Ein Aufbruch, ein Abschied

Kaum geht eine Küchentür zu, geht eine andere auf. Unterwegs in der rastlosen Welt der Gastronomie.

Ein Aufbruch, ein Abschied

Text von Eva Rossman Illustration: Peter Zolly
Ich kann mich noch genau erinnern: Sie sind am Tisch zwei gesessen. Eine Frau mit sehr blonden Haaren und ein Mädchen, eigentlich ein Kind, das nicht gesprochen hat. Lange, hellbraune Haare, unvorteilhaft zusammengebunden, wie gefangen. Den Blick gesenkt. Buchinger saß den beiden gegenüber und hat das erzählt, was er immer erzählt, wenn es um eine mögliche Lehrlingsstelle geht. Von anstrengender Arbeit war die Rede, von Ausdauer und von Freude und von Teamarbeit. Plötzlich hat er das Mädchen angesehen und gefragt: "Was ist? Willst du selbst Köchin werden oder will das eher deine Mama?" Das Mädchen hat den Kopf gehoben, sie schien zu wachsen, gleich groß zu werden wie die beiden anderen am Tisch und hat so laut, dass auch ich es gut hören konnte, gesagt: "Das will ich."
Mehr als vier Jahre ist es her. Aus dem zurückgezogenen Kind ist eine schöne junge Frau geworden, die nicht nur beruflich weiß, was sie will. Vor kurzem hat sie uns die Hand gegeben, gelächelt, natürlich werden wir in Verbindung bleiben, hat sie gesagt. Davor natürlich viel Dank von ihr und Lob von uns und Rührung. Draußen war sie aus der Gasthaustür und erst dort hat sie gemeinsam mit Christina, die nun ihre Kochfreundin verloren hat, Abschiedstränen geweint.
Das mit den Abschieden gibt es in jeder Branche natürlich. Aber wenn man lange Stunden gemeinsam schwitzt und darum kämpft, dass alles gut und zeitgerecht und ganz besonders und Buchingerlike und heiß oder auch kalt und süß oder auch pikant hinausgeht zu den Gästen, dann entsteht so ein ganz besonderes Gefühl der Gemeinsamkeit, eines, das ich sonst nicht kennengelernt habe. Weder als Juristin im Bundeskanzleramt noch als Journalistin und schon gar nicht als Autorin, aber da ist man ja ohnehin vom Beruf her eher ein "Lonely Rider" – wahrscheinlich koche ich auch deswegen noch immer so gern. Kochen ist Teamarbeit, das ist kein dummes Geschwätz. Kein Koch, keine Köchin, die das noch nicht begriffen hat, kann beständig Geschmackvolles braten. Und Kochen ist Wanderarbeit, gerade für unsere Nachwuchsleute. Buchinger hat es immer wieder gesagt, nach der Lehrzeit müssen alle raus, woanders hin, etwas anderes kennenlernen, neue Erfahrungen sammeln. Als Sladjana fünfzehn, sechzehn Jahre alt war, hat sie ihn aus ihren großen Augen erschrocken angesehen, den Blick wieder gesenkt und weitergearbeitet. Als sie neunzehn Jahre alt wurde, hat sie Buchinger gesagt, dass sie nun also gehen werde. Sie habe schon probegekocht. Ein ausgesprochen gutes Lokal in Wien, so eines, in dem ich auch kochen würde und lernen könnte, wäre ich nicht schon ein bisschen aus dem Wanderalter heraus, würde ich nicht zu sehr an unserem verrückten "Restaurant at the end oft the universe" im Weinviertel hängen und hätte ich an sich überhaupt Zeit, zu kochen (diese "keine Zeit" nehme ich mir nur für die "Alte Schule").
