Monsieur Nouvelle Cuisine

Michel Guérard hält seit 40 Jahren drei Michelinsterne, gilt als der wahre Erfinder der „Nouvelle Cuisine“ und hat nebenher noch mit seiner „Cuisine Minceur“ die Feinschmeckerei mit dem Wunsch nach gesunder Ernährung versöhnt.

Text von Willi Klinger Foto von Les Prés d’Eugénie

Willi Klinger: Michel Guérard, sie haben nun schon 40 Jahre lang durchgehend drei Michelinsterne. Begonnen haben Sie Ihre Karriere als Pâtissier.

Michel Guérard: Ja, in dieser Positionen arbeitete ich auch im Lido in Paris. Dort hatte ich eine Doppelfunktion: Ich machte riesige dekorative Aufbauten und Skulpturen für die großen Pariser Shows in der Glanzzeit des Lido und gleichzeitig kochte ich für die Privatfeste des Lido-Eigentümers in seinem Château nahe Paris. Seine verwöhnten Gäste aus dem Jetset und Showbiz konnte man nur mit ausgefallenen, leicht verrückten Gerichten beeindrucken. Dabei wurde uns klar, dass wir im Begriff waren, die „Nouvelle Cuisine“ zu entwickeln.

Was war eigentlich die Rolle von Paul Bocuse bei der Entwicklung der Nouvelle Cuisine?
Paul hat dafür gesorgt, dass die Köche, die ja vorher nicht viel galten, aus ihrer Domestikenrolle herauskamen. Dass Köche wie Bocuse oder ich nun auch Patrons wurden, war mit ein wichtiger Aspekt der Nouvelle Cuisine. Die Küche hat in Frankreich schon immer eine wichtige Rolle im Tourismus gespielt, der immerhin 8 % des BIP ausmacht.

Was war das für eine Küche, die sie für die Dinner-Shows gekocht haben, Escoffier?
Ja, genau! Wissen Sie, ich denke, für einen Koch ist es wichtig, die klassische Küche zu kennen. Die Köche, die die klassische Küche beherrschen, sind geschickter am Herd.

Sie sind ja einer der, wenn nicht DER Erfinder der Nouvelle Cuisine.
Die Nouvelle Cuisine hat immer noch ihre Daseinsberechtigung. Heute gibt es sicherlich eine noch ausgeprägtere Überkreativität, jeder versucht, sich von den anderen abzuheben. Außerdem gibt es eine schleichende, von Asien ausgehende Kolonialisierung unserer Küchen. Da müssen sogar wir Franzosen aufpassen, dass unsere Küche nicht exotisch wird.
Sie haben sicher auch bei Ferran Adrià gegessen?
Ja, das war spannend, denn Ferran hat interessante Techniken gebracht. Ferran ist sehr intelligent, und er beherrscht sehr wohl auch die klassische Küche.

Aber die erste Espuma hatte Alain Chapel gemacht mit seinem „Cappuccino von Waldpilzen“.
Natürlich! Alles ist ein ewiger Neuanfang, und gerade das ist auch das Tolle an der Küche. Escoffier hat schon 1902 im Vorwort zu seinem Guide Culinaire geschrieben: „Wenn sich alles verändert und verwandelt, wäre es absurd, die Bestimmungen einer Kunst einzementieren zu wollen, die in vielerlei Hinsicht von der Mode abhängig und wie diese instabil ist.“ Dem ist auch heute nichts hinzuzufügen.
Gibt es heute nicht zu viel Innovation um jeden Preis?
Heutzutage dominiert in der großen Küche die Optik, was dazu führt, dass der Schein mehr zählt als das Sein. Man darf nicht vergessen, dass die Hauptsache jeder Küche immer noch der Geschmack und das daraus entspringende Vergnügen sind. Aber natürlich habe ich im Lido auch die amüsante Erkenntnis gewonnen, dass ein Restaurant ein Theater ist und auch dieselben Regeln hat.
Restaurant business is show business …
Genau, man braucht auch hier ein Bühnenbild, eine Inszenierung …

Nach der Nouvelle Cuisine, die ja nicht verschwunden ist, kam die sogenannte „Molekularküche“ – Ferran Adrià hat den Begriff überhaupt nicht gemocht …
Alle Küchen sind „molekular“, eine Abfolge von physikalisch-chemischen Phänomenen.

