Wie wichtig ist essen?

Ein Plädoyer für die kulinarische Ent-Spannung

Wie wichtig ist essen?

Text von Eva Rossmann Illustration: Peter Zolly
Ich bin konzentriert über einen Teller gebeugt, die Variation vom Pellendorfer Lamm sieht genau so aus, wie ich es möchte: das Lammvögerl mit der Sauce aus Wurzelgemüsen und Paradeisern darunter, darauf der rosa gebratene Lammrücken, darauf ein kleines Stück gebackene Lammbrust. Daneben das Spinatgupferl. Jetzt nur noch einige Tropfen Lammjus, dort, wo sie hingehören. Ich beuge mich über den nächsten Teller. Die gegrillten Fische, nehme Limettenscheiben, registriere nicht rechtzeitig, dass unser Lehrling, vom Buchinger angeleitet, immer mit dabei zu sein, nie bloß zuzusehen, sich an "meiner" Lammvariation zu schaffen macht – er hat tatsächlich etwas vom grünen Rucola-Öl daraufgepatzt. Was macht der Idiot? Zerstört alles, vernichtet alles! Ich bebe, stehe kurz vor einem Vulkanausbruch.
Der Lehrling hat es überlebt (nicht zuletzt deswegen, weil so viel los war und ich daher sinnvollerweise in mich hinein implodiert bin), es ist höchstens 15 Minuten später, ich am Herd und am Grill, zwischen Bärlauch-Velouté und Entenhaxerl, zwischen sautiertem Gemüse und vegetarischem Zwiebelrostbraten, als Buchinger, in mindestens demselben Stress, meint: "Lach‘ doch ein bissl! Du schaust zum Fürchten drein!" Vulkanausbruch zwei ist im Anrollen, wird gerade noch unterdrückt, als ich merke, dass ich vergessen habe, Erdäpfelscheiben auf den Grill zu legen, im Wegdrehen murmle ich bloß etwas Unfreundliches, von wegen, mir ist eben wichtig, was raus zu den Gästen geht und ich schau eben so drein, wenn ich konzentriert bin, soll er sich doch freuen, dass ich alles so ernst nehme.
Am Nachmittag blättere ich in einigen internationalen Kochzeitschriften, habe meine Wutwallungen längst vergessen (in so etwas bin ich zum Glück gut), aber dann fällt mir etwas auf, das mich daran erinnert: die abgebildeten Star- und Sterne-Köche, die mit einem Ernst, der mich an Haute-Couture-Models erinnert (die dürfen ja schon lange nicht mehr lachen), Schäumchen auftragen, ein Blättchen hinlegen, nein, nicht hinlegen, sondern gedankenschwer platzieren, die sinnend an der Kamera vorbei in das Unendliche sehen.
Essen ist überlebens-wichtig, natürlich. Aber wie wichtig ist Kochen? Wie wichtig sind die, die kochen? Kochen und Essen sind für mich als Köchin, als Autorin von Kriminalromanen, in denen oft gekocht wird, als Autorin eines Kochbuches, als Esserin zwei der schönsten Hauptsachen im Leben. Und ich bin froh darüber, dass Essen und Kochen in den letzten Jahren in Österreich einen höheren Stellenwert bekommen haben. Zumindest für eine gewisse Gruppe von Leuten, die es sich, was das Geld und die Zeit anlangt, leisten können. Aber mit etwas Distanz betrachtet, war es vollkommen egal, ob auf unserem Lammgericht auch noch ein paar Tropfen Rucola-Öl gelandet sind. Und dass ich mich beim Kochen konzentriere, ist schon in Ordnung. Hat auch mit dem Respekt vor Gästen und Produkten zu tun. Ich sehe aber ein, dass meine wilde Ergriffenheit den Buchinger nerven kann. (Zu meiner Entschuldigung sei angeführt, dass ich eben eine Jungköchin bin, nicht an Lebensjahren, aber an Kochjahren.) Jedenfalls: Zu glauben, dass die Zubereitung eines Schäumchens, die Kreation eines Gerichtes aus Jakobsmuscheln und Kalbshirn, ein Palatschinkenteig, der durch die Zubereitung in flüssigem Sauerstoff geadelt wird, lebensnotwendig und von entsprechender Bedeutung sind, geht mir zu weit. Etwas ironische Selbstdistanz zu dem, was wir KöchInnen so probieren, täte vielen sehr gut, es würde auch etwas vom Druck nehmen.
