Eingeschlossen im Windachtal

Spitzenköche aus Österreich, Südtirol, der Schweiz und Deutschland sowie Schweden fahren auf den Berg hinauf, um runterzukommen und das Hirn durchzulüften. Bei Michael Wilhelm im Windachtal, zur Klausur der alpinen Küche.

Text von Alexander Rabl · Fotos von Jürgen Schmücking

Mikrosaisonen, den Begriff kennt man vor allem im Zusammenhang mit der japanischen Esskultur, wo zum Beispiel Melonen oder etwa Kirschen nur in den wenigen Tagen angeboten werden, an denen ihre Reife und ihr Zustand wirklich am besten sind. Doch Mikrosaisonen gibt es auch in den Bergen, Wäldern und auf den Almwiesen der Alpen. Die Natur hat es da oben eilig, sie muss alles in der Zeit zwischen Mai und Oktober unterbringen, denn die Winter in den Alpen sind bekanntlich lang.

Thorsten Probost sagt: „Die Vegetation findet in dieser Höhe in mehreren Wellen statt. Gerade wachsen Sauerklee, Löwenzahn, Ehrenpreis, Giersch und Wilde Möhre. In vierzehn Tagen dann Wilder Kümmel, Guter Heinrich, Schafgarbe, Arnika und Kleiner Wiesenknopf.“ Im Herbst seien es dann Wurzen, Enzianwurzel, Blutwurz, Meisterwurz, nach denen gesucht werde. Eine faszinierende Welt an Geschmäckern und Aromen. Was hat Probost aus seiner Lieblingsgegend, Lech am Arlberg, nach Sölden mitgebracht? Probost ist einer der Gäste bei der Klausur der alpinen Küche, zu der Michael Wilhelm, der Landwirt und Produzent mit prominenter Kundschaft aus Golling, Wien, Seefeld und St. Anton, zwei Mal im Jahr einlädt.

Ort der Handlung: Wilhelms Almhütte im Windachtal, nahe am Gletscher, ohne Fließwasser, dafür mit der ortstypischen Toilette, die den Stoffwechsel auf 2.000 Metern Höhe zu einem naturnahen Schauspiel macht. Kein Strom, kein WLAN, kein Handyempfang. Anstatt der Aircondition rauscht der Wildbach, der donnernd ins Tal fährt. Neben Probost außerdem angereist sind der Südtiroler Hansjörg Ladurner und der weltgewandte, weil von Schützen bis Zwolle in den besten Lokalen am Herd gestandene, Thomas Klockner, der gerade in Seefeld sein eigenes Restaurant betreibt. Es ist die Premiere der Reihe an Klausuren, Zeitpunkt Juni, wenn auf den Almen Bergsommer ist, alles in sattem Gelb blüht, die Kühe ihren ersten Ausgang haben, der sie nach dem Almauftrieb in die Höhe führt. Die Einsamkeit der Berge und das fälschlicherweise mit Kargheit verwechselte reiche Angebot der Natur haben es Michael Wilhelm angetan. Seine Vision: eine moderne alpine Küche, abseits von Kaiserschmarren und Brettljause. Seine Alpinmanufaktur in Sölden ist ein Deli­katessenladen, der französische und italienische Landwirte vor Neid zusammenzucken lässt, was die Qualität und den ­Geschmack, nicht das Talent zur Selbstvermarktung betrifft.

Es werden ein paar Tage des engen Zusammenrückens in der Stube wie auch der weiten Spaziergänge und Wanderungen zum Gletscher und durch die Wälder sein, Tage der Forschung und des Austausches von Geschmack und Wissen. Während der Klausur geht es um die bald zusammengeschweißte Schar der Teilnehmer, unter die sich auch Fotografen, der Autor dieses Textes und etwa der Tiroler Schnapsexperte Ulrich Zeni mischen, und um das eine, respektive die eine: die Natur, was wir von ihr lernen können, und was wir damit machen, mit dem, was sie uns schenkt. Ein idealer Ort, um die Achtsamkeit zu fokussieren auf das, was es gibt. Achtsamkeit auf das Jetzt ist in den Bergen eine wichtige Voraussetzung fürs Überleben. Obwohl der Bauer seit Jahrhunderten weiß, dass er auch an die Zukunft denken muss.

Ein Achtsamkeitstraining holt die Teilnehmer der Klausur aus ihren Gedankenwelten in die Gegenwart. Die ausgebildete Achtsamkeits- und Yogatrainerin Vanessa Fett zeigt ihnen, wie man den Geist von den Gedankenfetzen befreit, die unser menschliches Gehirn jede Sekunde absondert. Nach einer Stunde Achtsamkeitstraining auf Yogamatten und Sitzpölstern sehen die Klausur-Teilnehmer klarer. Und hören differenzierter. Plötzlich nimmt man das Rauschen des Gebirgsbachs viel nuancierter wahr, auf einmal stört es nicht mehr, wenn während des Trainings eine Fliege auf der Nase herumtanzt. So geistig aufgeräumt widmen sie sich der Natur der Umgebung.

