Plagiat: Original

Im neuen Restaurant des amerikanischen Dreisternekochs Corey Lee werden ausschließlich Kopien von berühmten Gerichten anderer Spitzenköche serviert.

Jahrelang hat Gualtiero Marchesi darum gekämpft, eines seiner berühmtesten Gerichte, das „raviolo aperto“ (offener Raviolo) urheberrechtlich schützen zu lassen. Doch der Kampf war vergebens. Wie viele seiner Kollegen vor und nach ihm musste auch der im Vorjahr verstorbene „Vater der neuen italienischen Küche“ die bittere Erfahrung machen, dass es praktisch unmöglich ist, ein Gericht patentieren oder sich die Urheberschaft dafür sonst wie offiziell verbriefen zu lassen.

Gelungen ist das nicht einmal in Frankreich, wo der gleichfalls im Vorjahr verstorbene Dreisternekoch Alain Senderens bereits seit den 1980er-Jahren seinen legendären Kampf um die Anerkennung von Autorenrechten in der Gastronomie focht. Und das in einem Land, in dem Küchenchefs historisch ein den Künstlern ebenbürtiges Ansehen genießen. Und in dem sich zudem der Staat normalerweise nicht lange bitten lässt, wenn es ­darum geht, nationale Kulturgüter und Kreationen zu schützen.

Warum es so ist, dass die essbaren Schöpfungen der Küchenchefs nicht als intellektuelles Eigentum gelten, ist also weiterhin eine offene und viel diskutierte Frage. Jedenfalls aber liegt im Fehlen der Autorenrechte ein wesentlicher Unterschied zwischen der Arbeit der Köche und jener von anderen kreativen Berufen wie Schriftstellern, Malern oder Musikern.

Ob Gerichte allerdings nur deswegen keine Kunst sind, weil man sie kopieren darf, bleibt freilich dahingestellt. „Ob ich meine Küche als Kunst verstehe, ist mit Sicherheit eine der häufigsten Fragen, die mir in meiner Karriere ­gestellt wurden“, sagt der kalifornische Dreisternekoch Corey Lee. „Aber eigentlich ist das gar nicht die Diskussion, die ich auslösen wollte, mit meiner Arbeit im All­gemeinen oder dem neuen Restaurant im Speziellen.“ Das Restaurant, von dem Lee spricht, nennt sich In Situ und ist im San Francisco Museum of Modern Art unter­gebracht, nur wenige Schritte entfernt vom Restaurant Benu, dem Stammhaus des ­gebürtigen Koreaners.

Der lateinische Name In Situ, zu Deutsch „Am Ort“, wirkt dabei ziemlich paradox. Denn bei dem äußerst originellen Konzept des Museumslokals geht es in Wahrheit genau ums Gegenteil. Hier wird nämlich der überwiegende Teil der Speisen nicht am oder vor Ort kreiert, sondern stammt von anderen Orten dieser Welt, wo sie von den unterschiedlichsten Küchenchefs erdacht wurden.

Und so finden sich auf der Karte des In Situ Gerichte, die man anderswo bereits gegessen beziehungsweise von denen man schon gehört oder sie auf Instagram gesehen hat. Und zwar inklusive des Namens ihres Ursprungsorts sowie des Entstehungsjahres. Wie zum Beispiel der Tintenfisch-Cappuccino von Drei­sternekoch Massimiliano Alajmo aus Padua (1996) oder die Lamb Carrot der Britin und aktuellen Köchin des Jahres Clare Smyth (2017). Aber auch das legendäre Dessert Oops, I dropped the Lemon Tart von Massimo Bottura aus Modena (2012) oder Tim ­Raues Wasabi-Hummer mit Mango-Jelly und Thai-Vinai­grette aus Berlin (2013).

Allesamt sogenannte Signature Dishes also, die von überall auf der Welt zusammengesammelt und hier nachgekocht werden. Wenngleich natürlich unter Nennung des Namens ihres Schöpfers sowie mit dessen ausdrücklicher Genehmigung.

Womit sich die Frage stellt, wie ein gefeierter Starkoch wie Lee auf die Idee kommt, seinen Gästen ­nahezu ausschließlich die nachgekochten Gerichte von gleichfalls ge­feierten Kollegen aus aller Welt anzubieten? „Als das Museum vor wenigen Jahren umgebaut und vergrößert wurde, ist man an mich herangetreten, um mich zu fragen, ob ich das neue Museumsrestaurant übernehmen wolle“, erzählt Lee. „Da war mir klar, dass ich teilhaben wollte an dem Projekt, und im Restaurant genau das tun muss, was Museen im Allgemeinen tun, nämlich Dinge zugänglich machen und Erfahrungen bieten, wie man sie anderswo nicht erleben kann.“

Was wiederum die Gerichte gewissermaßen zu Ausstellungsstücken macht. Und Lee zum Kurator. „So kann man das sehen, ja“, antwortet der Koch, „genau wie Ausstellungsstücke in einem Museum sind die ­Gerichte auch nicht unbedingt miteinander verbunden. Aber sie beeinflussen sich gegenseitig. Wenn man durch ein Museum geht, ist das, was man sieht, beeinflusst von dem, was man in dem Raum davor gesehen hat. Dem Betrachter bleibt somit gar nichts anderes übrig, als für sich ­einen Übergang zu schaffen.“ Genauso müsse auch der Gast vom In Situ auf psychologischer wie geschmacklicher Ebene eine Beziehung herstellen zwischen beispielsweise Tim Raues Wasabi-Hummer und der anschließenden Zitronentarte von Bottura.