Aber er hat industrielle Techniken in die Hochküche eingeführt.
Ja, darüber haben wir oft gesprochen, wir sind ja gut befreundet! Ich habe das alles schon lange davor bei Nestlé gelernt. Ich habe 25 Jahre für den Konzern gearbeitet, in der Schweiz und auf der ganzen Welt. Ich habe damals zum Beispiel ein Sauce mousseline entwickelt, indem ich Eigelb und Butter mit Kohlensäuregas anreicherte.
Wie kam es zu diesem Engagement?
Als ich die Grande Cuisine Minceur lancierte (dt.: Die Große Leichte Küche), kam der Präsident von Nestlé zu mir und sagte: „Monsieur Guérard, ich verstehe, wenn sie nicht mit einem Industriellen arbeiten wollen, aber was sie machen, interessiert mich. Also wenn Sie mit uns arbeiten wollen, wäre ich sehr glücklich!“ Ich habe das gemacht, weil mich die andere Seite interessiert hat. Ich habe in der Nestlé-Fabrik nicht nur Köche und Pâtissiers getroffen, sondern auch Ingenieure, Agronomen und Chemiker. Ich wäre dumm gewesen, diese Chance nicht anzunehmen. Ich habe viele Dinge dabei gelernt.

Und nun die „Nordic Gourmet Cuisine“.
Was sagen Sie dazu?
Ich habe leider nie im Noma gegessen, aber es gibt auch andere Beispiele. Das ist sicherlich ein aktueller Trend. Wir sind in der Welt der Mode.

Und wie sieht die Küche der Zukunft aus?
Es wäre sehr wünschenswert, den Begriff „Gesundheit“ in die Gourmetküche einzuführen, „Gesundheit“, die aber nicht eine „Bestrafung“ bedeutet. Auch in einer gesunden Küche geht es in erster Linie um den Geschmack. Die großen Köche von morgen müssen auch in Ernährungswissenschaft und Diätetik ausgebildet sein. Dabei kann man in der Hochküche durchaus weiter die Spitzenprodukte einsetzen, aber man wird sie schonender zubereiten.
Michel Guérard und der Wein?
Sie sind ja auch Winzer …
Ich liebe den Wein auch wegen seiner symbolischen Dimension. Jeder Koch sollte Brot backen und Wein machen können. Bevor ich 1983 meine Weingärten pflanzte, habe ich nicht nur sieben Monate zweimal wöchentlich Kurse im Institut d’Oenologie von Bordeaux besucht, sondern auch viel mit zwei Freunden, Professor Denis Dubourdieux und Jean-Claude Berrouet, dem Winemaker von Château Pétrus verkostet. Mich hat neben dem Produkt Wein vor allem auch der Austausch mit diesen Menschen fasziniert, vor allem bei der Degustation. Das war enorm bereichernd zwischen dem Koch und den Weinleuten. Sie hatten bei aller Kompetenz eine Demut kultiviert, die vielen Leute heute fehlt. Die Demut ist aber wichtig, wenn man gut verkosten will, bei Wein genauso wie bei Speisen.

Und das Brot?
Ich liebe gutes Brot. Wir haben jetzt einen Bäcker im Roussillon, der Gegend, aus der meine Frau stammt, gefunden. Der bäckt so unglaublich gute Sachen, dass wir uns von ihm beliefern lassen. Bei dem mache ich heuer im Sommer ein Praktikum.

