Die wirt-uelle Welt

Hoch bewertete Lokale, die es gar nicht gibt, Speisekarten aus dem Jahre Schnee, Reservierungsanfragen via fünf Kanälen – willkommen in der virtuellen Gastronomie.

Text von Eva Rossmann · Illustration von Eva Vasari

Es war einmal eine Gartenlaube in London. Was dann kam, war eine Homepage, Food-Fotos, auf denen der Chef ein Spiegelei so geschickt in Szene setzte, dass ich nie auf die Idee gekommen ­wäre, er könnte es an seinen nackten Fuß gelehnt haben. Der Name des Lokals, The Shed at Dulwich, dazu der Hinweis „nur mit Reservierung“ und eine ungefähre Adresse. Und viele, viele Bewertungen auf Trip­Advisor. Ein halbes Jahr später war das Lokal Nummer eins in London. Menschen aus aller Welt bettelten um einen Tisch. Die Geschichte ist kein Fake, bloß das Lokal war Fake. Willkommen in der WIRT-UELLEN Welt!

Natürlich wird auch noch richtig, quasi also analog gegessen. Wobei ich nicht den gleichnamigen Käse meine, der seinerseits doch auch eher Fake ist. Weil: kein Käse, sondern ein billigeres, inzwischen auch häufig veganes Produkt aus Soja oder Bakterieneiweiß, dazu Rindertalg oder Palmöl, Stärke, Emulgatoren, Aroma- und Farbstoffe, Salz und Geschmacksverstärker. Erfunden haben den Kunstkäse (schon wieder ein missverständliches Wort, weil mit Kunst hat der nichts zu tun) die Amerikaner. Wer hätte es gedacht. Auch in der Zeitrechnung vor Trump gab es sie schon, die gute alte Täuschung.

Leichter gelingt sie in Zeiten wie diesen natürlich via Internet. Was wird uns da nicht an wunderschönen Fotos, glücklichen Menschen und ebensolchen Tieren vorgegaukelt. Kecke kleine Schweinderl, die auch übers Netz muntere Weidejungrinder (nicht die Schnitzel, die aus ihnen ­gemacht werden) oder Biowurst aus ihren Artgenossen bewerben. Wer nicht mit dabei ist, der ist schnell von gestern, vorgestern und abgehängt. ­Informationen funktionieren heute online. Ein ­Restaurant, das auf sich hält, hat inzwischen eine Homepage. Ob alle hübschen Fotos tatsächlich mit dem Küchenalltag zu tun haben, sei dahingestellt. Man muss ja nicht immer alles genau wissen. Und wenn das abgebildete Schnitzel dem vom angesagten Schnitzeltempel bis hin zur Zitronen- und Petersilien­begleitung aufs Bit ähnelt, ist das vielleicht trotzdem bloß Zufall. Teuer genug, die Seite basteln zu lassen und alle Sub-Seiten noch dazu.

Ein Facebook-Account geht einfacher und ist billiger. Nur: Wer hat immer Zeit, um nachzu­sehen, was dort geschrieben wird? Und wann ist es gerechtfertigt, einen Beitrag zu löschen? Dann, wenn der Gast (es kann nur der von Tisch 13 gewesen sein, der schon beim Betreten des Lokals so missmutig dreingeschaut hat) beklagt, dass das Gansl zäh und die Bedienung zach war? Oder ist man zu angerührt? Sollte man nicht über den Dingen stehen? Zeigt quasi nicht gerade ein kritisches Posting, dass auch die vielen Lobeshymnen echt sind? Soll man ­antworten? Etwa, dass Biogänse aus Weidehaltung besser schmecken, glücklicher leben, aber auch ein eher festeres Fleisch haben als arme Turbo-Lebe­wesen, ­deren vorletzte, unglückliche Station der ­Tiefkühlschlaf war? Gibt man dem Typen damit nicht zu viel Raum?

Ähnliche Überlegungen kennen die ins Netz gegangenen Wirte auch, wenn es um die – in ihrer Glaubwürdigkeit schon besprochenen – kulinarischen Bewertungsplattformen und Onlineportale geht. Manche Gastronomen scheinen inzwischen ständig online (frei übersetzt: an der Leine) zu sein. Auf jeden Eintrag von TripAdvisor, Google Maps oder sonstige segensreiche Einrichtungen wird umgehend reagiert. Sie danken, erklären, entschuldigen, werben (manchmal sogar mit Gratis-Goodies, falls unzufriedene Gäste doch wiederkommen möchten).

