Einstieg.

Koreanisch für Finanzberater

Alles, was die zeitgemäß kalibrierten Gaumen der Österreicher erfreut, findet sich mittlerweile auf den Karten moderner Betriebskantinen. Neben mediterraner Küche und modernem Japan ist dies Asien, Schwerpunkt Korea. Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, als Sohyi Kim und der Chef des Finanzberaters KMPG die Pläne für eine Kantine schmiedeten, die die Mitarbeiter gesund und glücklich machen würde. Nach einem Essen bei Kim kocht soll der Manager gesagt haben: „Wenn meine Mitarbeiter so gutes Essen kriegen würden, wären sie glücklich.“ Chingu ist Koreanisch für „Freunde“. Und das Konzept lautet: Koreanisch im Family Style. Ab halb zwölf vormittags gehört das Lokal den Mitarbeitern des Unternehmens, die ein täglich wechselndes Menü angeboten bekommen. Ab 13 Uhr steht es allen offen. Ein Salat mit Tuna, Chili, in Honig glacierten Walnüssen, Granatapfelkernen, Papaya, Sesam und viel Grün steigert Kraft und Laune, auch wenn es vorher ein mehrstündiges Meeting gab. Danach etwa Kims Nachspeisenklassiker, die Zitronengras-Crème-brûlée. Die Freundschaft ist eigentlich ein Joint Venture zwischen der Wirtin und dem Unternehmen, ein Modell, von dem auch in der Zeit der prekären Verhältnisse der Gastronomie die Beteiligten profitieren. Das geschäftliche Konzept ist eine Besonderheit. Kim sagt: „Die KPMG-Mitarbeiter bekommen das Essen zum Sonderpreis. Dafür wird jetzt, wenn viele im Homeoffice sind, die Miete ein wenig gesenkt.“ Denn die Freundschaft ist eigentlich ein gemeinsames Unternehmen zwischen Kim und KMPG. Wie die Consulter sagen: Eine Win-win-Situation. Und trotz Homeoffice – die nur sechzig Plätze des Chingu sind mittags schnell gefüllt.

Backhendl für Beamte

Manche Kantine hat es bereits zu einem über Wien hinausreichenden Ruf gebracht. Mittlerweile legendär ist Andreas Wojtas Minoritenstüberl im Unterrichtsministerium. Artikel über Wojta gab es in der Zeit und in der Süddeutschen. Der Einzugsbereich reicht von Innenministerium und Bundeskanzleramt über Unterrichtsministerium bis zum Außenministerium. Andreas Wojta sagt: „Vom Minister bis zu den Müll-Leuten (das vom Wirt wegen der Farbe der Uniformen liebevoll als „Karotten-Ballett“ bezeichnet) kommen alle zu mir, eine Melange, die mir großen Spaß macht. Deshalb kann ich auch eine große Karte anbieten, abgesehen von den Fixpunkten, auf welche die Gäste bestehen: Montags und Dienstags gibt es Backhendl, mittwochs Beuscherl, Fisch am Donnerstag, weil viele am Freitag nicht arbeiten …“ Hier stärkt sich das Wiener Beamtentum mit kräftigen Saucen, großen Portionen und fast schon in Vergessenheit geratener Wiener Küche. Die Gäste bezahlen mit Speisenmarken. Andreas Wojta hat die Küche seiner Waldviertler Großmutter im kleinen Finger. Er sagt: „Den Erdäpfelteig habe ich eins zu eins von meiner Großmutter übernommen. Typische Wiener Küche, etwa Linsen, sogenannte Kindheitserinnerrungen, sind immer gleich aufgegessen.“ Wojtas Öffnungszeiten von 11.30 bis 13.30 Uhr lassen auf lais­sez faire schließen, doch das Gegenteil ist der Fall. Der bei Reinhard Gerer ausgebildete Küchenchef, der im Aubergine bei Witzigmann gearbeitet hat und eigentlich eine Stelle bei den Haeberlins versprochen bekommen hatte, als ihn die Mutter aus Krankheitsgründen in ihr Minoritenstüberl rief, arbeitet seit einiger Zeit als One-Man-Show. „Ich stehe um vier Uhr auf, gehe um fünf Uhr einkaufen, beim Bauern, wo ich Erdäpfel und Milch bekomme, Fleisch kommt aus dem Waldviertel. Ab halb sieben bin ich im Geschäft, um 11.30 Uhr geht es los. Von jedem Gericht gibt es eine gewisse Menge, es ist jeden Tag alles frisch. Wenn ein Gericht aus ist, wird es von der Karte gestrichen.“ Und das Thema Beamte im Homeoffice? Muss man sich um das Minoritenstüberl Sorgen machen? „Gar nicht, obwohl natürlich zurzeit weniger Leute in der Stadt unterwegs sind.“ Kurz gesagt: „Es ist schon ein Unterschied zwischen 2019 und 2020.“ Wojta ist sein eigener Arbeitgeber. Und wie er sagt und eine gewisse Entspanntheit andeutet: „Der Beruf ist mein Hobby.“

