Neues vom Nachbarn

Die deutsche Spitzengastronomie hat's nicht leicht. Nur wenige neue Konzepte setzen sich durch. Wie die neue Regierung fahren auch die Gäste einen eisernen Sparkurs.

Neues vom Nachbarn

Text von Hans Mahr Fotos: beigestellt
Harte Zeiten für die deutsche Spitzengastronomie. Während in Frankreich und in England immer neue, immer originellere Restaurants aus dem Boden schießen, gibt’s bei unseren Nachbarn Bewegung nur dort, wo die Preise auf dem Boden geblieben sind. "Die Deutschen sparen eben auch beim Essen …", klagt ein Spitzenkoch aus München.
Berlin
Trotzdem gibt es abseits des Mainstream auch in Deutschland eine Reihe von neuen Entdeckungen, darunter einige neue "Auslandsösterreicher". Beginnen wir in Berlin: In der Hauptstadt hat sich mit Tim Raue im "44" ein Spitzenmann etabliert, der auf den Spuren von Ferran Adrià und Heston Blumenthal wandelt. Im ersten Stock des Swissotel präsentiert er einen wilden Küchenmix, der manchmal begeistert, aber jedenfalls immer aufregend ist. Er kombiniert Jakobsmuscheln mit Eisenkraut und Kirschen und den Atterochsen aus Oberösterreich (bei genau 69 Grad einen halben Tag lang geschmort) mit Kakao und Pflaumenwein. 8 Gänge "Menü Evolution" um 88 Euro sind durchaus preiswert – und nachher werden Rote-Rüben-Lutscher für die zuhause gebliebenen Kinder angeboten.
In Berlin-Mitte hat sich Sarah Wiener, die Tochter des bekannten Wiener Aktionisten der 60er und 70er Jahre, mit gleich drei Wirtshäusern etabliert. Das originale "Speisezimmer" ist auch das Beste. Von der Kürbiscremesuppe bis zu Kalbskotelett oder ganzen Wachteln auf Linsen kommt Österreichisches mit italienischem Einschlag auf den Tisch. Und nichts über 15 Euro, was in der Hauptstadt Seltenheit hat. Neu erfunden hat sich auch die "Paris Bar" der beiden Österreicher Michel Würthle und Reinald Nohal, die eine Dependance 20 Meter neben dem legendären Ursprungslokal aufgemacht haben. Und dort wird auch ein wenig mehr Wert auf gute französische Bistro-Küche gelegt, die in der "alten" "Paris Bar" zuletzt zu wünschen übrig ließ.
Hamburg
Im nahen Hamburg hat der unfreiwillige Abgang von Josef Viehhauser, der sich im Moment noch nach einer neuen Wirkungsstätte umsieht, in der Spitzenküche ein Vakuum hinterlassen. Dieses versucht nun sein Nachfolger im "Le Canard", der Deutsch-Türke Ali Güngörmüs, der in München bei Karl Ederer gelernt hat, mit einem neuen, originellen Angebot zu füllen. "Große Küche in kleinen Gängen", heißt es bei ihm, und das gelingt tatsächlich hervorragend.
Kalbstafelspitzscheiben mit Brunnenkresse, Zander mit Rote-Beete-Ravioli, Seezunge mit Couscous und Kaninchenleber mit Orangen-Lorbeer-Marinade stehen auf der Speisekarte. 5 x "Tapas" um 60 Euro, 10 x um 90 Euro.
Ebenfalls originell das "Henssler & Henssler" in einem riesigen, ehemaligen Lagerhaus an der Elbe mit dem besten Sushi und Sashimi von Hamburg, gelungenen Asiatika von der Riesengarnele mit lauwarmem Kartoffelsalat bis zum Tuna-Steak rare mit Avocadopüree. Nichts für einen gemütlichen Abend (an die Lautstärke muss man sich erst gewöhnen), aber viel Spaß für eine fröhliche Runde nach der Messe oder der Werbepräsentation.