Für die Ausführung der Gerichte hat Lee einen seiner treuesten Mitarbeiter beauftragt. Als Executive Chef dient der eher wortkarge und etwas schüchtern wirkende Brandon Rogers, der zuvor sieben Jahre an Lees Seite im Dreisterner Benu als Souschef tätig war; und noch früher mit ihm in Thomas Kellers French Laundry gearbeitet hat. „In Wahrheit sind es nicht unbedingt Signature Dishes, die wir nachkochen“, sagt der 32-Jährige, „viel mehr sind es Gerichte, die in der Vergangenheit zu einem gewissen Zeitpunkt an einem bestimmten Ort erschaffen wurden, häufig auch noch mit Techniken, die zu der Zeit neu oder gerade besonders angesagt waren.“

So habe er etwa bereits ein Gericht von Daniel Boulud nachgekocht, das sich Black Tie Scallops nennt und aus Schichten von Jakobsmuscheln und Schwarzer Trüffel besteht, die in Blätterteig gehüllt werden. „Für mich ist das ein typisches Gericht aus den 80ern, das Boulud heute gar nicht mehr macht und vermutlich heute gar keinen Erfolg mehr hätte, aber es spiegelt eben eine Epoche wider“, sagt Rogers.

Auch werden den Küchenchefs keinerlei Vorgaben aufgezwungen, fährt er fort. Jeder der angefragten Köche könne selbstverständlich bestimmen, ob er ein Gericht aus seinem Repertoire zur Verfügung stellen oder lieber eines speziell für das Museumsrestaurant ­kreieren wolle. Das bleibe völlig ihm überlassen. „Bei den Ingredienzien können auch sie entscheiden, ob sie bevorzugen, dass wir die originalen Zutaten verarbeiten, in welchem Fall wir diese besorgen müssen, oder ob es besser ein lokales Produkt sein soll“, sagt der Koch.

So habe etwa der Spanier Albert Adrià einen seiner Patissiers geschickt, der dann mehrere Tage mit amerikanischen Käsen experimentierte, ­bevor er auf jenen stieß, den er als am geeignetsten befand, um Adriàs Cheese­cake mit Haselnüssen und weißer Schokolade aus 2015 zu reproduzieren. Nämlich einen von der Käserei Jasper Hill in Vermont.
Botturas Lemontarte indessen kommt sogar auf dem gleichen Teller daher wie in der Osteria Francescana in Modena. „Bei einem derart konzeptuellen Gericht wie diesem ist die Optik und damit auch der Teller, der den Eindruck vermittelt, als sei er zerbrochen, natürlich essenziell“, betont Rogers. „Da blieb uns gar nichts anderes übrig, als dasselbe ­Teller-Modell zu besorgen.“

Zu geringfügigeren Problemen kommt es natürlich bisweilen auch. Vor allem Größe und Besucherfrequenz des Museumslokals stellen die Küchenbrigade immer wieder vor heikle Aufgaben. „Zum Teil sind die Anforderungen gänzlich andere, wenn man ein Gericht für 200 Couverts vorbereiten muss, als wenn man das für 30 oder 40 Couverts tut, wie das in vielen der Restaurants, mit denen wir ­arbeiten, der Fall ist“, so Rogers.

Dann gibt es ab und an auch besonders harte Nüsse. Wie etwa die Kakao-Blasen von Andoni Aduriz vom Restaurant Mugaritz in San Sebastián. „Da mussten wir echt tüfteln“, erinnert sich der Koch. „Normalerweise können wir, wenn etwas unklar ist, auf unsere Erfahrung und die erlernte Technik zurückgreifen, aber hier taten wir uns echt schwer, diese üppigen Blasen von Kakao zu reproduzieren, weil es doch um einen völlig neuen Zugang und eine gänzlich neue Technik ging.“

Und die kopierten Kollegen? Die fühlen sich vor allem geehrt. Zumindest im Fall von Tim Raue. „Corey Lee reiste zu uns nach Berlin, und wir kochten ihm den Wasabi-Hummer Schritt für Schritt vor“, erzählt der Berliner. „Er erhielt das Original-Rezept und drehte ein Video, wie das Gericht zubereitet und angerichtet wird.“ ­Außerdem seien inzwischen schon etliche Gäste aus den USA zu ihm ins Restaurant Tim Raue gekommen, um genau den gleichen Gang sozusagen auch am Originalschauplatz auszuprobieren, freut sich der Wirt.

Aber wie steht es mit Rogers eigener kreativer Ader, wenn man ständig nur Gerichte nachkocht, die sich andere ausgedacht haben? Der Kalifornier zögert kurz, bevor er eine Antwort gibt. Und sagt dann: „In Wahrheit war das die größte Herausforderung für die gesamte Brigade. Weswegen wir vor wenigen Wochen damit begannen, auch eigene Kreationen in die Speise­karte einfließen zu lassen.“

Das helfe zudem dabei, die Karte ausgewogener zu gestalten, indem man etwa ein vegetarisches Gericht oder Ähnliches einfließen lassen könne, das ansonsten nicht im Programm wäre, fügt Rogers noch schnell an. Aber in Wahrheit leuchtet es ja auch ein, dass es in einem so kunstorientierten Rahmen und angesichts so zahlreicher fantasievoller Gerichte für einen ambitionierten Koch äußerst schwer sein dürfte, mit seiner eigenen ­Inspiration ständig hinterm Berg zu halten.