Trüffelnudeln für den Staatsanwalt

Im Justizcafé am Dach des Justizpalastes, gleich in der Nachbarschaft zum Parlament, das zum Essen spektakulären Ausblick serviert, speisen Staatsanwälte, Richter und ihre Entourage, auch vom Par­lament schaut oft jemand vorbei. Hier waltet Ivo Brnjic seines Amtes, ein Gesamtkunstwerk aus Unternehmer, Gastgeber und Koch. Der aus Kroatien vor langer, langer Zeit nach Österreich gekommene Gastronom mit dem perfekten Wienerisch ist zu ­allem Überfluss noch ein guter Koch. Legt er selbst Hand am Herd an, gehören die Trüffelnudeln zu den besten der Stadt, und das Wiener Schnitzel kann es mit den Verwandten an den einschlägig dafür berühmten Adressen locker aufnehmen. Danach: Topf-enschmarren mit glasierten Äpfeln und viel Butter. Natürlich ist das Justizcafé zu groß für eine Einmannküche. „Ich kann nicht alles selbst machen“, sagt Ivo Brnjic, und: „Meine Mitarbeiter liefern verlässlich gutes Handwerk.“ Was zu beweisen ist: Ein feines gekochtes Rindfleisch auf Kürbispüree ist ein Wirtshausgericht, das auch am freien Markt – und damit um locker die Hälfte teurer – seine Fans bekäme. Die ewige Frage, die erwartete Antwort: Seit dem Lockdown im Frühjahr ist ein Teil des Geschäftsmodells Justizcafé brüchig geworden. Events, das feine Netzwerken aus Politik und Wirtschaft, das abends das Café füllte, finden zur Zeit kaum statt. Doch der Andrang zur Mittagszeit, auch zum Frühstück, das zu den feinsten der Stadt gehört, ist immer noch ausgiebig. Ivos Stammgäste, die ihn allesamt ins Herz geschlossen haben, tun einstweilen ihr Bestes, ­damit die Zahlen nicht in den roten ­Bereich rutschen.

Minoritenstüberl
Minoritenplatz 5, 1010 Wien
Tel.: 01/533 52 81

www.andiwojta.at

Justizcafé
Schmerlingplatz 10, 1016 Wien
Tel.: 01/521 52 38 28
www.justizcafe.at

Iki
Am Belvedere 1, 1100 Wien
Tel.: 050/1001 3600
www.iki-restaurant.at

Arravané
Conrad-von-Hötzendorf-Straße 84 8010 Graz
Tel.: 0316/81 82 81
www.arravane.at

Kim Chingu
Althanstraße 21–25, 1090 Wien
Tel.: 0664/88 18 56 76
www.kimkocht.at