Ich werde nämlich den Verdacht nicht los, dass der Kochhype in unserer Hochleistungswelt eine große Gefahr birgt: Gut kochen und gut essen könnte zu einer neuen gesellschaftlichen Disziplin verkommen, bei der es um Prestige und Rankings, um das Besserwissen, Besserkönnen, Mehrhaben, Weitervornesein geht und nicht mehr um den Genuss.
Vor kurzem traf ich eine Krimiautorenkollegin, die mir erzählte, früher sei alles so einfach gewesen, sie habe ihren Gästen Spaghetti gekocht, es sei ein netter Abend geworden und damit basta. Jetzt, wo alle – gut – kochen, beschleiche auch sie das Gefühl, mehr bieten zu müssen als eine Schüssel Nudeln.
Vor etwas längerem war ich eingeladen, ein Paar versuchte sich an einem aufwändigen Fünfgangmenü, leise gezischte Schimpfworte in der Küche, Stress nicht nur beim Kochen, sondern auch beim Loben (dabei war eh alles gut). Ein gemütliches Gespräch kam nie zustande, weil dauernd jemand aufgesprungen ist und nach irgendeinem Gericht gesehen hat. Und für mich noch Zusatzdruck, immer wieder Verweise darauf, dass ich ja professionell und noch dazu in einem Toplokal koche, mir daher das alles hier jedenfalls zu minder sein müsse, mir eigentlich kaum vorzusetzen sei. Oje! Und selbst meine Freundin Romana, übrigens eine großartige Köchin, ich habe noch nie so gut arabisch gegessen wie bei ihr, fängt schon so an und ziert sich, mich zum Essen einzuladen. Also bitte: Ich habe nichts gegen Fünfgangmenüs, vorausgesetzt, es geht entspannt und es darf auch was daneben gehen. Also bitte: Ladet mich wieder einmal auf Spaghetti ein, ich werde nicht werten, ob sie perfekt al dente sind, sondern ob mir unser gemeinsamer Abend schmeckt.
Ent-Spannung ist übrigens nicht nur von Seiten der Profiköchinnen und Hobbyköche angesagt, sondern auch von Seiten der Gäste. Nachdem heute alles gewogen, gemessen, gereiht und gewertet wird, scheinen immer mehr hinter dem "ultimativen" Ess-"Erlebnis" her zu sein. Als gelte es im Ranking einer Wochenzeitung zum besten Esser der Woche, des Monats, des Jahres gekürt zu werden, treibt sie die Sorge um, das wirklich "beste" Lokal ausgesucht zu haben, das, von dem nicht nur Gastronomiekritiker schwärmen, sondern auch ihre Freunde, vor allem jene, die etwas "vom Essen verstehen" und natürlich die Medien. Hm. Was Gastronomiekritiker und einschlägige Führer angeht, so hat ein gescheiter (und recht entspannter) Genießer einmal gesagt, sie seien sehr nützlich. Vor allem, wenn man sie als kulinarisches Telefonbuch betrachte.
Besonders ausgeprägt wird die Sorge mancher Gäste, ja die richtige Wahl getroffen zu haben, wenn es darum geht, jemandem zu imponieren. Freunden, Freundinnen, Geschäftsfreunden. Am schlimmsten wird es allerdings, wenn es um die eigene Familie geht. Ich erinnere mich an ein Paar: freundlich, entspannt, sie kommen regelmäßig. Und dann ein Sonntag Mittag, an dem sie Eltern und Schwiegereltern ihr Lieblingslokal zeigen wollen und plötzlich ist nichts mehr gut, man beschwert sich über zu hart gekochten Spargel und über eine Kapriole unseres unvergleichlichen Obers Rudi (den dasselbe Paar bisher geliebt hat – Rudi kann man nur hassen oder lieben …). Misstrauisch wird dann auch noch nachgefragt, ob denn der Buchinger wirklich da sei, ob er wohl selbst koche, man habe ihn noch nicht gesehen. Angst, nicht wichtig genug genommen zu werden, Angst, vor den Eltern und Schwiegereltern zu versagen. Der Buchinger steht eh in der Küche, anders als ein Teil seiner Küchenchef-Kollegen (und wer sich gar in Frankreich erwartet, dass einer der Superstars höchstpersönlich für ihn kocht, der sollte lieber gleich daheim bleiben, die meisten haben einige Lokale und ihr Verdienst ist, dass andere in ihren Küchen so gut kochen wie sie), aber Sonntagmittag um eins schafft er es eben nicht bis hinaus zu den Gästen, Lockerheit hin oder hier, da geht es ums Überleben – im übertragenen Sinn natürlich –, wenn ich am Nachmittag nach dem großen Run überlege, dann ging es bestenfalls darum, dass die Gäste glücklich sind. Auch ganz schön wichtig, aber – sorry – doch nicht so wichtig wie Leben oder Tod, auch wenn wir im Moment am Herd zwischen Bons und immer neuen Bestellungen davon überzeugt sind – der Buchinger übrigens mindestens so sehr wie ich.
