First come, first served

Er ist unverzichtbarer Bestandteil in der Spitzengastronomie und nicht mehr nur auf einen Gang limitiert. Vier Top-Köche verraten, was sie ihren Gästen als Gruß aus der Küche servieren, weshalb er manchmal genauso viel Zeit in Anspruch nimmt wie ein Hauptgang und warum er Chefsache ist.

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Foto von Claudia Schemerl-Streben
Text von Peter M. Mayr

Samstagabend, Restaurant „Mayer’s“ in Zell am See. Bis auf einen Tisch ist jeder Platz belegt. Die erste Bestellung: viermal das 6-Gang-Menü. Fünf Minuten später wird ein Gruß aus der Küche serviert: eine Schieferplatte, auf der sechs Fingerfoodkreationen wie Thunfisch-Sesam-Sushi, Prielauer Hirschwürstel und Hummerchip thronen. Darunter auch ein außergewöhnlicher Akteur, ein Zitat auf den spanischen Alchemisten Ferran Adrià: ein Sellerie-Sniff im Plastikrohr.
Der Gruß aus der Küche steht nicht auf der Speisekarte und ist der erste Geschmacksreiz, den man dem Gast in einem Spitzenrestaurant vor dem Menü serviert. In Frankreich werden die kalten oder warmen Gerichte in Miniaturformat, die eine appetitanregende Funktion erfüllen und die Wartezeit des Gastes verkürzen sollen, als Amuse Gueule (frei übersetzt „Maulfreude“) bezeichnet. Im deutschsprachigen Raum wollte sich der als vulgär empfundene Begriff „Gueule“ nicht etablieren. Die Gastronomen haben sich auf einen charmanteren Terminus geeinigt, die kleine Überraschung, die dem Küchenchef jeglichen kreativen Spielraum lässt, Amuse bouche („Mundfreude“) getauft und daraus eine Kultur entwickelt, die sich längst nicht mehr nur der Kreation eines Amuse Bouches widmet. So auch Andreas Mayer. Egal welches Menü man bei ihm bestellt, die davor servierte Amuse-Bouche-Abfolge ist immer gleich und besteht aus vier Gängen. Dabei wird Mayers Gästen mit einigen seiner Happen immer wieder eine Portion Mut abverlangt: Für seinen Stangensellerie-Sniff infundiert Mayer etwa in ein kurzes Röhrchen Öl und Gelee vom Sellerie, das man durch die untere Öffnung in den Mund schlürfen soll. Ein Vorgang, der von einem unangenehmen „Flup“-Geräusch begleitet wird und ausdauernde Saugkraft erfordert. „Der Effekt dieser Anrichteform ist, dass zuerst eine andere Geschmackszone erreicht wird und sich das Aroma nicht wie üblich von vorne nach hinten sondern von hinten nach vorne ausbreitet.“ Dass nicht jeder Gast für solche Zugänge zu haben ist, ist dem Koch durchaus bewusst, stört ihn aber nicht weiter: „Wenn er sich nicht drüber traut, lässt er es sowieso stehen.“
Für die Fingerfood-Kompositionen, die als der erste der vier Grüße aus der Küche kommen, ist die Kreativität jedes Einzelnen der Küchencrew gefragt: „Gardemanger, Saucier und Poissonier sind für je zwei Happen verantwortlich. Im Sommer gibt es meist noch ein Eis, etwa von Sellerie oder Spargel, um das sich der Patissier kümmert. Ich mische mich nur ein, wenn mir eine Kombination zu langweilig oder zu intensiv ist.“ Die drei darauf folgenden kalten und warmen Amuse Bouches sind aber Chefsache. „Das ist eine schwierigere Disziplin. Natürlich entwickeln wir diese Gerichte gemeinsam weiter, aber die Ideen kommen von mir.