Rückkehr der Hauptstadt für Genießer

Lange Zeit stand Spaniens Hauptstadt zumindest in Sachen Kulinarik im Schatten der Kreativ-Metropole Barcelona. Seit Covid hat sich die Rangordnung aber wieder dramatisch umgekehrt.

Text von Hans Mahr/Fotos Coque, Jose Taltavull, DiverXO

So etwas nennt man Trend-Umkehr. Bis zum Beginn der Pandemie gab es keinen Zweifel: Im Duell der spanischen Giganten Madrid und Barcelona hatte die katalonische Küstenstadt in puncto Kulinarik eindeutig die Nase vorn. Angetrieben vom Erfolg der Adrià-Brüder, die mit sechs Restaurants sogar ein ganzes Viertel „übernommen“ hatten, machten sich innovative Küchenkonzepte breit, neue Restaurants, Bodegas und Weinbars schossen in der katalonischen Hauptstadt aus dem Boden.

Zwei Jahre später hat es sich gedreht. Der harte Lockdown in Katalonien zwang die Gastronomie in die Knie, die Adrià-Brüder haben ihre Lokale zugesperrt. Barcelona erholt sich nur mühsam von den Covid-­Auswirkungen und muss nunmehr der königlichen Hauptstadt Madrid den Vortritt überlassen. Dort waren die Covid-Maßnahmen der örtlichen Politik weit harmloser und weniger rigid. Und natürlich bekam Madrid auch das Ausbleiben der Touristen weniger zu spüren als die Touri-Hochburg Barcelona.

Das Ergebnis spürt man in der Hauptstadt auf Schritt und Tritt: Massen auf den Straßen, Masken ­werden kaum noch getragen und die Gastronomie boomt – mehr als noch vor der Krise. „Wir Spanier sind einfach gesellige Menschen, und der Wunsch, nach der Pandemie wieder zusammenzusitzen, ist riesig …“, sagen die Restaurateure übereinstimmend. Und man muss ihnen ein Kompliment machen, sie haben die Pandemiezeit sogar genützt, um die Gastronomie-betriebe auf Vordermann zu bringen.

Im Sala de Despiece bekommt man, in schickem Industrial-Design, hervorragende neue spanische Küche serviert. Die vielen kleinen Gerichte machen Spaß und sind zudem leistbar.

Prototypisch dafür steht das Sala de Despiece im Norden von Madrid, eine ehemalige Fleischhauerei, die im Industrie-Chic umgebaut worden ist und jetzt eine grandiose neue spanische Cucina serviert. In der offenen Küche werden die Köstlichkeiten ­direkt vor den Augen des Publikums ­zubereitet und auf dem langen Tresen serviert. „Rolex“ heißt ein Gericht, bei dem das Spiegelei auf einem langen Stück Speck tatsächlich einer Armbanduhr gleicht, mit Trüffel und Foie gras geschmacklich aufgehübscht. Die „Tomata“ ist eine im Ganzen marinierte Tomate, die mit frittiertem Basilikum bestreut worden ist. Beim „Tuna Loin“ darf man das Tatar selbst in ein indisches Gebäck reinlöffeln und dann mit zwei, drei Bissen verspeisen. Der „Cod Tempura“ bringt den Kabeljau als Fischstäbchen, mit rotem Paprika und Pil-Pil-Sauce garniert. Und als Schlusspunkt vor den Süßigkeiten werden sechs flache Beef-Scheiben mit Öl, Kräutern und Salz serviert – so zart, dass man kaum beißen muss.

Das Menü ist für spanische Verhältnisse recht billig, kostet 40 Euro und ist somit auch für eine ­Familie leistbar. Apropos Familie: Wer rechtzeitig vorbestellt, kann ­nebenan in einem zweiten Gastraum einen Tisch für bis zu acht Personen reservieren und viele Kleinigkeiten von der 26 Positionen umfassenden Speisekarte gemeinsam ausprobieren, das macht Spaß. Der Erfolg des Sala de Despiece ist so groß, dass in diesem Jahr auch eine City-Dependance eröffnet worden ist – das Sala II, gleich hinter der Puerto del Sol.

Im DiverXo legt ­David Muñoz sein Tasting Menu wie viele kleine Kunstwerke an. Das hat auch seinen Preis.

