Von Küchenmimosen und blutigen Steaks

Wo alles messbar ist, gibt es so etwas wie ein objektives Urteil. Aber wie gehen Köche mit Kritik und Reklamationen um?

Von Küchenmimosen und blutigen Steaks

Text von Eva Rossmann Illustration: Auge
Sie ist im Stress. Der Herd ist zu klein, es dampft und zischt und Platte sechs spinnt schon wieder, der Jus gehört dringend abgeseiht, die Wachteln am Grill werden mit der Hand umgedreht, keine Zeit, die Spachtel zu nehmen. Das Kind daheim macht Probleme und überhaupt sollte sie wieder einmal etwas für sich tun. Und dann: Das Steak wird zum zweiten Mal zurückgeschickt. Der Kellner plustert sich auf, als hätte sie einen Fehler gemacht, das Steak war am Punkt, der Gast hat nichts Besonderes bestellt, es war daher medium, wie immer, dann hat er es rare gewollt und bekommen, verdammt, man hat sich als Köchin keinen Namen gemacht, wenn man nicht einmal ein dämliches Steak braten kann, jetzt hätte es dieser nervtötende Gast gerne noch roher. Tisch sechzehn und Tisch dreizehn warten auf die Hauptspeisen. Die eine Vorspeise auf Tisch 7 hängt. Noch einmal. Bleue. Und daneben die Lammrücken hinaus und auf den Gardemanger aufpassen, der lieber tratscht als anrichtet. Sie sollte einmal Urlaub machen. Aber zuerst daran denken, dass sie heute noch … der Kellner ist schon wieder da. Aufsässiger Blick. Vielleicht ist er auch bloß hochgradig nervös, fürchtet sich vor ihr, jedenfalls: Dem Gast ist das Fleisch immer noch zu durchgebraten. Der neue Koch schneidet Spargel und grinst spöttisch. Es reicht. Sie nimmt ein Steak aus der Kühllade, packt ihr Kochmesser, rast an den Tisch. Vier gut gekleidete Gäste starren sie an. In der Küche muss man schnell sein, sie ist es auch hier. Eine Bewegung und das blütenweiße Tischtuch samt allem, was sich darauf befindet, fliegt. Noch eine Bewegung, sie rammt das rohe Fleisch mit ihrem langen Messer direkt vor dem Gast in den Tisch. Rachegöttin vieler sekkierter Köchinnen (und natürlich Köche). Aus dem Film "Bella Martha". Großartig, aber natürlich Fiktion.
Zum Glück, sagt Manfred Buchinger, in dessen Gasthaus "Zur Alten Schule" ich jetzt schon zwei Jahre mitkochen darf. Er hat mich im Verdacht, in ähnlichen Situationen ganz real so handeln zu können wie Martha im Film. Keine Angst, er überschätzt mein Temperament und: Träumen wird man ja noch dürfen … Aber es war eine der ersten Regeln, die er mir beigebracht hat: Gibt es eine Reklamation, dann wird sie ohne großes Geschimpfe sofort erledigt. Ich weiß ja nicht, wie es in anderen Küchen zugeht, aber ich gebe zu: Wenn ein Gast den Lachs zurückschickt, weil er (umgekehrter Fall Martha quasi) "noch fast ganz roh" ist, dann ist mir schon das eine oder andere … böse Wort ausgekommen. Weil wer (ganz wertfrei formuliert, der Buchinger hat mir inzwischen eben einiges beigebracht) will schon einen marinierten und auch als solchen auf der Karte beschriebenen Lachs total durchgebraten? Er sollte außen angebraten und innen glasig sein, so ist er am besten, und damit basta. Oder der ver…ehrte Gast sollte eben gleich sagen, dass er den sch…önen Fisch durch und doppelt ermordet haben möchte.