“ Bis Kompositionen wie eine Mikroversion von Tafelspitzrolle mit Erbsenmousse auf Fenchel-Safran-Terrine und Spoom von Erbse und Fenchel auf die Karte gesetzt werden, vergehen ein paar Tage bis Wochen. „Oder ich verwerfe alles und probiere es nach einem halben Jahr wieder. Ein Amuse Bouche ist genauso komplex wie ein Gericht. Es ist zwar kleiner, da aber mehrere verschiedene Komponenten dafür zu produzieren sind, kann man es durchaus mit einem Hauptgang vergleichen.“ Meist spielen bei Mayers Grüßen ein oder zwei Gemüsesorten die Hauptrolle. „Man kann Gemüse super variieren und ich greife dem Menü nicht vorweg. Wenn ich mit Gänseleber oder Taube anfange, zerstöre ich mir den Steinbutt, der danach folgt. Ich brauche einen Einstieg, der weder zu scharf noch zu würzig ist, sondern soft. Deshalb verwende ich auch keine intensiven Sorten wie Rote Rübe, sondern verarbeite lieber Gurke oder Paradeiser. Das Wichtigste in einer Menüfolge ist, den Spannungsbogen so lange wie möglich zu erhalten. Deshalb sollte man sich langsam von einem Gang zum nächsten vorarbeiten.“
Zu geschmacksintensiv darf der Starter auch bei Alexander Fankhauser nicht sein. „Jeder Gang muss dem nächsten Raum lassen, im Menü bestehen zu können.“ Dennoch lässt sich der Koch den Einsatz von alpinen, würzigen Zutaten nicht ganz nehmen und kombiniert sie bei seinen ersten Grüßen auch gerne mit molekularen Techniken: „Das Amuse Bouche lässt mir die Freiheit, nicht immer nur so zu kochen, wie es meiner Küchenlinie entspricht. Ich kann auf einen Melonenkaviar Speckschaum setzen oder Erdäpfelpuffer mit Blunzenradeln und Krenschaum servieren. Außerdem ist es für mich ein Experimentierfeld. Wenn ich etwas Neues ausprobiere, schicke ich es zuerst als Amuse Bouche zu den Gästen und wenn es gut ankommt, setze ich es in erweiterter Form auf die Karte.“ In seinem Restaurant „Alexander“ in Hochfügen stehen den Gästen zwei Menüs zur Auswahl, die mit je drei Amuse Bouches eingestimmt werden. Werden unterschiedliche Menüs an einem Tisch serviert, kann auch bei den Grüßen querverkostet werden. Wird à la carte gewählt, ist die Spontanität des Küchenchefs gefragt: „Wenn die Gäste das Menü selbst zusammenstellen, wird’s schwierig und ich mache ein anderes Amuse Bouche als geplant. Wir kochen sowieso à la minute und es fordert mich mehr als eingefahrene Abläufe.“
Als Challenge bezeichnet Silvio Nickol, Küchenchef im Restaurant „Schlossstern“ im Schlosshotel Velden, jedes seiner Gerichte. Er versucht schon beim Amuse Bouche mit Gewürzen an die Grenzen zu gehen, allerdings ohne dabei den Eigengeschmack des Produkts zu verfälschen, sondern um ihn in den Mittelpunkt zu rücken. Er startet den Abend mit zwei Grüßen aus der Küche und serviert den ersten in Form eines Dreierleis. Für sein „mediterranes Terzett“ etwa wird ein ovaler Porzellanteller mit einem Shotglas klarem Gazpacho mit Raz-el-Hanout- und Parmesan-Schaum serviert, einem Schälchen Basilikumeis und einem Porzellanlöffel mit Safran-Aioli und einem Paradeiserchip, „also ganz einfach gehalten“, gibt sich der Koch mit Hang zur Perfektion bescheiden. Der zweite Gruß fällt anspruchsvoller aus. Nickol vergleicht den Aufwand dafür mit