Jedenfalls macht er es seinen Gästen ohnehin einfach: regionale Produkte, entweder klassisch oder doch wiedererkennbar verarbeitet. Nun gut, vielleicht ist das manchmal auch ein Manko, bei jenen, die alles (besser) wissen. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass es in anderen Lokalen stressiger sein kann. Plötzlich ist einer, der ganz harmlos gern mit seiner Tischgesellschaft reden möchte, umgeben von Kellnern, die dauernd etwas bringen, etwas reichen, nachschenken, das dritte Amuse-Gueule erklären, die einem ein siedend heißes Reagenzglas servieren, aus dem man nun einen Schluck Suppe schlürfen soll, ohne zu patzen und zu sabbern, wo doch die Kellner so vornehm sind, dass man versucht, gerade zu sitzen, wie man es einst in der Kindheit gelernt hat. Serviert werden "Kreationen", kein "Essen" (Pfui Teufel!), ernst und wichtig und mit solcher Bedeutung, dass sich bald einer eingeschüchtert kaum mehr zu denken traut, ob sie ihm schmecken oder nicht. Was soll man auch zu ultratiefgekühlten Schokopillen, die angeblich am Gaumen eine Geschmacksexplosion hervorrufen, sagen? Etwa, dass man diese Geschmacksexplosion nicht gespürt hat? Um dann als kulinarischer Tölpel und Nichts-Schmecker dazustehen? Ich hab‘ es da verhältnismäßig leicht. Erstens wird mir eine – gewisse – kulinarische Kompetenz zugetraut und zweitens stelle ich mir in solchen Fällen vor, wie das Team in der Küche schwitzt, sich bemüht, etwas Neues, noch Besseres, Niedagewesenes zusammenzubringen. Ich hoffe auf Frieden an der Koch- und Ess-Front, trage das Meine dazu bei und schweige.
Apropos Schwitzen: Nie werde ich ein Buchinger-Bonmot vergessen, das er mir zu Beginn meiner Koch- und Küchentätigkeit erzählt hat: Viele schwitzen, wenn sie den Schnittlauch füllen. Andere füllen ihn auch, aber sie lassen es sich nicht anmerken, dass sie schwitzen. Und darum geht es auch: Understatement anstelle von Überwichtigkeit. Leichtigkeit und Lockerheit, selbst wenn sie manchmal gespielt ist. Entspannt kochen, oder zumindest so, dass die anderen nicht sehen, dass man schwitzt. Entspannt essen, oder zumindest so, dass man sich zutraut, selbst zu entscheiden, was einem schmeckt. Fehler zulassen und verzeihen, weil jede Stunde zu kostbar ist, um sie sich und anderen zu vermiesen.
Ach ja, eigentlich sollte ich längst in der Küche stehen, heute in meiner privaten, ich hab‘ den ersten Weinviertler Spargel des Jahres und dazu unsere Freunde Gerda und Joschi eingeladen, geplant war ein größeres Spargelmenü mit Soufflé und Sauce béarnaise und klarer Spargelsuppe mit Chili und gewoktem Spargel mit Bärlauch. Ich sehe noch einmal auf die Uhr, ich rechne (bin auch privat nicht ganz frei von kulinarischem Leistungsdenken und verwöhne meine Lieben gerne) und disponiere um. Es wird gekochten Spargel mit frischen Erdäpfeln geben. Bio-Butter. Den ersten Schnittlauch aus dem Garten. Den Spargel werde ich auf Bärlauchblätter legen. Vielleicht geht sich auch noch eine Sauerrahmsauce aus. Ernest und die Döllingers werden mir verzeihen. Ich freu‘ mich auf den Abend.