Natürlich hat der Fine-Dining-Liebhaber in der spanischen Hauptstadt einige Alternativen, allerdings meist teurere, einige davon sogar sauteuere. Das DiverXO ist eines dieser sauteuren Etablissements, nach eigenem Bekunden möchte Chef David Muñoz das beste Restaurant der Welt kreieren, auf Platz 20 der World’s-50-Best-Liste hat er es schon geschafft. Sein Tasting Menu nennt er bezeichnenderweise „Canvas“ – es ­erinnert tatsächlich an bunte Kunst­werke mit den verschiedenfarbigen Saucen samt Türmchen von akribisch aufgehäuftem Fleisch, Fisch und ­Gemüse. Kreativer Höhepunkt laut World’s-50-Best: Fleischknödel mit spanischer Brühe, dazu Tintenfisch mit koreanischer Gewürzpaste und Gelbem Pfeffer. Ob es die 400 Euro samt Wine Pairing wert ist, muss ­jeder für sich selbst entscheiden.

Für alle jene, die aufs Geld schauen müssen, hat David Muñoz ein Zweitlokal eröffnet: Im StreetXO serviert er globales Street Food, von chinesischen Dim Sum über vietnamesische Rolls bis zu Tapas mit Oktopus und einem japanischen Beef-Curry. Interessant, aber halt wenig spanisch. Ähnlich kunterbunt und verrückt geht’s bei DSTAgE von Diego Guerrero zu. ­Spanische, mexikanische und japanische Einflüsse lässt er zu einer „multinationalen“ Küche verschmelzen. 15 Kostproben um 145 Euro sind aber auch kein Pappenstiel und findet man ähnlich in den meisten Großstädten, vielleicht etwas weniger ausgefallen angerichtet.

Im Cebo beweist Chef Aurelio Morales anhand unzähliger Kostproben, wie kreativ die spanische Küche interpretiert werden kann.

Aber bleiben wir bei den „echten“ spanischen Fine-Dining-Lokalen, deren Zahl und Qualität immer mehr anwächst. Das Coque etwa bietet ein Gourmet-Spektakel der Sonderklasse. Die Gäste werden zuerst in den Keller, dann in die Küche und schließlich zu ihrem Sitzplatz eskortiert. Höhepunkt: zu Beginn ein Bloody-Mary-Sorbet mit Seegurke und Garnele an der Bar und am Schluss ein idealtypisches krosses Spanferkel, fast ohne Fett, aber mit Honig gebeizt. Auch im Cebo lässt sich die Kreativität der ­jungen spanischen Köche erkunden. Neun Gänge mit insgesamt 27 Kostproben, vom Hechtbäckchen über ­Entengulasch bis zum getrüffelten Schokoladekuchen.

Wem das alles ein wenig zu überdreht ist, der sollte das La Tasquita de Enfrente besuchen. Gleich hinter der Gran Via in einer Seitenstraße versteckt, bietet Chef Juan José López originale Spezialitäten aus Spaniens Regionen in moderner Ausgestaltung. Statt frittiert wird gedünstet, statt mit viel Öl wird mit leichten Saucen gearbeitet. Die Garnelen aus südlichen spanischen Gefilden – erst roh mariniert und dann in einer leichten Currysauce – hat man selten so gut gegessen. Oder man reserviert in einem der zwei La Ancha – zwei Zufluchtsorte für spanische Familien, die sich dort eine erstklassige Dorade in der Salzkruste oder Lammrippchen mit Thymian oder eben halt ein Riesensteak teilen.

Die Eigentümer des La Ancha, die Mullers, haben aber auch eines der beliebtesten spanischen Bistros aus der Taufe gehoben, das Fismuler in Salamanca (gibt es in der Zwischenzeit auch als Dependance in Madrid). Runter in den Keller und auf ins ­Vergnügen. Am kommunalen Tisch werden 16 Personen verköstigt, neue Freunde zu finden, ist dabei inbegriffen. Bei Carpaccio von der Dorade mit Trauben, der Kabeljau-Tortilla oder einem Wagyu¯ Beef mit Pommes frites und Foie gras kommt man sich schnell näher. Vor allem, wenn man die Weinkarte gemeinsam verkostet – keine Schwierigkeit, denn 15 der einheimischen Verdejos und Tempranillos sind flaschenweise unter 30 Euro zu haben. Ebenfalls auf moderne und preiswerte Bistro-Küche setzen das TriCiclo (Ochsenschwanzravioli, Filetsteak von der alten Kuh mit Pimientos) und das La Tasqueria (Innereien aller Art).