jenem für eine Vorspeise und verarbeitet die dafür verwendeten Produkte von der Schale bis zum Kern: Auf einem viergeteilten Glasteller setzt er Maronispaghetti mit Kürbismayonnaise, füllt in ein Glas süß-sauren Kürbisud, platziert daneben einen Kürbisraviolo, dessen Hülle aus gehobeltem Kürbis besteht und mit einem Kürbispüree gefüllt ist und formt aus Kürbismus und -gelee und Mus von Maroni eine Pyramide. Ausgesucht werden kann aus einer zweiseitigen Karte mit jeweils 13 Gängen – zum einen bestehend aus vegetarischen Gerichten, die Nickol „Bunter Herbst“ nennt und zum anderen mit Produkten wie Gänseleber, Steinbutt und Hummer, die sich im „Chef’s Menü“ wieder finden. Je sieben Gerichte sind von Nickol als Menüempfehlung kombiniert und garantieren eine optimale Steigerung. Dem Gast steht aber offen, die Gerichte à la carte miteinander zu verknüpfen. Ganz gleich ob man sich auf den Vorschlag des Küchenchefs einlässt oder selbst zusammenstellt: Das Amuse Bouche bleibt gleich. „Kommt ein Gast mehrmals hintereinander zu uns, servieren wir selbstverständlich zwei andere Grüße. Bei uns wird Buch geführt, in dem nicht nur steht, wer uns wie oft besucht, sondern auch, ob der Gast gerne Wasser trinkt, welchen Wein er bevorzugt und sogar ob er Links- oder Rechtshänder ist. Das sind einfach Details, auf die geachtet werden muss,“ ist sich Nickol sicher. Dem Start eines Menüs wird genauso viel Augenmerk geschenkt wie den folgenden Gängen. Ein Posten in der Küche ist darauf abgestellt, sich ausschließlich um die Produktion der Grüße aus der Küche zu kümmern. Wiederholungen in der Menüabfolge sind dem Koch zuwider. „Natürlich habe ich derzeit ein Kürbisgericht in der Karte und serviere ein Amuse Bouche mit Kürbis. Allerdings ist das Muskatkürbis-Ingwer-Süppchen mit Mango-Bananen-Flan und Passionsfrucht-Cannelloni nicht als Empfehlung angeführt. Wenn sich der Gast dennoch dafür entscheidet, dann ist er sich dessen bewusst, dass die Abfolge nicht optimal ist.“
Man könnte meinen, Didi Dorner macht es sich leicht. Er serviert seinen Gästen seit sieben Jahr das gleiche Amuse Bouche: das geeiste Dorner-Ei, für das sein Erfinder eine mit viel Butter kompakt gerührte Eierpeise mit Oliven- und einer Spur Trüffelöl noch im warmen Zustand sämig mixt, in eine Eierschale füllt, kalt stellt und mit Forellenkaviar finalisiert. Ein Markenzeichen, das Dorner trotz Abkopplungsversuchen nicht ablegen kann. „Als ich vom ,Hirschenwirt‘ in den ,Falkenhof‘ übersiedelt bin, wollte ich es nicht mehr machen. Ich hab am ersten Tag ein anderes Amuse Bouche serviert und mich nach dem Abendgeschäft noch einmal in die Küche gestellt, um das Ei für den nächsten Tag zu produzieren, weil ich nicht wieder jedem Gast erklären wollte, warum es mein Ei nicht mehr gibt.“ Egal wo Dorner kocht, ob in seiner Wirkungsstätte im Schloss Stainach oder bei Caterings: „Zuerst gibt’s immer das Ei.“ Für das hat sich der Koch eine entsprechende Präsentation ausgedacht: Im Restaurant setzt er es auf einen froschgrünen Kunstrasen, bei Auswärtsspielen wird es auf einen dekonstruierten Wäscherei-Kleiderbügel gesetzt. Dazu verbiegt Dorner den Haken um 90 Grad, so dass er das Ei in der Mitte auffängt und verformt den Bügel so, dass das Gebilde eigenständig steht. „Es wird dann so eingedeckt, dass im Haken eine Serviette steckt und ein Löffel in der Einkerbung eines Bügels liegt. Das Ei servieren wir dann brutal vom Eierkarton runter.