Sitzen Sie gut?

Ein Restaurantbesuch, mal nicht mit Nase und Gaumen, sondern mit Rücken und Auge betrachtet.

Text von Alexander Rabl Foto: Nathan Murrell

Chinesen begrüßen einander mit der Frage: „Hast du heute schon gegessen?“ Im deutschen Sprachraum heißt es in den Restaurants: „Hat’s geschmeckt?“ Aber eine Frage wird selten gestellt: „Bist du gut gesessen?“ Gaumen, Ohren, Augen haben im Gremium der Beurteilung eines Restauranterlebnisses einen festen Sitz. Der Nacken des Gastes, sein Rücken und der verlängerte Rücken sagen nichts, weil sie nicht gefragt werden. Stephan Ferenczy meint hingegen: „Ob ein Gast nach zwei Stunden im Restaurant noch eine weitere Flasche von einem 250 Euro teuren Wein bestellt, das liegt am Stuhl oder an der Bank, auf der er sitzt.“

Stephan Ferenczy ist kein Wissenschaftler mit Schwerpunkt Ergonomie im Restaurantsessel. Er ist auch kein Orthopäde, sondern Architekt und hat ein paar Wiener Lokalen und ihren Gästen zu komfortablem und ästhetisch ansprechendem Sitzen verholfen. Was jeder Rücken spürt, zimmert der Architekt in einen Satz: „Ein guter Restaurantstuhl muss so gerade sein, dass man gut essen kann.“ Und dann relativiert er sein Statement, indem er meint, es sei eben ein Unterschied zwischen förmlichem oder gemütlichem Essen, schließlich: „Die entspannteste Version des Restaurantsessels ist die Picknickdecke.“

Orthopäden predigen, dass der Mensch zu viel sitzt, er sollte mehr liegen oder stehen. Im mittlerweile verschiedenen Restaurant Silk bei Frankfurt unternahm Patron Lohninger den Versuch, Gäste beim Essen liegen zu lassen, ebenso wie Stephan Ferenczy im Yellow in Wien. Der Erfolg war in beiden Locations mäßig, obwohl im Yellow sexy Latexkissen auf den Liegestätten serviert wurden. Hausärzte warnen vor Sodbrennen, wenn man die Mahlzeit im Liegen einnimmt. Was taten die alten Römer eigentlich gegen Sodbrennen?

Die perfekten Restaurantstühle befänden sich in Harry’s Bar in Venedig, so Stephan Ferenc­zy. „Diese Stühle sind das Nonplusultra. Schauen unheimlich gut aus. Man sitzt bequem und aufrecht, hat den Rücken frei, und die Enge des Raums, gemixt mit den kleinen Stühlen und winzigen Tischen, schafft ein Gefühl der Intimität.“ All das verlocke zu tischübergreifender Kontaktaufnahme, was den speziellen Charme des Lokals noch verstärke. Die Sessel sind außerdem aus wasserfest lackiertem Holz, eine Betonung des maritimen Charakters des Orts. „Als wir in Wien das Motto am Fluss planten, habe ich ähnliche Stühle, ebenfalls aus lackiertem Holz, angedacht. Ich musste mich am Anfang ein wenig gegen den Bauherrn durchsetzen, aber heute sind die Stühle ein großer Erfolg“, sagt Ferenczy und schwärmt auch von den Stühlen im Restaurant Georges im Centre Pompidou, die nur eine Armlehne besitzen statt der üblichen zwei. „Man lehnt sich zum Gesprächspartner auf der einen Seite, dann lehnt man sich ­zurück und benutzt die Armlehne.“ Sowohl in privaten Esszimmern als auch in Restaurants bemerkt Ferenczy schwere Vergehen gegen das Gebot der Ästhetik und des Sitzkomforts. „Kunstleder ist schwierig“, sagt er, „und das Schlimmste sind Stoffe mit Mascherl auf der Rückseite.“ Man könnte ergänzend bemerken: Hussen sind die Thujen-Hecke der Restauranteinrichtung.

