So nah am Feuer

Das Süße und das Bittere liegen nirgends so gefährlich nahe beisammen wie beim Karamell. Durchs Feuer gegangener Zucker ist die ideale Leckerei für Momente heiterer Melancholie, so unter dem Motto des Herrn Karl: "Ma nimmt's in Mund, und es vergeht die Zeit …"

So nah am Feuer

Text von Eva Deissen Illustration: Eva Deissen
Lazy Sunday. Im Fernsehen zeigen sie eine Sendung über spanische Küche. Vanillecreme wird in flache, irdene Förmchen gefüllt und mit Zucker bestreut. Jetzt nähert sich der Koch mit einem großen eisernen Stempel: Ganz nah hält er das rot glühende Metall über die Oberfläche. Ein leises Zischen. Sekunden später ist die Crema catalana mit ihrer glasharten, knusprigen Schicht von karamellisiertem Zucker überzogen.
Ein Herzschlagfinale, wenn auch nicht für einen geübten Profi wie den Maître im Fernsehen. Die Glut einen Millimeter zu nahe oder eine Sekunde zu lange in der Nähe der verzuckerten Oberfläche, und man könnte das Ganze, verkohlt und bitter, nur noch wegschmeißen.
Heutzutage verfügt kaum ein Privathaushalt mehr über offene Kamine, offenes Feuer im Küchenherd und darin glühende Schürhaken, die früher zum Karamellisieren verwendet wurden. Die eben erwähnten stempelförmigen Eisen sind nostalgische Werkzeuge. Wie und wo sollte man sie in einem normalen Haushalt zum Glühen bringen? Auch ein Salamander findet sich nicht in jeder Durchschnittsküche, und die Oberhitze im Backrohr hat den Nachteil, dass sie nicht den Unterhaltungswert von lodernden Flammen besitzt.
So trifft es sich gut, dass wir Heutigen in jedem Baumarkt eine mit Propangas zu betreibende Lötlampe kaufen können, die sich ganz hervorragend eignet zum Flambieren von Crème brûlée und sonstigem Überzuckerten, das eine appetitliche braune Kruste bekommen soll. Billig obendrein. Man kann natürlich auch unter den wesentlich eleganteren und teureren Geräten wählen, die seit einiger Zeit im gehobenen Gastronomiebedarf angeboten werden.
Jedenfalls hat mir der Fernsehbericht ordentlich Gusto gemacht. Leider habe ich grad kein Ticket nach Barcelona in der Tasche, wo ich einst meine erste Begegnung mit der katalanischen Creme hatte.
Irgendwas Karamellisiertes muss jetzt her, dringend. Wenn man gestern gesünder eingekauft und Äpfel im Hause hätte, könnte man sich an einer Tarte Tatin versuchen, wie sie einst in Paris so wunderbar geschmeckt hat, als die Nouvelle Cuisine ausgerufen und von den jungen Köchen der Mürbteiganteil der karamellisierten Apfeltorte gegen null reduziert worden ist. Kommt ganz oben auf die Wunschliste für die nächste Zukunft.
Karamell. Wann und wo habe ich diesen Begriff eigentlich kennen gelernt? Na klar! Wie jedes Wiener Kind beim Kauf von Milchkaramellen. Sie kamen von der Firma, die auch die weltberühmten Neapolitanerschnitten seit Menschengedenken produziert und kosteten pro Stück zehn Groschen. Das war die harte Währung der frühen Jahre: Um einen Schilling bekommst du zehn Manner-Karamellen. Eine Gewissheit wie ein Handschlag, die noch viele Jahre lang jeder inflationären Entwicklung die Stirn bieten sollte.
Wenn wir bei den nostalgischen Erinnerungen sind, dann meldet sich gleich als nächstes die Micky-Maus: Da war doch die Story, gezeichnet vom legendären Carl Barks, wo Tick, Trick und Track Karamellbonbons kochen und Onkel Donald sagt: "Haltet ein! Ich kann das nicht mit ansehen. Wenn ihr so weitermacht, klebt ihr bald von Kopf bis zu den Füßen und die ganze Wohnung ebenfalls!"
Diese Geschichte hat mich als Kind so fasziniert, weil ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte, dass man Karamellen woanders herkriegen kann als vom Greißler, ordentlich verpackt in kleine Pergamentquadrate. Selber kochen? Wie soll denn das gehen?
Heute wollen wir die Antwort auf diese Frage ganz genau wissen und Karamellbonbons selber machen. Butter und ein Becher Schlagobers sind im Eiskasten, Zucker für Kaffeegäste, die nicht auf Süßstoff bestehen, lagert in der Kredenz.
Beim Blättern in den Kochbüchern finde ich zum Thema Karamellbonbons folgende Warnung: "Achtung! Dieses Rezept nur zusammen mit Erwachsenen durchführen! Dabei lassen sich die kleinen Klugscheißer unter euch lieber von ihren Eltern helfen, denn beim Bonbonmachen geht’s ganz schön heiß zu!"
Obwohl keine vertrauenswürdigen Erwachsenen weit und breit zu sehen sind, gemmas halt an. Etwas Butter zergehen lassen, darin den Zucker schmelzen und mit Schlagobers aufgießen. Tropfen Essig und Prise Salz dazu. Fertig? Na, das gerade nicht, denn jetzt heißt es rühren, und zwar mindestens eine halbe Stunde. Jede Sekunde Unaufmerksamkeit würde sich rächen. Im ersten Stadium durch Überkochen der Obers-Zucker-Mischung. Und im zweiten Stadium, wenn die Masse braun zu werden beginnt, durch Anbrennen.