So speist man im Les Prés d’Eugénie by Michel Guérard
Nach Eugénie-les-Bains kommt der mitteleuropäische Feinschmecker nur mit einem ausgesprochenen Vorsatz. Vom Flughafen Bordeaux braucht man mit dem Mietwagen etwa zwei Stunden in den kleinen Kurort. Michel Guérards riesiges Anwesen beinhaltet eine Kuranstalt, drei Restaurants und mehrere Hoteloptionen. Man fährt durch einen Park zu einer dem Hotelkomplex vorgelagerten Holzpagode, wo einen der vom Portier avisierte Voiturier erwartet. Besonders reizvoll und preislich günstiger als das Fünfsterne-Haupthaus ist das Maison Rose, ein ehemaliges Klosterinternat, umgebaut in ein schickes Landhaus.

Dem hungrigen Gast stehen drei Restaurantoptionen zur Verfügung. Für ein ländliches Mittagessen prädestiniert ist die gemütliche Ferme aux Grieves (dt.: Drosselhof) mit ihrem offenen Holzfeuer, vor dem sich Poularden und Spanferkel verführerisch am Spieß drehen. Im Haupthaus frönen die Kurgäste ohne Reue Guérards köstlicher Schlankheitsküche „La Cuisine Minceur Active“ mitten unter den Schlemmern, die das große Dreisterne-Menü mit entsprechender Weinbegleitung abarbeiten. Wer mehrere Tage Zeit und eine Kreditkarte mit tolerantem Limit hat, lässt sich eine ­Komplettbehandlung mit allen Lunch- und Dinnervarianten verschreiben.

In Wirklichkeit geht es jedoch um „La Grande Table Étoilée“ im Restaurant Les Prés d’Eugénie und der „Cuisine Naturaliste, intemporelle“ mit den klassischen Kreationen des Erfinders der Nouvelle Cuisine. Am besten kauft man sich vor der Reise das Kochbuch Best of Michel Guérard aus der Edition Alain Ducasse. Darin findet man fast alle Gerichte des großen Menüs „Palais Enchanté“ (€ 245,–) mit den Jahreszahlen ihrer Erfindung. Nichts an diesen Ikonen der französischen Hochküche wirkt ­altmodisch oder gar überholt, im Gegensatz zur Dekoration der Räume, die bei all ­ihrer peinlichsten Sauberkeit und erlesenem Komfort stilistisch irgendwo zwischen Großwildjagd-Lodge (die Bar), Asiatika und Landhausatmosphäre oszilliert.

Nach dem Aperitif in der „Lodge“ startet man fulminant mit dem „Oeuf de poule au caviar“, einer Kreation von 1977, bestehend aus einer mit Rührei und Räucheraalwürfeln gefüllten Eierschale, auf der ein guter Löffel besten Kaviars thront. Zwei grüne Spargelspitzen ragen keck daraus hervor. Die mit einem Herings-Kartoffel-Chaudfroid gefüllte Kartoffel als Begleitung wäre für sich alleine ein Gedicht. Leicht „wie eine Wolke“ schwebt die alternative Vorspeise daher: Eine zarte, weiße „Zephyr“-Creme mit schwarzen Trüffeln auf einer eleganten Vichyssoise, die Trüffeln im ­Januar und Februar frisch, ansonsten im Haus nach Geheimrezept eingekocht.

Die warme Vorspeise kommt ohne Wahlmöglichkeit, denn diesen Klassiker aus 1979 lässt sich hier niemand entgehen: „L’Oreiller Moëlleux“, ein großer Raviolo mit Champignon-Duxelles gefüllt, umgeben von einem ganz leicht rahmigen ­Ragout aus Morcheln, Mairitterlingen, Eierschwammerln und grünem Spargel. Allein dafür sollte man nach Eugénie pilgern. Aber jetzt geht es erst richtig los. Der halbe Hummer (1981) wird 15 Minuten auf glühenden Holzkohlen leicht geräuchert und dann in mundgerechten Stücken mit einer umwerfenden Passionsfrucht-Emulsion in der dezent rauchigen Schale angerichtet und mit einer leicht safranisierten Sternanis-Kräutersauce nappiert.