Buchinger war, entgegen seinen langjährigen Predigten, gar nicht begeistert, dass "unser" Mädchen geht. Natürlich, wir könnten sie mehr als gut brauchen. Sie hat eine Menge gelernt. Aber es war wohl nicht nur das. Wir haben sie heranwachsen sehen. Dabei, am Anfang: Ich gebe zu, ich mochte sie gleich. Aber meine Güte, war die langsam! Kaum kam ein bisschen Stress, hast du den Eindruck gehabt, ihre Hände marinieren den Salat im Zeitlupentempo. Was soll aus ihr werden? Wie kann ich ihr Tempo beibringen, eines der wichtigsten Dinge in jeder professionellen Küche? Wie Selbstvertrauen? Dazu zwei – männliche – Rabaukenlehrlinge in der schlimmsten Pubertät, die sie so sekkiert haben, dass ihr manchmal die Tränen gekommen sind. Einmischen oder nicht? Buchinger ist da für Nur-die-Harten-kommen-durch, zumindest wenn gewisse Grenzen nicht überschritten werden. Ich wär mehr dafür gewesen, den beiden pubertierenden Jungs eins über die Rübe zu geben, aber das ist ja erstens nicht erlaubt und zweitens kann ich mir so etwas viel besser vorstellen, als es tatsächlich zu tun. Hat vielleicht mit meinem anderen Leben als Krimi-Autorin zu tun. Und dann noch Sladjanas Beginn im Service. Walter ist ein hervorragender Kellner, ein Oberkellner, der am Tisch flambieren kann und genau weiß, welche noch so komplizierten Besteckteile warum wie und wo liegen. Er ist auch ein sehr guter Ausbildner. Aber: Er kann sie nicht leiden, die, die noch nichts können und sich so anstellen, als würden sie auch nie etwas lernen, er pfaucht und klagt und irgendwie versteht man ihn auch. Aber als er über Sladjana irgendwann einmal gesagt hat: "Die mit dem großen Arsch …", da bin ich ihm mit meinem Allerwertesten quasi ins Gesicht gefahren. Auch mir hat man in jungen Jahren, vornehm ausgedrückt, eine ausgeprägte Kehrseite nachgesagt, nicht besonders witzig für uns Girls von sechzehn bis sechzig. Ach ja, und dann hat es keine zwei Wochen gedauert und keiner kann sagen wie, wann und warum, da war Sladjana nicht nur freundlich und anstellig, sondern auch flink bis flott, nett anzusehen sowieso (von allen Seiten) und als Buchinger sie wieder in die Küche holen wollte, hat sich unser Walter gewehrt. Kaum habe er eine echte Hilfe, gerade habe er damit begonnen, ihr einiges beizubringen, solle sein Sonnenschein wieder weg von ihm.
Jahrelang haben wir gemeinsam Silvester gefeiert. Das große Silvestermenü draußen, die Gäste fröhlich, Buchingers Gasthausfamilie noch fröhlicher, haben wir angestoßen. Und als Walters neuer Sonnenschein – sie hat übrigens genau wie ich am 1. Jänner Geburtstag – 18 Jahre geworden ist, da hat ihr ein echter Wiener Philharmoniker ein Mitternachtsständchen gespielt. Die Schmiedingers gehören zu unseren Lieblings- und Stammgästen und zu Silvester nimmt der inzwischen pensionierte Kunst-Schlagwerker gerne seine Trompete mit. (Im Sommer züchtet er für uns Paradeiser und wenn er mit Strohhut im Gärtneroutfit seine prächtigen Pflanzen düngt, dann kann das hin und wieder schon zu Irritationen bei Gästen mit Philharmonie-Abonnements führen …) Jedenfalls hat Sladjana gelächelt und gemeint, das da bei uns, das sei schon was ganz Besonderes.
Und wie wir vor der Kochprüfung gezittert haben. Wir alle haben gewusst, sie schafft es locker, aber was ist schon sicher? Und dann das SMS an den Buchinger. Zuerst eines, als wäre alles schiefgegangen. Dann ein Übermütiges mit der Richtigstellung: Nicht durchgefallen, sondern Auszeichnung! Und so eine geht weg von uns. Die, auf die ich mich verlassen konnte. Hm. Soll weggehen, ihren eigenen Weg gehen, weitergehen. Aufgeregt war sie, der erste Schritt hinaus, eine neue Küche, eine, in der vieles anders läuft. Neue Kollegen und Kolleginnen. Wie wird es gehen? Wird es gelingen? Wird man sie mögen? Aber zuerst eine Woche Ferien, und dann … die Riesenenttäuschung. Aus der Stelle wird nichts. Steuerberater. Er hat dem Eigentümer klar gemacht, dass er niemanden aufnehmen darf, dass er, im Gegenteil, einige Leute kündigen sollte. Die Zeiten werden auch für die Wiener Topgastronomie nicht besser. Man muss achtgeben, dass die Personalkosten nicht davonwachsen. Rechtzeitig. Und sie ist gekommen, hat traurig erzählt, sie hätte sofort bleiben können, reiner Eigennutz, wir hätten sie dringend gebraucht, aber sie hat geholfen, als es wichtig war und sich ansonsten sofort um den nächsten Job umgesehen. Sie hat Buchinger eben wirklich zugehört. "In zwei Wochen habe ich einen", hat sie zu mir gesagt und das Kinn gehoben. Nix mehr von dem schüchternen Kind an Tisch Nummer zwei. Und ärgerlicherweise war sie jetzt eineinhalb Wochen gar nicht da und ich weiß gar nicht, welchen Job sie nimmt. Ich weiß nur, dass es mehrere gibt, unter denen sie wählen kann. Gegessen wird eben immer, selbst wenn die Seifenblasen der virtuellen Geldwelt platzen (wen kann das bei schillernden Dingen, die zu neunundneunzig Prozent aus Luft bestehen, eigentlich wundern?).