"Spar‘ dir deine Kraft fürs Kochen", sagt der Buchinger und er hat ja Recht. Die Gäste zahlen und wollen dafür das Essen, das sie sich vorstellen, und nicht meine Vorstellung von gutem Essen. Je öfter das übereinstimmt (meist ist es ja ohnehin der Fall), desto schöner ist es natürlich. Wenn’s einmal nicht so ist, schafft der, der zahlt, eben an. Aber … großartig ist die Szene aus "Bella Martha" trotzdem. Und: Auch wenn er es im akuten Küchenstress sinnvollerweise verdrängt, auch den Buchinger ärgern Reklamationen und Kritik, man merkt es am besten daran, dass er in den späten Abendstunden dauernd davon anfangen muss, meistens mit der Einleitung, dass ihm das ja völlig egal sei, aber …
Es ist eben nicht einfach, mit negativen Rückmeldungen umzugehen. Das ist in der Gastronomie und in meinem Hauptberuf, dem Schreiben von Kriminalromanen, gar nicht so anders. Wo alles messbar ist, gibt es so etwas wie ein objektives Urteil. Ein Formel-1-Fahrer ist eben besser, wenn er schneller ist. "Hätt‘ i" und "War‘ i" zählen da nicht. Und eine Akkordarbeiterin, die in der Stunde mehr Hendln verpacken kann als ihre Kolleginnen, ist auch besser (vorausgesetzt, sie verpackt sie ordentlich). Aber beim Bücherschreiben: Klar gibt es Kriterien für Stil und Inhalt. – Außer man wird eben dafür berühmt, den Stil zu brechen und keine herkömmliche Geschichte zu erzählen. Aber beim Kochen: Klar gibt es die Klassiker und die gehen so und nicht anders – hmm, außer man interpretiert sie neu (was einem Starkoch Lobeshymnen einbringen kann, während das Stammpublikum eines Dorfgasthauses eher vom Deppen in der Küche reden könnte, der nicht einmal weiß, wie man ein Gulasch macht). Und sensible Künstler(innen) sind wir schließlich alle, zumindest wir, die im Alltagsgetümmel den Traum noch nicht verloren haben, das Bessere zu suchen (was immer das ist). Ich meine, auch die Buchbesprechung vor drei Jahren in dieser Literaturbeilage, die eigentlich recht positiv war: Dass diese Ziege schreiben musste, sie fände die Geschichte eher ein wenig unglaubwürdig, aber eben (gönnerinnenhaft! Es war einfach herablassend gönnerinnenhaft!) ganz gut erzählt, na ja, wahrscheinlich mag sie keine Krimis und war ansonsten auch nicht ganz auf der Höhe. Ich meine, man denkt an nichts Böses, liest die Kritik und dann: "ein wenig unglaubwürdig"! Mir ist es ja egal, aber unglaubwürdig? Und da kommt dann so einer und will sein Steak … na ja, vergessen wir es.
Weil (nahezu) objektiv betrachtet und jedenfalls zum Trost: Je bekannter und auch im Wortsinn "be-rühmter" jemand ist, desto mehr Kritik zieht er eben an. So gesehen muss man schon einiges geschafft haben, um überhaupt der Kritik für wert befunden zu werden. Weniger positivistisch und mehr küchenpraktisch formuliert: je mehr Sterne, Hauben und Bestecke, desto größer auch der Schwarm an Wichtigtuern und Besserwissern, der einen begleitet. Es gibt halt welche, die wollen ihren Lustgewinn nicht durch Essen an sich, sondern viel mehr durch entsprechende (negative) Kommentare über das Essen erreichen. Das kann sich dann in der milden Form so anhören: "Also ich sag‘ dir, früher hat man dort ja wirklich großartig gegessen, aber jetzt …" Angewidertes Kopfschütteln. Offenbar wird auch das bei uns immer amerikanischer: Wurde ein (neues) Lokal einige Monate lang gut besprochen, muss es nahezu in den Monaten darauf "abstinken" – selbst wenn nach dem ersten Hype die Küche oft erst die Chance hat, besser zu werden, sich zu finden, genauer für die fünfzig oder hundert Gäste des Abends zu kochen als für die heranstürmende neugierige Meute der ersten Zeit.
Gröbere Formen der Kritik findet man gerne anonym und auf einschlägigen Kulinarik-Internet-Seiten. Von "überschätztem Saftladen" ist die Rede (während der Rest der Welt die Beuschlkreation des Starkochs liebt, aber er fragt sich dann doch, war es so trocken, zu saftig, wer kann das gewesen sein, der da schreibt …), von der "hochnäsigen inkompetenten Gastwirtin" (während viele die Frau nicht nur aufgrund ihres Arbeitspensums bewundern, und sie überlegt, ob sie irgendwann und wenn, zu wem und warum nicht freundlich genug war), von "Deppensteuer, für alle, die da reingehen" (kein Problem, man muss ohnehin Wochen im Vorhinein reservieren, um einen Platz zu bekommen). Irgendwie tut’s trotzdem weh. Man fühlt sich ausgeliefert. Unverstanden. Ungeliebt.