Wo ist die Grenze zwischen angebrachter Entschuldigung, freundlichem Entgegenkommen und demütiger Unterwerfung? Muss wohl jeder für sich entscheiden. Dass in der Hitze der Küchengefechte schon auch etwas passieren kann, weiß jeder, der damit zu tun hat. Dass selbst die netteste Bedienung einmal einen schlechten Tag haben kann, auch. Schade eigentlich, dass unser einzigartiger Ober Rudi viel zu früh weg (und inzwischen leider auch im endgültigen Sinn) gegangen ist. Online-Reaktionen auf seinen Stil hätte ich gerne gesammelt. Vom klugen Bonmot bis zu im Abgang gemurmelten bosnischen Worten (dass es Schimpfworte waren, hat er immer bestritten, Beschwörungen seien es, weil die Hexe dort drüben sonst sicher Unglück bringe) war alles drin. Dazu sein ganzer Auf- und Abtritt; eben ein gelernter Schauspieler, dem wir zum Glück bei uns Bühne geben durften. Aber Faktoten haben es zunehmend schwer. Meist teilen sich nicht die mit, denen Unkonventionelles und Überraschendes Freude bereitet, sondern solche, denen alles Unerwartete und alles, das anders ist, ­gegen den Strich geht.

Aber: Wenn eine Gartenlaube zum Toplokal in London werden kann, wie sehr sollte man dann gepostete Meinungen ernst nehmen? Man kann sie faken, man kann gute Bewertungen kaufen oder Freunde, Gäste, Bekannte sekkieren, damit sie welche schreiben. Natürlich gibt es auch welche, die ihre ehrliche Freude über ein gelungenes Essen posten. Als Mit-Köchin und seit eineinhalb Jahrzehnten emotional an einem nicht immer unumstrittenen Lokal Beteiligte, danke ich ihnen von Herzen. Und glaube ihnen natürlich. Derartige Demokratisierungen wichtiger Informationen sind wunderbar. Trotz aller Skepsis kenne ich niemanden, der nicht schon auf Bewertungsplattformen nachgesehen hat. Wenn es nicht meine eigene Wirkungsstätte betrifft, habe ich mir angewöhnt, die ganz Guten und die ganz Schlechten zuerst zu lesen. Und mir dann zu überlegen, wer was warum kritisiert oder gelobt hat. Manchmal nützt es, manchmal nicht. Man kann diese Portale ja auch in erster Linie als Adressbücher benützen. Etwas, das der wunderbare Kulinarikfachmann (Kritiker wäre viel zu kurz gegriffen) Christoph Wagner übrigens schon vor vielen Jahren auch über von Profis gestaltete Gastronomieführer gesagt hat.

Ganz abgesehen davon: Wie viel Zeit bleibt dem Wirt, der oft gleichzeitig auch Koch und Verwalter ­seines Gasthauses ist, um zusätzlich online präsent zu sein? Großbetriebe können einen smarten Fachhochschulabgänger dafür abstellen (ob er in dieser Zeit nicht profitabler Teller waschen könnte, sei dahingestellt). Es ist mühsam genug, dass sich das wirt-uelle Leben den neuen Reservierungsgewohnheiten anpassen muss. Heute bloß am Telefon erreichbar zu sein, ist zu wenig. Man braucht eine E-Mail-Adresse. Und ein Online-Reservierungsformular auf der Homepage. Und einen Facebook-Account, damit man spontan gleich über Messenger bestellen kann. Früher hieß es, viel Feind, viel Ehr. Jetzt bedeutet es, viel Freund, viel G’scher. Weil: Mit 5.000 Facebook-Freunden gibt’s ziemlich viele, die so quasi privat reservieren können. Instagram, WhatsApp: Es gibt keine der vielen schönen neuen Möglichkeiten, über die mein Küchenmeister nicht schon kontaktiert worden wäre. Wobei Buchinger auch da mit seiner üblichen Kreativität reagiert. Nämlich gleich, später oder gar nicht. Haben wir einmal wenige Reservierungen, kann es passieren, dass er unerschüttert meint: „Ja, aber nur, weil ich noch nix eingetragen und beantwortet habe.“ Die Erklärung dafür und auch für vieles andere gibt’s auf der Startseite seiner Homepage: „Liebe ausgefuchste Essensver­steher … das ist keine Schickimicki-Hütte, keine Gänseleber-Braterei, keine gestickte Deckerl- & Dackerl-Institution mit Super-Tischschmuck, sondern ländliches Essen und nur das, mit vielen Weinen nur aus der Gegend …!“ Unnötig hinzuzufügen, dass dieser Text nicht von einem Homepage- oder Image-Designer stammt. Mit Sechsundsechzig, dekoriert mit allen möglichen Würdezeichen der Profi-Kritiker, geht freilich auch das leichter, als wenn man erst am Start steht.

