Die neue Spaß-Küche

Experimental, molekular, dekonstruierend – diese europäischen Restaurants überraschen mit neuem Stil und spannenden Kochtrends.

Die neue Spaß-Küche

Text von Hans Mahr Fotos: Francesc Guillamet
Es ist zwar schon einige Jahre her, dass Ferran Adrià auf den Klippen hinter dem kleinen Städtchen Rosas den Thron als bester Koch der Welt erobert hat, aber noch immer ist das "El Bulli" eine Art heiliger Gral der Kulinarik. Aber das "El Bulli" ist inzwischen erwachsen geworden: Ein Lokalaugenschein im Herbst zeigt die neue Ernsthaftigkeit des Katalanen an der spanisch-französischen Grenze.
Vorbei ist die Zeit der Orangen-Düfte aus dem Luftballon, der Chili-Espumas und Ingwer-Sprays und all der Gags um des Gags willen: Ferran Adrià präsentiert heute seine moderne Experimentalküche puristisch, als Art gelebte Warenkunde. Ein süßes Stück Keks mit Joghurt und Meersalz zum Anregen der Papillaren, und dann geht es 37-mal zur Sache. Denn auf die Kleinteiligkeit seines Angebots will Adrià nicht verzichten. Aus dem Sortiment 2007: drei verschiedene Knoblauchzehen zum Verkosten (einmal richtig, einmal japanisch, einmal aus Soja), sieben verschiedene Algensorten (ich wusste gar nicht, dass es so viele genießbare gibt), fünf frische Mandeln mit Mandelwurzelöl und eine heiße Himbeere mit Himbeervinaigrette. Und dann natürlich viel Abenteuerliches, das zeigen soll, wie extrem divergente Geschmacksrichtungen schlussendlich doch zusammenfinden: Anchovis mit Schinken und Joghurt, Polenta-Gnocchi mit Kaffee und Safransauce, Miso-Kaviar im Fischsud, Joghurt-Austern mit Sherry.
Zu guter Letzt kommt auf den Teller, was man wahrscheinlich sonst nirgendwo bekommt (und einem, ehrlich gesagt, auch bisher nicht abgegangen ist): Knochenmark vom Tuna und vom Kalb und ein Teriyaki-Fischmagen von der Makrele. Beim einzigen Fleischgang (Fleisch schätzt Ferran Adria nicht besonders) gibt’s Hasensuppe mit Apfel. Der Meister lässt einen etwas verwirrt zurück, offensichtlich probiert er selbst noch aus, wohin sich die Experimentalküche in den nächsten Jahren entwickeln wird.
Wo sonst in Europa gibt es noch neue, spannende Küche? Experimental, molekular, dekonstruierend – oder wie die Modeausdrücke für die überbordende Kreativität der Hyper-Küche immer heißen mögen. Die folgende Auswahl ist natürlich sehr individuell und eher nach dem Spaßfaktor zusammengestellt, denn objektive Kriterien sind ohnehin bei dieser Art der Küche kaum anwendbar.
Bleiben wir in Spanien. Von den jungen, nachrückenden "Wunderkindern" ist vor allem der 34-jährige Baske Andoni Luis Aduriz im "Mugaritz" zu nennen, der unweit von San Sebastian in einem umgebauten Bauernhaus seine Auffassung von der neuen Küche zelebriert. Auch hier der gleiche Grundtrend wie bei Ferran Adrià. Einerseits puristisch, andererseits das gekonnte Vereinen von verschiedenen Geschmacksrichtungen, von denen man gar nicht wusste, dass sie auch zusammenpassen können. Schafsmilchtopfen mit Heu (!) und süßen Kartoffeln, Löwenzahnsuppe, Wolfsbarsch in Sardinen und Safransauce, Käsegnocchi in der Schweinsbouillon, Schweinsschwänze mit gebratenen Langostinos und nachher sechs baskische Bauernkäse zum Verkosten oder eine violette Karotte mit Vanille und Eiscreme von der Schafsmilch. Zum Abschluss die "Interpretation des Wahnsinns" (so Mugaritz selbst): ein feuchter Schokoladekuchen mit einer kalten Mandelcreme im Kakaorauch.
Ähnlich verrückt, aber wie bei Mugaritz im Baskenland auf einer lokalen Tradition aufbauend, präsentiert sich Davide Scabin im benachbarten Italien. In Rivoli, ein paar Kilometer südlich von Turin, in einem Flügel eines Schlosses aus dem
13. Jahrhundert (das ganze Schloss ist ein Museum moderner Kunst) präsentiert er in seinem "Combal.Zero" nicht nur Dinge zum Essen, sondern auch Dinge zum Spaß haben.
Zum Beispiel eine flüssige Pizza, "Zuppizza" genannt, die aus seiner Mozzarella-Suppe mit Tomatenfond, Miniatur-Basilikumblättern und Brotkrumen besteht. Oder das in der Zwischenzeit berühmte "Cyber-Egg", ein Plastikei, aus dem man Kaviar und Eidotter herauszuzeln muss. Noch mehr Spaß gefällig? Man koste das "Fossil" aus Lehm, das man mit einem Hammer aufschlagen muss, um nachher den gedünsteten Fisch rauszulöffeln. Wem diese Art und Weise von Kreativität Spaß macht, der kann auch ein Mitnehm-Set kaufen, das aus sechs verschiedenen Gläsern mit Piemonteser Spezialitäten, einem Glas Barbera und einem Paket Spielkarten besteht. Sozusagen um den Esprit eines Wirtshauses im Piemont daheim nachvollziehen zu können. Wobei man durchaus dabei auch Schnapsen darf.
