Geselchtes im Auge des Hurricans

Ein Essen in Gordon Ramsays Londoner Flagship-Store

Geselchtes im Auge des Hurricans

Text von Alexander Rabl Fotos: Dorling Kindersley Verlag/ Jan Haeselich
Crisis? What Crisis? Die Dichte der Lamborghinis, Bentleys und Aston Martins in Kensington, Knightsbridge oder Notting Hill mag ein wenig höher sein als in der City of London, aber die Wartelisten der Restaurants und Clubs sind so ellenlang wie immer schon. Und mit 280 rase ich gerade auf ein programmiertes Desaster in Gordon Ramsays 3-Sterne-Restaurant zu. Ahnungslos! "Let me serve you a broccolisoup with a tatar of scallops." Sagt der Maître, ein Gentleman, wenn auch nicht alter britischer, sondern französischer Schule, als er mit den Amuse-Bouches herangleitet. Scallops sind Jakobsmuscheln. Das wird schon beim Hinschauen klar. Und ich habe Scallops als Starter bestellt. Schon auch wegen der Albatrüffel, die sie im Trüffelhumidor präsentierten und zu den Scallops servieren wollten, aber auch deswegen, weil ich eigentlich nicht wusste, was Scallops jetzt wirklich heißt. Schlechteres Küchenenglisch, als es die englische Küche in ihren schlechtesten Zeiten je gewesen sein kann. Ich schlucke. (Den Rest des Champagners.) Ich sitze mittags bei Gordon Ramsay und habe Jakobsmuscheln bestellt. Das muss einem passieren. Die durch billige Zucht und unfähige Muschelbräter zur endgültigen Banalität geadelte Unmöglichkeit. Was jetzt? Vollbremsung? Die strengen Abläufe und Gebräuche in der Vollgas-Gastronomie sind mir andeutungsweise geläufig. Mittendrin die Bestellung ändern – das erlauben sie höchstens Stammgästen an ihrem Stammplatz und mit einem Sitz im Oberhaus. Und Stammgäste sind wir bei Gordon Ramsay bei Gott keine.
One hour earlier. Ein Anruf auf dem Mobiltelefon. Die strenge weibliche Stimme sagt: "We have the possibility to offer you a table for two at noon. Twelve o’clock." "That’s great. Perhaps if we could come a little bit later? Twelve thirty oder one o’clock?" "I said twelve. We can offer you a table at twelve." "Can I call you back in five minutes?" "Sorry, you have to decide now." "Okay, I will be pleased to be with you at twelve." Die Lady schließt ab: "I need your credit card number. In a case of no-show you will be charged with 150 Pounds for each person." (Ich erspare Ihnen die Details meiner Kreditkarte, die ich ohne Umschweife zücke.)
Ein eigentlich überflüssiger Exkurs: Tischreservierungen bei den Weltpräsidenten der Kocherei laufen alle irgendwie gleich. Zwei oder drei (oder vier) Monate vor dem gewünschten Termin darfst du telefonisch vorstellig werden. Und hoffen. Das ist die normale Vorgehensweise, die einen etwas schleppenden Charakter aufweist. Die adrenalinfördernde Alternative, die hier ausdrücklich nicht empfohlen wird, ist der spontane Versuch. Man ist in einer Stadt und probiert aus dem Ansatz, ins Allerheiligste vorzudringen. Concierges in den besseren Hotels können dabei von großem Nutzen sein. In Paris, London oder New York arbeiten in den guten Hotels Menschen, die den Job gerne machen und interessant finden. (Fragen Sie mal einen Wiener Portier in einem Fünfsternehotel nach den besten Lokalen der Stadt und ob er Ihnen dort einen Tisch besorgen könnte. Gut möglich, dass Sie im "Augustinerkeller" landen.) Weil diese Menschen den Beruf mögen, ist es für sie selbstverständlich, dass sie die besten Läden der Stadt kennen, wissen, wer gerade in den Guides wie bewertet ist und selbst schon einmal dort waren. In einem guten Hotel zu wohnen, zahlt sich also aus. Bei besonders harten Brocken wie einem "Ramsay" in der verfressenen Riesenstadt London kann der geviefteste Concierge nichts ausrichten. Dann braucht man geheimdienstartige Verbindungen. Kennen Sie jemanden, der jemanden kennt, der jemanden kennen könnte? Dieser Jemand, der zu kennen ist, könnte Sie dann auf der Warteliste für den gewünschten Termin vorreihen. Sie begeben sich dann an die Bar Ihres Hotels und beten, dass einer der Gäste, die rechtzeitig gebucht haben, und auf deren Tisch Sie hoffen, am Vorabend was Schlechtes (Jakobsmuscheln?) gegessen hat und jetzt von der Toilette aus seine Reservierung storniert. Und dann erhalten Sie ein oder zwei Stunden vor dem Aperitif einen Anruf.