Wobei: Gerade habe ich mit Entsetzen festgestellt, dass die ­Tageskarte auf der Homepage offenbar aus dem Jahr 2015 stammt, und unter Veranstaltungen ist meine Buchpremiere von Im Netz eingetragen, die war immerhin auch schon im September. Aber eben: Worum soll sich Wirt und Koch (selbst mit meiner Unter­stützung) noch alles kümmern? Zumal das mit dem Eintragen und Ändern nicht so einfach ist. Und sich ohnehin grundsätzlich die Frage stellt: Muss man wirklich schon auf der Homepage oder auf Facebook sehen, was es zu essen gibt? Kann man sich nicht einfach vor Ort überraschen lassen? Wer sagt denn, dass nicht der Jäger-Nachbar ein paar Stunden früher mit einem wunderbar zarten Reh vorbeigeschaut hat? Könnte man das überhaupt so schnell online … natürlich. Man könnte. Aber muss man?

Und sollte ein neuer Gast nicht die Möglichkeit gehabt haben, vorab mittels virtuellem Rundgang durchs Lokal und die – natürlich blitzsaubere – Küche ­Bescheid zu wissen: Gefällt ihm das Ambiente nicht, kann er ja mit seinem Smartphone spielen. Oder mit dem ­Tablet. Es gibt inzwischen ganze Familien, die kaum wahrnehmen, wo sie sind und was sie essen. Jeder vertieft in seine ­eigene Welt. Der Vorteil: Sie sind ­ruhig. Nicht nur die Kinder. Der Nachteil: Besondere Anerkennung ist von ihnen nicht zu erwarten. Man kann es freilich auch praktisch sehen. Sie waren physisch da. No ­Fake. Sie ­haben ganz real gegessen und ebenso real bezahlt. Wenn auch mit Karte. ­Also quasi real. Aber an diesen Teil des wirt-uellen Lebens haben sich die meisten Lokalbesitzer schon lange gewöhnt. ­Solche, die ausschließlich auf Bargeld bestehen, sind Exoten aus einer anderen Epoche.

Wie unsere Küchen und Gaststuben wohl in Zukunft aussehen werden? Werden uns Roboter bedienen? Können die auch so gut wegschauen, wenn ich noch einen Gespritzten möchte, während einige Tische weiter abgerechnet werden soll? Berechnet eine Kochmaschine nach dem Scan des Gastes, was und wie viel er essen sollte und meldet das dann gleich der Sozialversicherung weiter?

Es ist schon viele Jahre her, da durfte ich in die Küche von Heinz Hanner und habe gestaunt. Flatscreens an der Wand, anstelle der Bons ­kamen Bestellungen, Sonderwünsche und Anmerkungen über den Bildschirm. Aber während wir brieten, sautierten und grillten, garte er damals mit flüssigem Stickstoff. Inzwischen ist die Auseinandersetzung, ob alt- oder neu-molekular gekocht wird, auch schon wieder Geschichte. Vielleicht ist es ohnehin am besten, sich bei all dem spannenden oder nervenden Brim­borium der jeweiligen Zeit an das zu halten, was in ­anderem Sinn wirt-uell, flüchtig, aber ganz real verzaubern kann: ein Duft, ein Prickeln, ein Geschmack, ein warmes Gefühl im Magen. Und Menschen rundherum. Mit Glück sogar ganz reale Freunde.

Eva Rossmann war Journalistin, ehe sie mit den Mira-Valensky-Krimis zur Bestsellerautorin wurde. Daneben arbeitet sie als Köchin in Manfred Buchingers Gasthaus Zur Alten Schule.