Köln In der deutschen Mitte, im Rhein- und Ruhrgebiet, gibt’s weiter nur wenige Lichtblicke, aber dafür den derzeit hellsten am deutschen Küchenfirmament. Etwa eine halbe Stunde von Köln entfernt, logiert der neue Superstar Joachim Wissler mit seinem "Vendome" im Schlosshotel Bensberg. Seine Kreationen lesen sich wie Gedichte und schmecken auch so: Gebratener Felsenoctopus und Briesröschen und Kapern-Aioli. Marinierte Gänseleber mit Zartbitterschokolade und geliertem Melonennektar. Rochenflügel mit grünem Olivengemüse, Spargel-Artischockensauté und Mandelsauce. Ganzes Bresse Perlhuhn auf Holzkohle gegrillt, getrüffeltes Erbsencassoulet und Chicoréegemüse. Für dieses 3-Sterne-Erlebnis darf man auch tief in die Tasche greifen. Jeder Gang einzeln um die 40 Euro und das 7-Gang-Menü bei 130 Euro.
Sonst gibt’s wie immer an Rhein und Ruhr viel Mittelmäßigkeit. Tipp für die vielen Kölner Besucher der diversen Messen: Am meisten Spaß macht’s nach wie vor im "Vintage" und im "Fischer’s Weinhaus". Verkosten Sie die neuen deutschen Spitzenweine (keine Angst, da ist ein kleines Wunder passiert!), und das Essen ist auch deutlich über dem rheinischen Standard.
Frankfurt Wirklich viel tut sich dagegen im aufstrebenden Frankfurt zwischen täglicher Börse und jährlicher Buchmesse. Der "Tigerpalast" hat zwar einen schrecklichen Namen, die Küche Martin Göschls – einer der wenigen neuen Aufsteiger – kann sich aber sehen lassen. Taschenkrebstörtchen, Kalbszunge mit Felchen-Kaviar, Steinbutt und Gänseleber auf Bohnengemüse, Milchkalbsbacke auf warmem Artischockensalat – ein 5-Gänge-Menü und, wenn gewünscht, nachher oder vorher ein Programm im gleichnamigen Varieté im ersten Stock.
Wirklich aufgemischt hat ein Österreicher die Frankfurter Szene. Der Salzburger Mario Lohninger (bis vor kurzem im "Danube" in New York) spielt sein Talent im "Club Cocoon" im Frankfurter Westen aus.
Neben Lounge, Bar und Disco überwacht er das "Silk", das erste Restaurant, wo man "liegend essen kann" (so der Werbespruch). Das heißt, man kann auf den riesigen Sofas zumindest bequem lümmeln und den Bissen zum Munde führen. Lohninger bietet ein wohlfeiles 7-Gänge-Menü um 76 Euro mit Köstlichkeiten wie Steinpilz-Cappuccino mit Tannenschaumsorbet, 1-Stunden-Bio-Ei (bei 62 Grad gegart) mit Mais und Alba-Trüffel, ein Loup de Mer in Bouillabaisse und ein japanisches Beef mit Perigord-Trüffel. Wer es lieber sitzend haben und selbst aussuchen will, geht ins "Micro", Lohningers Edel-Bistro an derselben Adresse.
München Im quirligen München zwischen Bussi-Bussi und Loden-Chic haben sich anspruchsvolle neue Szene-Lokale etabliert. Mit viel Erfolg, nicht nur beim In-Publikum, sondern auch bei denen, die Wert auf gutes Essen legen. Der "Blaue Bock" beim Viktualienmarkt ist die Bühne für den Witzigmann-Schüler Hans Jörg Bachmeier. Kurz und knapp heißt es bei ihm auf der Karte: "Taschenkrebs, Erbsenmus", "Blaukrautsuppe, gebratene Entenleber", "Seeteufel-Pulpo, Fenchel", "Taube im Brot, Zwiebelkraut". Wahrscheinlich die Münchner Neuentdeckung des letzten Jahres. Ebenfalls bei bayerischen Jung-Aristos und Medienleuten hoch angesehen und daher "in": das "Buffet Kull" unweit vom Hofbräuhaus (ordentliche Bistro-Küche mit preiswerter Weinkarte) und das "Seven Fish" am Gärtnerplatz (asiatisch inspirierte Fischküche und erstklassiger griechischer Wein, vom hellenischen Patron selbst importiert).
Doch zum Abschluss noch ein wichtiger sachdienlicher Hinweis für Österreicher, die es des Öfteren nach München zieht: Gönnen Sie sich jedenfalls einen Abend im renovierten "Tantris". Nirgendwo werden Sie besser bedient (Sommelière Paula Bosch ist ein Schatz), nirgendwo bekommen Sie Top-Qualität derart preiswert und raffiniert, wie sie der Tiroler Hans Haas nun schon seit mehr als einem Jahrzehnt zelebriert.