Wie ein Hurrican eilen sie herbei. Und so ähnlich im Tempo entwickelt sich das Imperium des Kochs und Unternehmers Gordon Ramsay, in dem in atemberaubendem Tempo Restaurants, Clubs, Bars auf allen Erdteilen eröffnet (und fast nie wieder geschlossen) werden, die sich aus dem Konzept und dem Ruf eines der berühmtesten Chefs unserer Zeit nähren. Eine ausgeklügelte und langfristig angelegte Personalpolitik macht es möglich, dass ein Koch wie Ramsay nirgendwo wirklich fürchten muss, dass der gute Name durch mittelmäßige Leistungen angepatzt wird. Während die diversen Mazes zu den schicksten Erscheinungen ihrer Zeit zählen, Laufstege der Eitelkeiten auf dem Teller und im Glas, ist das Restaurant "Gordon Ramsay" ein Beispiel für Verzicht. Verzicht auf Lärm. Verzicht auf Brotwägen, Champagnerwägen, Käsewägen. Verzicht auf Kunst an den Wänden. Verzicht auf Showeffekte. Verzicht auf höchstem Niveau.
Im Auge des Hurricans entspannte Ruhe. Die 30 Mitarbeiter für 40 Gäste ahnt man am Anfang nur. Man wird allerdings im Lauf der Mahlzeit immer wieder neue Gesichter kennenlernen. Das hält das Tischgespräch in Schwung und verhindert Ermüdungserscheinungen. Langsam und wie bestellt treffen die Gäste ein. Die Sinnhaftigkeit eines strikt eingehaltenen Timings wird nach und nach erkennbar. Erst zwei, nach einer halben Stunde noch mal zwei, schließlich vier und gegen halb zwei sind alle zehn Tische besetzt. Der Maître und seine Leute haben Zeit, sich um jeden Tisch ausgiebig zu kümmern. Die Gespräche über das eine oder andere Rezept sind Rituale, Therapiesitzungen für Gaumenmenschen. Natürlich ist hier auch das jüngste Mitglied der Servicecrew über jede einzelne Zubereitung und jede Sauce perfekt gebrieft. Gegen zwei erreicht die Musik aus Gesprächen und Besteckgeklirre das Crescendo. Um halb vier sitzt nur noch ein halbes Dutzend versprengter Gäste vor ihren Cognacs.
Und überhaupt der Service! Wie dieses Ballett agiert, ist mehr als einen bewundernden Blick aus den Augenwinkeln wert. Die Gäste während des Gesprächs unterbrechen: We would never do that. Den Gästen ein Loch in den Bauch starren: impossible. Die Gäste belehren: We would not even think about it. Eine Empfehlung wie "Bei uns ist alles gut": Do you really have that in Austria? Beiläufig und nahezu unsichtbar durchstreifen die Damen und Herrren den Raum, haben ihre Reviere aufgeteilt wie Raubtiere in der Savanne, tauchen plötzlich aus dem Gebüsch auf, wenn es etwas zu fragen, abzuservieren oder einzuschenken gibt. Zwei Herren stehen nebeneinander in einer Ecke und führen eine unangestrengte Unterhaltung, während einer von den beiden den Saal beobachtet. Tut sich an einem Tisch etwas, hat ein Gast eine Hand fünf Zentimeter gehoben, gibt es ein Signal. Die perfekt geölte Maschinerie setzt sich in Gang.
Grösster anzunehmender Geschmacksunfall. Gerade noch derbremst, wie wir in unserer Formel-1-Fanrunde sagen. Sah mich schon die Klippen von Dover hinunterstürzen, unten eine Mannschaft von sich schieflachenden Jakobsmuscheln in ihrer Feiertagsschale. "Haha, the stupid did not know the German word for scallops!" Der Maître biegt mit der ruhigen und selbstbewussten Eleganz eines Corniche um die Ecke. Wird er den Gast züchtigen, der nicht weiß, was Scallops in seiner Heimatsprache heißt? Zieht er ihm eines mit der Kasserolle über, in der die Muschel des St. Jakob gerade gebraten wurden? Der Corniche hält an meinem Tisch. Man ist gnädig zum Zugereisten. Gerne wird die Änderung der Bestellung zur Kenntnis genommen. Wir einigen uns rasch und unbürokratisch auf Hummerravioli, eine "Plat Signature" des berühmten Chefs, was auf Englisch so viel wie "very famous food" bedeutet. Schließlich geht es zwar bei Gordon Ramsay mit einer gewissen englischen Würde und Strenge zu, aber nicht so streng wie in einem britischen Internat. Ich muss auch während des Essens nicht auf Holzscheiten knien.
Kleiner, wiederum überflüssiger Exkurs an dieser Stelle : Die Umgangsformen und das Einfühlungsvermögen des Service in einem Restaurant verhält sich oft reziprok zum knallharten Auftritt des Service-Mossad-Teams am Telefon, das die Reservierungen entgegennimmt.