Der Restaurantsessel ist heute wie das Essen. Beides muss außergewöhnlich und möglichst von einem preis­gekrönten Designer sein. Noch ist es nicht so weit, dass sich Gäste über Holz, Haltung, Linie und Stofflichkeit von Sesseln unterhalten, eher geht es um Saucen und die Größe von Mangoldblättern. Aber das kommt vielleicht bald. Konstantin Filippou hat sein Restaurant in Wien gerade wieder einmal dezent, aber spürbar neu gestaltet. Die Stühle, auf denen man bei Filippou sitzt, gehören zu den schönsten der Stadt. Für Filippou sind es Restaurantstühle, die die Einmaligkeit eines Besuchs in seinem Restaurant unterstreichen sollen. Klar sei aber, dass Komfort mindestens so wichtig sei wie die Freude fürs Auge. Filippou sagt: „Unsere Gäste verbringen bis zu fünf Stunden auf diesen Stühlen. Da muss alles passen und sitzen.“ Ein halbes Jahr hätten er und sein Architekt Martin Mostböck an den Stühlen getüftelt, herausgekommen ist eine Mischung aus skandinavischer Strenge, ausgeführt in teuren Materialien, was Holz und Leder betrifft (plus – als optischer Gag – die Messingbeinchen!), dennoch ausreichend gemütlich.

Natürlich gibt es bei Restaurantstühlen nicht nur Klassiker, sondern auch Trends und Moden. Ferenczy sagt: „Das Dänische ist gerade angesagt. Weiter im Norden ist alles hochwertig, aber schlicht und bescheiden. Je weiter man in den Süden kommt, desto entspannter wird’s.“ In Regionen, wo man noch nicht luxusmüde und übersättigt ist wie in den Hauptstädten des Westens, hat Kargheit übrigens keine Reize. In der Moskauer Brasserie Dr. Zhivago fläzen sich die Gäste auf fett und bequem gepolsterten Stühlen, die bei uns bestenfalls als Sofas durchgehen würden. Man ist sein Leben lang hart genug gesessen, finden die Moskoviter.

Andreas Döllerer hat gerade sein Restaurant in Golling innenarchitektonisch neu aufgesetzt. Auch ein Teil des Mobiliars wurde neu ausgesucht und besorgt. Was denkt Herr Döllerer über das ideale Sitzgerät in einem guten Restaurant? „Man muss perfekt sitzen, der Komfort ist entscheidend. Aber einen hässlichen Sessel will man sich nicht anschauen.“ Der Prozess des Aussuchens sei kein einfacher gewesen. Döllerer sagt: „Wir ließen uns viele Sessel kommen, und bei der Höhe gab es ­viele Differenzen. Wenn das nicht passt, weil die Gäste mit den Knien nicht unter den Tisch passen, ist das ebenso ein Problem wie wenn der Stuhl zu niedrig ist und du einen Rundrücken kriegst.“ Die Auswahl sei jetzt perfekt, und Döllerer fügt hinzu: „Wir haben die Sessel auch bei uns zu Hause.“ Die Gäste nehmen privat wie im Restaurant auf einer Nuss-Ausführung des Wishbone Chair Platz. Andreas Döllerer sagt, man dürfe nicht am falschen Platz, also beim Sitzplatz, sparen: „Diese Stühle kosten Geld, aber dafür hat man seine Freude an ihnen, weil man sich nicht sattsieht.“ Der japanophile Patron in Golling weist auf die extremen Unterschiede zwischen westlicher und fernöstlicher Sitzkultur hin: „In Japan sitzt man ja meistens auf Hockern, das ist für uns so lustig wie ungewohnt. Aber es gibt in Japan auch spezielle Räume für Europäer, da stehen Stühle drinnen wie bei uns.“

Wo hat Döllerer einmal Platz genommen, dass es ihm im Gedächtnis blieb? „Ich habe noch Erinnerungen an die fetten Silberfau­teuils bei Ducasse in Paris (Plaza Athénée, Anm.), die zugleich als Raumteiler dienen.“ Sein Fazit: „Ein guter Sessel sollte nicht zu prominent sein, auch nicht zu luxuriös – im Vergleich zu früher, als es gar nicht zu luxuriös sein konnte. Hier war die seit zehn Jahren gefeierte skandinavische Gastronomie sicher beispielgebend. Jetzt sind Natur, Holz und Bescheidenheit angesagt.“ Apropos neue Bescheidenheit: Die Wishbone Chairs aus Nussholz gibt es um rund 1.000 Euro pro Stück. Gibt es einen Zukunftstrend? Bescheiden skandinavisch, üppig russisch oder keines von beidem? Für Stephan ­Ferenczy ist vollkommen klar, was kommt: „Aus meiner Sicht geht es in Richtung Natur: Wiese und Lagerfeuer.“