“ Aus der täglichen Wiederholung seines Ei-Amuse-Bouches entstand ein zweiter Gruß aus der Küche, den Dorner – je nach Laune – sogar täglich auswechselt. „Ich serviere gerne Miniportionen der Gerichte auf der Karte, die aber nicht in der vom Gast gewählten Menüfolge enthalten sind. Oder ich versuche eine Geschmackskomponente zweimal zu spielen: Wenn der zweite Gang des Menüs (Anm.: Dorner holt es persönlich bei den Gästen ein) beispielsweise Offener Hummerraviolo mit Safran und Schokolade ist, mache ich als Amuse Bouche Scampi mit einem Aroma, das die Bittertönigkeit der Schokolade enthält. Es gibt also keine Wiederholung des Gerichts, aber es finden sich einzelne Elemente wieder.“ Mit seinen Kollegen, die das Geschmacksniveau in ihrer Menüabfolge Schritt für Schritt steigern, ist er einer Meinung: „Wichtig ist, dass ich das, was ich mit dem Amuse Bouche verspreche, im Menü auch halten kann. Ich hatte schon oft Starter, die optisch und geschmacklich der absolute Wahnsinn waren und am Ende des 5-Gang-Menüs kam die Erkenntnis, dass ich nach den Amuse Bouches hätte gehen können.“
Amuse Bouches haben sich in der Spitzengastronomie zum Pflichtprogramm entwickelt. „In unserer Liga muss die Erwartung des Gastes, dass da etwas kommt, erfüllt werden. Allerdings nicht indem der Küchenchef irgendetwas auf den Tisch stellt – was leider auch vorkommt – , sondern indem er bewusst ein Amuse Bouche produziert. Käme keines, wäre das die erste große Enttäuschung für den Gast.“ Den Zweck des Amuse Bouches zu Beginn eines Menüs spricht Dorner offen aus: „Damit ich Zeit gewinne, in der ich die Gänge vorbereiten kann und damit die Zeit, in der der Gast auf sein Essen wartet, schneller vergeht.“
Zeit, die auch gestressten Businessgästen zu Mittag fehlt. Dorner hat für sie ein Amuse-Bouche-Menü kreiert, das er „3-5-7“ nennt. „Zu diesem Menü gibt es keine gedruckte Karte, sondern drei, fünf oder sieben Geschmäcker aus der regulären Karte, die ich in Amuse-Bouche-Portionen serviere und garantiere, dass der Gast, egal welches Menü er bestellt, in einer Stunde fertig ist.“ Inspiriert hat Dorner Joël Robuchons Restaurant „L’Atelier“ in Paris: „Es ist für mich einfach der geilste Mittagstisch, den ich kenne. Man sitzt dort an der Bar und bekommt ein Happenmenü mit 20 Tellern – es ist perfekt, weil man auf sehr hohem Niveau isst und in einer Zeit serviert wird, wo alles danach offen bleibt. Das taugt mir. Wenn ich hinfliege, schau ich, dass ich um 10 Uhr vormittags im Hotel einchecke, um Viertel nach zwölf ins ,L’Atelier‘ fahre und um Viertel nach zwei am Weg zum Louvre bin.“ 25 Mal war Dorner schon in Paris und hat jedes Mal dieses Programm absolviert. Das hat zum einen mit den Small Tasting Dishes des französischen Sterne-kochs, andererseits mit einem Bild von Leonardo da Vinci zu tun: „Irgendwann will ich verstehen, was an der Mona Lisa so weltbewegend ist. Ich hab’s nämlich bis heute nicht kapiert.“