Hummerravioli: echt grosses Essen. Genau gemessen hat das Tier in seiner zarten Teigschale locker 5 Zentimeter Durchmesser, in der Vertikalen wohlgemerkt. In einer Teigtasche, so groß wie eine Jumbo-Kärntner-Kasnudel, wohnen Hummer, Kaisergranat und Lachs. Sie sind gerade frisch eingezogen, wie man ihrem Duft anmerkt und tun sich recht gut miteinander. Eine dichte Creme aus Krustentieren zieht auf dem Teller ihre Kreise. Etwas hochkonzentriertes Rotes sitzt frech auf dem Gipfel und schaut in den Speisesaal. Das Rote ist ketchupfarbenes Paradeiserpüree. Eine großzügig gebutterte weiße Fischsauce komplettiert den Gang.
Man isst das ohne Aufhebens und verschiebt die Frage, ob das jetzt große Küche oder perfekte Routine ist, auf später. Wie gut, dass die Franzosen den Montrachet erfunden haben. Und die Engländer die Schifffahrt. (Oder waren es die Griechen? Die Phönizier?)
Reduce to the Max. Reduktion macht nicht nur beim Saucenmachen Sinn, wie wir in Deutschösterland sagen, wenn wir das englische "It makes sense" einspeicheln in das verkrüppelte "es macht Sinn". Alles Mögliche einfach einmal wegzulassen, ist auch sonst ein vernünftiger Weg. Zum Beispiel im Restaurant. Man hatte ja, wie anfangs erwähnt, anfänglich viel Zeit für den Diskurs mit den freundlichen Herren aus dem Service. Es ging dabei nebst anderem auch um die Frage, ob es lieber das größere Menü (7 Gänge) oder das Lunchpaket (3 Gänge) sein sollte, wobei sich beide im Preis (rund 100 Pfund) kaum unterscheiden. (Das sei angemerkt, damit keiner von den Lesern glaubt, wir vom A la Carte wären Billigesser.) Der Maître plädierte trotz unseres frühen Eintreffens für die schlankere Version und führte die Größe der einzelnen Portionen und die Komplexität der A-la-carte-Gänge ins Treffen, die in einem mehrgängigen Menü so nicht nachvollziehbar wäre. Kluges Argument. Als ich am Nebentisch, wo die einzigen Gäste mit Schlips und Geschäftstuch saßen, deren bonsaiartige Hummertaschen sah, war mir klar, was er gemeint hatte. Auch die Taube aus der Bresse hätte man in ihrer Pracht unmöglich als fünften oder sechsten Gang einfliegen können.
Diese Taube von Welt. Sie war wohl schon in der Taubenschule von der ersten Klasse an darauf vorbereitet worden, dass sie es einmal in die Pfanne eines wirklich namhaften Restaurants bringen sollte. Sie wurde in Geschmack und Stil unterrichtet, wobei man auch auf Leibesübungen einen ordentlichen Wert gelegt hat. Tauben einer gewissen Statur landen nicht in den Küchen überteuerter 2-Sterne-Restaurants in der französischen Provinz. Eine klare, durch keinerlei Extraaromen banalisierte Sauce, First-Class-Foie-gras, weiße Polenta mit Käse und kleinen Rübchen. Die Taubenhaxen mit Feigen als Supplement. Und dann steht auf der Karte noch "Bacon". Ein Würfel warmes G’selchtes. Haben wir uns verfahren und sind beim Heurigen in Grinzing oder was? Das G’selchte ist etwas karamellisiert on top und wie Butter und – man muss es leider sagen – um so manches delikater als die verschiedenen, im Laufe des letzten Jahres aufgepoppten Würfelchen und Kügelchen der Molekularköche. Das G’selchte war dann schon Tischgespräch des Tages. Vielleicht eine Anregung an die Wiener Heurigenwirte: Geht mal auf Stage in London und schaut euch an, wie man das macht. Mit etwas Protektion ist beim Ramsay sicher eine Stelle in der Küche am Baconplatz frei. So in sieben bis zehn Jahren.
Etwas Apfeltarte noch. Wir parken hervorragend. Keine riskanten Manöver mehr an diesem schönen hochnebeligen Nachmittag in Chelsea. Die Macher haben verstanden, dass einem ordentlichen Dessert eine gewisse Größe ganz gut bekommt, wenn es nachhaltig in Erinnerung bleiben will, und servieren die Tarte in der Größe einer fliegenden Untertasse nur für zwei. Köstliche apfeltriefende Süße, Herbstapfelernte duftendes Ding oder so etwas. Dazu das beste Vanilleeis der Insel und mehr braucht man nicht. Etwas Sauternes vielleicht noch. Sie haben das beste Zeug, das es in Flaschen gibt, aus Kellern nach London geschafft. Wie gut, dass die Engländer die Schifffahrt erfunden haben. (Oder waren es die Normannen? Die Chinesen?)
Gordon Ramsay:
Schnelle Sterneküche
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