Etwas ernsthafter geht es wie immer in Frankreich zu. Zwei Pariser Restaurants bieten sich dem kulinarischen Grenzgänger an: das "L’Astrance" von Pascal Barbot ist zwar nicht so verrückt, aber dafür bei aller Verspieltheit dem Aufeinanderprallen der Aromen verpflichtet: Gänseleber mit rohen Pilzen und Zitronenpüree, Jakobsmuscheln mit Curry und einer Seealgen-Bouillon, ein Steinbutt mit Auberginen-Kaviar und schwarze Trüffel mit Sellerie. Der Preis ist allerdings sehr "parisienne": pro Person 250 Euro mit Weinen. Da geht es im "Le Chateaubriand" – ein altmodisches Bistro, das vom baskischen Chef Inaki Aizpitarte auf "modern" umgemodelt worden ist – schon etwas billiger zu. 80 bis 100 Euro, und dafür werden Geschmackssensationen wie mariniertes Schweinefleisch mit Lakritze oder ein Geschnetzeltes vom Tuna-Belly serviert. Beim nächsten Paris-Besuch unbedingt ausprobieren!
Weiter nördlich in Belgien ist der neue Superstar Peter Goossens tätig. Sein Restaurant "Hof Van Ceve" etwas westlich von Brüssel hat schon drei Michelin-Sterne überreicht bekommen und ist trotzdem noch ein Platz zum Wohlfühlen. In dem hundert Jahre alten Bauernhaus werkt Goossens zwischen Avantgarde und, wie er es nennt, "Cuisine de Grand-mère". Was die Großmutter tatsächlich zu seinen Kreationen sagen würde, wollen wir uns lieber nicht vorstellen. Tuna und Krabben auf Gurkenjelly, Hühnerragout in einer ausgehöhlten Eierschale, ein Risotto mit Haselnussbutter, Sellerie und Blutwurst, Austern mit Kohl und ein fantastisches Sorbet vom süßen belgischen Bier. Am besten rechtzeitig reservieren und gleich in der Nähe in einem der rustikalen Hotels übernachten, bevor man am nächsten Tag nach Brüssel zurückfährt.
Ähnlich verwegen und großartig zugleich sind die Kreationen des besten holländischen Kochs, Jonnie Boer aus Zwolle (nur 10 km zum Meer), der übrigens vor kurzem auch im Salzburger "Hangar-7" als Gastkoch tätig war. Im "De Librije" (Bibliothek) hat es ihm vor allem das Meeresgetier angetan. Sein 10-Gang-Menü um 145 Euro ist ein wahres Feuerwerk an unüblichen, aber doch wirkungsvollen Kombinationen. Den Lobster paart er mit Lavendel, die Jakobsmuscheln mit spanischem Pata-Negra-Schinken, eine Seezunge mit Kalbsnieren und vom Kabeljau gibt’s nicht nur das Filet, sondern auch die Backerln und die Zunge. Klingt vielleicht etwas abenteuerlich, aber es schmeckt sensationell.
Zum Schluss noch zwei Tipps bei unseren deutschen Nachbarn. Dort gibt es zwar viele "junge, verrückte" Köche, aber nur wenige, die es auch tatsächlich können. Der 38-jährige Juan Amador – Schwabe mit südspanischem Vater – kocht in Langen bei Frankfurt auf, und zwar aufregend. Manchmal gibt’s Anleihen bei Ferran Adrià, manchmal fühlt man sich im Baskenland, vieles hat aber Amador tatsächlich selbst kreiert. Der Petersfisch kommt mit Apfel und Räucheraal und die Stubenküken mit Joghurt und roten Rüben auf den Tisch. Bei den Desserts schlägt der Meister dann besonders engagiert zu – mit weißer Schokolade und Kren, mit Minze und Karamell, mit Erdnusskrokant und Meersalz.
In Berlin legt Tim Raue im "Restaurant 44" (im Swissotel am Kurfürstendamm) noch einen Gang zu. 2007 wurde er "Koch des Jahres" in deutschen Landen. Zu Recht. Am liebsten kombiniert er regionale Produkte mit Avantgarde. Etwa Schweinebauch mit Tintenfisch, Zackenbarsch mit Heringskaviar, Kaninchen mit Kakao und zum Drüberstreuen Brombeer-Kefir mit Rosmarin-Eis oder eine Puffreis-Schnitte mit Pfeffer-Baiser.
Zugegeben, ein bisschen abenteuerlustig muss man schon sein, wenn man die neue Küche quer durch Europa probieren will. Aber die neuen Stars sind eine Reise wert.
Nur als Randbemerkung: in keinem der angeführten Etablissements darf im Speisesaal während des Essens geraucht werden, komischerweise funktioniert’s überall, nur bei uns daheim in Österreich, wird man selbst in Sternenlokalen noch immer mit dem Rauch vom Nachbarn "beglückt". Auch das ist "verrückte Küche", allerdings made in Austria.