Wer es mit der Tradition hält – und die ist in Spanien ja gar nicht schlecht –, der sollte einmal das Botín besuchen, das sich selbst als das älteste Restaurant der Welt bezeichnet. Angeblich seit 1725 residiert es unterhalb der Plaza Mayor, auf drei Stockwerken, verbunden über bedenklich knarrende Holztreppen. Man sitzt neben Torero-Kitsch und Stierkampfbildern und labt sich an althergebrachter spanischer Küche. Cochinillo, also Spanferkel, por favor! Ja, viele Touristen gibt’s dort auch, aber die Spanier sind noch immer in der Überzahl.

Und wenn man schon einmal in der spanischen Hauptstadt ist, dann will man auf das Nationalgericht Tortilla Española, das Omelette aus Eiern mit Kartoffeln und Zwiebeln, nicht verzichten; und die beste Tortilla bekommt man am Eingang zum Mercado de la Paz, in der Casa Dani. Dort pilgern Samstag- und Sonntagmittag die ­Madrilenen hin, um ihr spätes Tortilla-Frühstück zu zelebrieren. Daher am besten ab elf Uhr da sein, sonst heißt es anstellen, die Wartezeit auf die Tortilla (maximal eine halbe für zwei Personen, die Portionen sind riesig) beträgt manchmal bis zu einer Stunde. Kleine Warnung: Die Tortilla ist großartig, der Rest weniger. Wenn man Pech hat, kommen die Peperoni verkohlt und der Tintenfisch nur halbgar auf den Tisch.

Eine andere Markthalle gleich unterhalb der Plaza Mayor bietet sich für vorabendliche Tapas an. Im Mercado de San Miguel sind an die 30 Ess-Stände vereint, wo man von Tapas und Schinken bis Austern und frittierten Fischen alles sozusagen „auf die Hand“ bekommt. Dazu ein gutes Bier oder ein Glas Weißwein vom nächsten Stand. So lässt es sich bis zum späten Abendmahl – und der Spanier geht ja nicht vor halb zehn essen – durchhalten. Eine Alternative zur Markthalle bietet die Bodegas El Maño in der Altstadt – angeblich (schon wieder!) das älteste Tapas-Lokal Madrids. Laut, originell und richtig gut. Boquerones en vinagre (marinierte Sardellen), Patatas Bravas (gebratene Erdäpfel mit Aioli), Gambas al ajillo (Garnelen mit Knoblauch), Chuletón Curado (gepökeltes Steak). Nur die Callos a la Madrilena sind gewöhnungsbedürftig, Kutteln mit fetter Wurst – da hilft danach nur noch ein Carlos Primero, deftiger spanischer Branntwein. Die Karte gibt’s allerdings nur in Spanisch, daher halten Sie sich am besten an die vorher beschriebenen Spezialitäten, Sie werden es nicht bereuen.

Natürlich hat man gerade in Madrid Lust auf Schinken, auf Serrano, den einfachen, oder auf den teuren Bellota Ibérico, für den die Schweine mit Eicheln gefüttert werden. Man schmeckt’s tatsächlich – und erkennt ihn am Preis, bis zu 200 Euro pro Kilo sind nicht schwach. Im Cinco Jotas wird der Schinken in unzähligen Varianten zelebriert, kein Wunder, das Lokal gehört einem der größten Schinkenhersteller. Aber am besten sucht man eines der vielen Museo del Jamón auf (keine Museen, ­sondern einfache Schinken-Wirtshäuser), die beste Niederlassung liegt gleich hinter der Puerto del Sol. Links vom Eingang wird der Schinken am Stück für die Heimreise gekauft, und gegenüber bestellt man sich einen Teller Schinken-Aufschnitt zum gleich Essen, am besten mit Weißbrot und einem Glas Rotwein dazu. Genießerherz, was willst du mehr?

Manchmal sind es eben die ganz einfachen Dinge, die das Leben schön machen.

Sala de Despiece
www.saladedespiece.com

DiverXO
www.diverxo.com

StreetXO
www.streetxo.com

DSTAgE
www.dstageconcept.com

Coque
www.restaurantecoque.com

Cebo
www.cebomadrid.com

La Tasquita de Enfrente
www.latasquitadeenfrente.com

La Ancha
www.laancha.com

TriCiclo
www.eltriciclo.es

La Tasqueria
www.latasqueria.com

Botín
www.botin.es

Casa Dani
www.casadani.es

Mercado de San Miguel
www.mercadodesanmiguel.es

Bodegas El Maño
www.bodegaselmano.com

Museo del Jamón
www.museodeljamon.es