Aber während ich noch über den Abschied unserer Sladjana nachdenke, überlege, wie viele ehemalige Lehrlinge sich auf diesen Weg machen, ihnen die Daumen halte, dass sie bereit sind, viel und vieles zu lernen, dass sie sich nicht vergraulen lassen, dass sie zäh sind und Mut haben und Freude und neue Freunde, begegnet mir eine gastronomische Abschiedsgeschichte der ganz anderen Art: Gäbe es, ähnlich wie in der früheren UdSSR die "Helden der Arbeit", einen "Helden der Souschefs", dann wäre er zu einem geworden. Bekannt, aber kein Star. Immer im Schatten der Küchenchefs. 34 Jahre in der Küche eines Luxushotels. Er war es, der in den letzten Jahren, als sich die Küchenchefs die Türklinke in die Hand gaben, häufig den täglichen Betrieb gemanagt hat. Er war es, der für die Lehrlingsausbildung, für so heikle Sachen wie Sicherheit und HACCP (dieses Qualitätssicherungs- und Risikovermeidungsprogramm, das in der US-Raumfahrt entwickelt wurde und schlussendlich dazu geführt hat, dass keiner mehr zum Mond fliegen darf, weil man doch tatsächlich draufgekommen ist, dass es zu viele Risiken gibt) zuständig war. Er trat bei abendlichen Galas ebenso auf wie bei Frühstücksbüffets, immer loyal, eigentlich weit darüber hinaus, bis zur Selbstaufgabe, einmal, nach viel zu vielen Schichten und Sondereinsätzen ist er in der Küche zusammengebrochen und hat sich auch da noch dafür geniert. Und jetzt wird diesem Souschef aller Souschefs, dem man bestenfalls vorwerfen kann, nicht aggressiv genug, nicht selbstbewusst genug, nicht ehrgeizig genug gewesen zu sein, um rechtzeitig Küchenchef zu werden, der Abschied gegeben. In vier Jahren wäre er ohnehin pensioniert worden. Aber so lange wollte man nicht warten. Der Küchenchef, einer der namenlosen, von gesichtslosen internationalen Managern (einer Wandertruppe der ganz anderen Art) importierten, die auch ohne Spuren wieder verschwinden (und um deren Weiterziehen sich keiner Gedanken macht) hat ihn gezielt gemobbt, so lange, bis der ohnehin Leidensfähige schon selbst kündigen wollte. Jetzt stellt man ihm eine einvernehmliche Kündigung in Aussicht. Wie nett. Auch in der Gastronomie gibt es inzwischen Wirtschaftsentartungssysteme, in denen über Zahlen und angeblich notwendige Killer-Allüren vergessen wird, wer sie trägt: Nämlich solche wie mein Freund Pepi, der auch Hans oder Franz heißen könnte, der auch Chef de Rang oder Oberkellner gewesen sein könnte. Rechnen zu können, ist wichtig, das weiß jeder gute Wirt. Aber unserer Sladjana (und den anderen, die jung und gut drauf und ehrgeizig in ihren Beruf starten) wünsche ich, dass sie als Mensch, als Person, als Persönlichkeit wahrgenommen werden. Der Rest findet sich. Wenn man bloß aufbricht, in das Abenteuer Gastronomie.