Adressen

ENGLAND
ST JOHN BAR & RESTAURANT SMITHFIELD
26, St John Street
London, EC1M4AY
Tel.: +44/2/72 51 08 48
www.stjohnrestaurant.co.uk
RESTAURANT FAT DUCK
1, High Street
Bray, Bershire
SL6 2AQ
Tel.: +44/1/628 58 03 33
www.fatduck.co.uk

SPANIEN
EL BULLICala Montjo 1, Ap. 3017480 Roses, GironaTel.: +34/972/15 04 57www.elbulli.com

MUGARITZ
Otzazulueta baserria
Aldura aldea 20 zk.
20100 Errenteria
Tel.: +34/943/51 83 43
www.mugaritz.com

ARZAK
Avda. Alcalde Elosegui 273
20015 Donostia/San Sebastian
Tel.: +34/943/27 84 65
www.arzak.es

FRANKREICH
L’ASTRANCE
4 Rue Beethoven
75016 Paris
Tel.: +33/1/40 50 84 44
LE CHATEAUBRIAND129,
Av. Parmentier75011 Paris
Tel.: +33/01/43 57 45 95

BELGIEN
HOF VAN CLEVE
Riemegemstraat 1
9770 Kruishoutem
Tel.: +32/9/383 58 48
www.hofvancleve.com

ITALIEN
COMBAL.ZERO
Piazza Mafalda di Savoia
10098 Rivoli/Torino
Tel.: +39/011/956 52 25
www.combal.org

DEUTSCHLAND
AMADOR
Vierhäusergasse 1
63225 Langen
Tel.: +49/6103/50 27 13
www.restaurant-amador.de
RESTAURANT 44
Im Swissotel Berlin
Augsburger Straße 44
10789 Berlin
Tel.: +49/30/220 10-0
www.restaurant-44.de

HOLLAND
DE LIBRIJE
Broerenkerkplein 13
8011 TW Zwolle
Tel.: +31/38/421 20 83
www.librije.com