Beliebt ist auch die um Wochen verspätete Kritik via E-Mail. In der allerempörtesten, die Buchingers Gasthaus "Zur Alten Schule" jemals erreicht hat, ging es um den unfassbaren "Affront", dass es auf der Terrasse doch glatt Ikea-Besteck gibt! Und das in einem von Restaurantführern bewerteten Lokal! Hätte der Buchinger wenigstens eines einer Fluglinie, dann wäre das vielleicht noch lustig, aber so etwas! Im Geist hat Buchinger lange Antwortmails aufgesetzt, in denen er Bescheid geben wollte, dass er in Flugzeugen kein Besteck klauen mag und daher lieber (als zusätzliches Besteck, wenn sehr viel los ist) auf schwedisches Industrie-Design setzt, wir haben auch überlegt, die Geschäftsführung von Ikea mit einem Schreiben – natürlich freundlich bis ironisch – zu verständigen und vielleicht auf unsere Seite zu bekommen, und außerdem … haben wir uns viel zu lange mit der Mail beschäftigt, bis es im Laufe der Tage und Teller nicht mehr so wichtig und schließlich (fast) vergessen wurde.
Also: Wann "darf" ein Gast kritisieren, ohne den kochenden Künstler in seiner empfindlichen Seele zu kränken? Wann reklamieren? Erstens einmal (siehe oben und Buchinger): immer. Gäste kommen, um gut zu Essen, also um ihre Befindlichkeit und nicht die des Wirts zu optimieren. Zweitens: wenn, dann bitte gleich. Es ist mir als Gast zwar unangenehm, aber wenn die Suppe kalt ist, dann schicke ich sie zurück. Ohne Zorn und, seit ich selbst in der Küche arbeite, auch mit viel Verständnis dafür, dass durch eine Verkettung dummer Umstände und menschlicher Unzulänglichkeiten gerade diese wichtige Suppe (nämlich meine) drei Minuten zu lange herumgestanden ist, bevor sie serviert wurde. Kommt in den besten Häusern vor.
Man kann mit Reklamationen aber auch seine blauen Wunder erleben: Vor einigen Jahren saß ich auf der Terrasse eines renommierten Hotelrestaurants am Wörthersee und bekam meinen Salat. Ich bin nicht besonders penibel, aber da waren zwei große, saftige Fleischfliegen zu viel. Der Kellner kommt, ich zeige ihm die Tiere, er starrt mich mit jenem flachen Blick an, bei dem man glaubt, ins Nichts zu sehen, und sagt: "Die können auch jetzt erst hineingeflogen sein." Ich irritiert, suche nach Humor, da ist keiner. Ich habe gezahlt und bin gegangen. Und nicht mehr wiedergekommen.
Der Gardemanger wird von meinen Fliegen vielleicht weder etwas gesehen noch gehört haben. Vielleicht wäre er entsetzt gewesen und der Küchenchef wäre gekommen, hätte sich entschuldigt. Kann aber auch sein, dass der Kellner mit dem Salat in die Küche gegangen ist und laut gesagt hat: "Da waren zwei Fliegen drin. Die Frau ist sofort gegangen." Oder: Der Eigentümer des Hotelrestaurants steht auf dem Standpunkt, dass Gäste kommen, zahlen und ansonsten den Mund nur zum Essen aufmachen sollen. – Außer sie sind irgendwie "wichtig". Kommt auch in den besten Häusern vor. Ich versuche, solche zu meiden.
Wobei die Sache mit der Kommunikation zwischen Service und Küche (wie jede Form der Kommunikation) schon an sich eine komplizierte ist. Aber wenn es um Kritik geht, dann sind Missverständnisse bis hin zu Scharmützeln und blutigen Kriegen nahezu vorprogrammiert. Weil: Will sich der von mir (sonst so gemochte) Typ bloß wichtig machen, indem er kommt, uns das halb gegessene Rindsfederl hinhält und mitten im größten Geschäft sagt: "Der Gast hat es zäh gefunden. Sieht auch so aus." Hat er versucht, zu vermitteln, dem Gast zu sagen, dass das Fleisch vom Rinderhals besonders g’schmackig ist, aber auch fester (steht eh auf der Karte)? Fairerweise muss man sagen, es ist der Service, der die (wenigen) unzufriedenen Gäste auszuhalten hat. Und sie müssen uns in der Küche die schlechte Botschaft überbringen. Ich wundere mich nicht mehr, dass in vergangenen Jahrhunderten so mancher Kurier mit einer schlechten Nachricht geköpft worden ist. Gewisse Kellner haben auch nur knapp überlebt. Aber: Es geht ja auch ganz anders. Walter, oder Herta, oder Rudi oder gar Chefin Renske selbst kommt in die Küche und ruft: "Tisch zwölf hat es hervorragend geschmeckt! Ich soll der Küche ein großes Lob ausrichten!" Dann sind wir alle eine große, glückliche Familie und lieben einander. Gäste (müssen nicht), aber können dazu beitragen.