Beide zur Wahl stehenden Rôtis – ein köstlich gefülltes Perlhuhn mit einem Bries-Trüffel-Morchel-Ragout (es gehörte eigentlich zum kleinen Menü, aber ich wählte es trotz der Trüffel-Morchel-Inflation) wie auch das Rindsfilet „auf dem Holz und unter den Blättern“ – wurden jeweils in einer großen Kupferpfanne auf glühenden Holzkohlen am Tisch präsentiert und erst dann auf Tellern angerichtet. Purer Genuss und ein wenig willkommene Action, aber auch Ausdruck von Guérards Faible für offenes Feuer. Dazu kann man in der bestsortierten Weinkarte vor allem Crus Classés aus Bordeaux aus großen Jahrgängen wie 1990 zu Preisen finden, die es nicht einmal mehr im Internet gibt.

Wer jetzt glaubt, das war’s, hat vergessen, dass der Chef 1958 „Meilleur Ouvrier de France en Pâtisserie“ wurde. Man wähle den „Gateaux mollet du marquis de béchamel“ (1991) und ein „Soufflé Epoustouflant“ (1986) und entschwebe in den siebenten Desserthimmel.

Michel Guérard
Geboren in der Nähe von Giverny an der Seine, wo Claude Monet angeblich seine Großmutter, eine Pâtissière und Köchin, gemalt hat. Lehre bei einem Pâtisserie traîteur in der Île-de-France, dann 28 Monate Militärdienst (Algerienkrise) als Koch im Offizierskasino. Danach sofort Chefpâtissier im Hotel Crillon, Place de la Concorde in Paris. 1958 bester Pâtissier Frankreichs (Meilleur Ouvier de France). Chefpâtissier im Cabaret Lido, wo er mit seiner Equipe täglich 600 Desserts und große Schaustücke aus Zuckerguss für die Shows machte, während der Österreicher Rudi Kellner mit den Poissonniers täglich 600 Seezungen filetierte. Guérard entwickelte für Privatfeste des Lido-Inhabers die ersten „verrückten“ Gerichte der Nouvelle Cuisine. Guérards erstes eigenes Lokal Pot-au-Feu in einem Pariser Vorort wurde zu einer Pilgerstätte der Stars: Marlene Dietrich, Danny Kaye, Charles Trenet, Jacques Brel, Mireille Mathieu aber auch die Paare Mastroianni-Deneuve, Gainsbourg-Birkin oder Delon-Darc … Anfang der 70er-Jahre ging Guérard mit Bocuse, den Brüdern Troisgros, Roger Vergé und Gaston Lenôtre auf Welt­tour­nee. Dinner bei Mondavi mit Kellnern im Frack und auf Rollschuhen und Phil Collins am Klavier gehörten genauso zu den Highlights wie Events in New York mit Andy Warhol, Milos Forman oder Yves Montand. Es folgten China und Australien. Einige Jahre betreute Guérard die Küchen der Nachtclubs der legendären Régine, mit der er auch privat eng befreundet war. Und dann kam Christine, die Tochter des Thermalquellenbesitzers Adrien Barthélémy. Als Hochzeitsgeschenk präsentierte der Brautvater dem Paar das Modell eines Hotelpalastes, den er den Jungvermählten in Eugénie-les-Bains bauen ließ. Guérard erhielt 1974 den zweiten und 1977 den dritten Michelin­stern. Die beiden übernahmen schließlich auch Frankreichs größte Thermengruppe Châine des Thermes du Soleil mit 20 Quellen in zahlreichen Regionen und über 2.000 Mitarbeitern. Christine und Michel Guérards Töchter Adeline und Eléonore und Schwiegersohn Jauffray gehören zum Führungsteam der Gruppe.