Frische Wiesenkräuter gibt es jetzt, eine Wanderung durch Wälder und Wiesen ist der große Auftritt für Thorsten Probost, der nicht nur am Arlberg als unanfechtbare Koryphäe für essbare Wildpflanzen in den Bergen gilt. Eine faszinierende Welt an Geschmäckern und Aromen. Mit Probost geht es in den Wald, über Stock und Stein, und das nicht auf ausge­tretenen Pfaden, die es hier oben ohnehin kaum gibt. Man trinkt und probiert Wasser aus verschiedenen Quellen und vergleicht. Das Wasser der Alpen – wer einmal davon getrunken hat, wird leicht süchtig. Und entschlägt sich des Leitungswassers und anderer Wässer. Bloß: Woher Bergwasser nehmen, wenn man gerade nicht auf der Alm an der Quelle trinken kann?

Die Fundstücke unserer Wanderung sollen dann am Abend in der kleinen Küche bei Kerzenlicht mit dem Fleisch vom Tuxer Rind gekreuzt werden, das Michael Wilhelm auf den Almwiesen zwischen 2.000 und 3.000 Höhenmetern züchtet. Yaks wie auch Schafe und Tuxer Rinder bekommen durch die viele Bewegung in der Höhenluft und der Mischung aus Almwiesenkräutern, die ihre Nahrung bildet, ein unvergleichliches Fleisch, nach dem sich Spitzenköche nachgerade die Finger lecken.

Diesmal brät der Schweizer Küchenchef Hansjörg Ladurner ein Stück von einem mit Wagyu gekreuzten Tuxer Rind möglichst blutig. Butterzart, aber mit aussagekräftigem Biss und Geschmack. Kein Fleisch für Warmduscher. Dazu gart Thorsten Probost den im Wald gefundenen ersten Bovist des Jahres im Ofen, es gibt Salat von am Vormittag gepflückten Wald- und Wiesenkräutern und Brot, das Ulrich Zeni am Morgen vom Bäcker in Sölden mitgebracht hat. Den Wein, den Köche und Gastgeber dazu trinken, hat man tagsüber im kalten Quellwasser gekühlt das ein paar Meter unter Wilhelms Almhütte aus dem Boden kommt.

Aus Mangel an Fernsehen und Internet versteigt man sich nach dem Abendessen aufs Miteinanderreden. Das Posing der Spitzenköche, es hat auf der Alm keinen Platz. Die Gespräche sind frei von Allüren, es geht ums Handwerk, um die Liebe zum Kochen. Den ­Tirolern auf beiden Seiten der Grenze haben sich die beiden Kriege, unter denen ihre Familien zu leiden hatten, tief ins Bewusstsein eingegraben. Die Stille auf der Alm und das Kerzenlicht, daneben auch Wein, Bier und Schnaps, nähren den Erzählfluss. Auch sonst gibt es so viel zu sagen, dass die Runde sich an den drei gemeinsam verbrachten Abenden meistens erst weit nach Mitternacht auflöst. Was nichts daran ändert, dass es das Frühstück am nächsten Tag bereits um sieben Uhr morgens gibt.

Auf der Alm steht man mit den Tieren auf, zumindest aber frühstückt man gemeinsam mit den Bauern und den Sennern. Wer einen Tag mit Michael Wilhelm verbracht hat, der schon viel früher als sieben Uhr bei der Fütterung der Schafe im Stall beginnt, versteht, worum es geht. Wilhelm sagt: „Ich bin wie ein Bildhauer. Ich möchte die Perfektion, die ich noch lange nicht habe, bei meiner Arbeit erreichen.“ Das klingt prätentiös, doch Wilhelm hat wirklich eine Ausbildung zum Bildhauer und mit einem von ihm gestal­teten Altar Auszeichnungen gewonnen. Er darf das sagen. In Wilhelm wohnt eine Künstlerseele, ohne Fließwasser, Strom und Handyempfang. Die Qualität dessen, was hier entsteht, ist nicht selbstverständlich.

Wie man mit tierischem Fett umgeht, die Unterschiede zwischen Schmalz, Nierenfett und anderem, wie man Fett zum Konservieren von Geschmäckern nutzt, alles das und vieles mehr steht auf den Speiseplänen der ­Klausur der alpinen Küche. Ulrich Zeni wird sich darin versuchen, auf 2.000 Metern Höhe aus dem im Wald geernteten ­Wacholder sowie bereits angesetztem Apfellikör einen Gin zu destillieren. Er hat eine Mini-Destillationsanlage im Gepäck. Doch das gelingt nicht leicht, weil der stromlose Herd sich trotz aller Bemühung nicht bereit zeigt, die nötige Hitze zum Destillieren zu liefern. Der Gin schmeckt dann nach dem Willen, der fürs Werk zählt.

Noch etwas: An einem der Vormittage macht der Autor ­einen Spaziergang Richtung Gletscher. Drei Ziegen, eine Mutter und ihre Kleinen, heften sich an seine Fersen. Ihre Augen voller Fragen: Was macht der Zugereiste hier? Will er uns die Wiesenkräuter wegfressen? Oder gar uns selbst? Den Spaziergänger plagen plötzlich unbehagliche Ängste, wegen des Ziegenbocks, der sicher in der Nähe seinen Vormittagsschlaf hält und durch das aufgeregte Schreien seiner Familie unrund werden könnte. Nach einer Viertelstunde verlieren Ziegenmutter und ihre Kinder ein wenig das Interesse. Sie lecken an einem großen, offenbar leicht salzigen Stein. Auch Herr Ziege zeigt sich nicht. Auf der Alm gibt es weder Aggression noch Verschwendung von gutem Essen.