Wer so lange ununterbrochen am Herd steht und rührt, dem geht vieles durch den Kopf. Das von mir entschlüsselte Geheimnis der Tante Jolesch und ihrer Krautfleckerln, von denen es immer zu wenig gegeben hat und die mit Zucker angeröstet wurden, habe ich Ihnen an dieser Stelle ja schon vor einiger Zeit anvertraut.
Karamellisierter Zucker macht sich fast in allen Gerichten, die mit dem Anrösten von Zwiebeln beginnen, nicht schlecht. Ein flüchtiger, aber wirklich nur ein Hauch Kristallzucker über die Zwiebeln gestreut kann dem Sauerkraut niemals schaden, auch nicht dem Gulasch. In jedem Fall muss die Aufmerksamkeit verdoppelt werden, denn erhitzter Zucker ist ein sensibler Hausgenosse, der sich binnen Sekunden durch endgültigen Zerfall seiner Moleküle mit teuflischem Gestank für die mangelnde Zuwendung revanchieren wird.
Die Prise Zucker zur rechten Zeit ist quasi das Pendant zu "cum grano salis". So, wie wenige Salzkörner dem süßen Kuchenteig oder eine Drehung der Pfeffermühle der Erdbeerbowle die ultimative Abrundung geben, so macht sich ein ganz klein wenig Zucker in vielen sauren oder scharfen Gerichten sehr gut.
Das gilt auch für die viel geschmähte Wiener Unsitte, Salat mit einer gezuckerten Marinade zu vollenden. Ein Kärntner erzählte mir einmal die ergreifende Geschichte, wie er mit seinem damals minderjährigen Sohn im Zug von Klagenfurt nach Wien gefahren ist. Der Knabe weinte herzzerbrechend, war überhaupt nicht zu trösten. Der Vater verlangte eindringlich nach einer Antwort, warum sein Stammhalter denn gar so bitterlich schluchzen musste. Nach langem Drucksen brachte er es schließlich doch heraus: "Is des wohr, Voda, dass de Weana den Solot mit Zucker onmochn?"
Die regionalen Vorlieben scheinen hier tatsächlich von sehr verschiedenen Gustos und Watschen gekennzeichnet zu sein. Wer zählt die Häupter, nennt die Namen, die bei mir schon einen gezuckerten grünen sowie Mayonnaisesalat zum Schnitzel gegessen haben und nachher vor Wohlbefinden fast in Tränen ausgebrochen sind? Nur sagen darf man es nicht. Wie ich als gutmenschliches Plaudertascherl überhaupt lange gebraucht habe, über diverse Kleinigkeiten lieber den Mund zu halten. Eine Tugend, die Hausfrauen vom alten Schlag eine selbstverständliche war und ist. Man frage diese Damen besser nie nach einem Rezept. Immer bauen sie irgendeinen für die Konkurrentin tödlichen Fehler ein: Na gut, Ihnen kann ich’s ja sagen: Das Mokkalöfferl Zucker für die Salatmarinade oder für die Mayonnaise koche ich immer mit ganz wenig Essig auf, bis die Sache leicht zu karamellisieren beginnt …
Das Flunkern beim mündlichen Weitergeben von Rezepten gilt als uralte weibliche List. Dem deutschen Grandseigneur der Gastrosophie, Wolfram Siebeck, ist so etwas hoffentlich nicht zuzutrauen. Er schreibt: "Wenige Nachspeisen sind so bekannt und werden so selten gegessen. Die Crème au caramel ist ein geradezu klassisches Dessert, aber niemand kann sich erinnern, dass sie zu Hause gemacht wurde. Das ist bedauerlich, weil nämlich die Crème au caramel einen sehr reinen Geschmack hat, nicht übermäßig süß ist und auch nach einem großen Essen noch angenehm leicht wirkt – sofern man sie selber herstellt. Das ist wie mit den Weihnachtsplätzchen von der Oma und jenen aus der Großbäckerei." Siebecks Rezept kommt auch ganz oben auf die Zukunftsliste.
Jetzt muss ich mich aber konzentrieren, weil die Milchkaramellen ihrer Vollendung entgegengehen: Sie sind jetzt schön braun, karamellfarben eben. Kleiner Schuss kaltes Wasser, noch einmal heftig rühren. Dann die dicke Masse in die vorbereitete, mit Backpapier ausgelegte Form gießen und kühl stellen.
Beim Entsorgen von Kochtopf und Schneerute tropft sehr viel heiße, sehr süße Karamellmasse. Man schleckt da ein Tröpfchen, dort ein Patzerl, dann an der Schneerute. Aufhörn kann i net … Yum.
Die Milchkaramellen à la Tick, Trick und Track sind erstarrt und in ordentliche Viereckchen geschnitten. Ich fühle mich mittlerweile ein bisserl wie Onkel Donald auf der Suche nach dem in der Karamellmasse verloren gegangenen Brillantring. 999 Bonbons hat er schon lutschen müssen. Und der Glückspilz Gustav Gans beißt in das tausendste, findet den Ring und kassiert den Finderlohn. Donald kriegt von der glücklichen Ringbesitzerin eine Tüte Karamellzuckerln zur Belohnung und daraufhin einen Nervenzusammenbruch.