In der Mitte von allem

Das ist eine Geschichte über die Beständigkeit. Ich darf Sie dafür mit Umberto Cappellari bekannt machen, einem Anwalt in Bergamo, und ich habe ihn nach dem letzten König Italiens und einem Weg am Rand von Wien benannt. An der Figur ranken sich hundert gute Jahre hoch.

In der Mitte von allem

Text von Werner Meisinger Fotos: beigestellt
Über den Kapellenweg müssen Sie nicht mehr wissen, als Sie hier erfahren. Er ist eigentlich so unbedeutend wie die Vielzahl anderer kleiner Straßen, die durch die lockeren Gartensiedlungen am Stadtrand führen. Gerade dieser Weg ist uns hier aber hilfreich, denn er geleitet uns geradewegs in einen stillen Sommer, wie wir ihn für diese Geschichte brauchen können.
In der Zeit, um die es uns hier geht, führte er noch zwischen Feldern und Gärten hindurch, hinunter zu einem trägen Wasser mit Seerosen und Sonnenbarschen. An jenen Tagen, die wir als Sommertage gelten lassen wollen, vibrierte schon am Vormittag die Luft vor Hitze über der geteerten Straße und dem goldenen Weizen und überzog die Pappeln und Weiden an den Uferkanten mit einem flimmernden Morée. Sie können sich vorstellen, wie herzhaft in den trockenen Wiesen die Grillen zirpten und schabten, so heftig und ausdauernd, als gäbe es schon in der nächsten Stunde keine Bräute mehr, nur hin und wieder plötzlich innehaltend in dieser kollektiven Hysterie an Lautentfaltung. In diesen Momenten kam die eigentliche Stille mit besonderer Wucht zur Wirkung. Rauschende, knisternde, zirpende Stille lag über diesem Auen-, Steppen- und Gartenland und kompakte Wärme, die von einem schwachen Luftstrom nur unmerklich verlagert und umgeschichtet wurde. Unter dem Kathedralendach aus glitzerndem Espenlaub war an solchen Tagen jede Hast so fern als wie der Mond.
Der Kapellenweg reicht heute nicht mehr bis zu den Auen. Mit den Jahren ist das Wasser zurückgegangen. Die wachsenden Uferstreifen hat man glatt gemacht und kahl gefräst in einer Art von Ordnungsliebe, die der Bauwirtschaft gefällt. Die knorrigsten Baumdenkmäler – ein gewisser Naturschutz gilt immerhin in diesem Land! – stehen noch in diesem ansonsten totgeschlagenen Gelände.
Wer heute von dem geruhsamen Leben am Wasser unter Pappeln noch etwas verspüren will, muss weiterwandern. Über das glatt gefräste Mühlwasser hinaus zum Schilloch, Kaiserwasser oder zum Fasangarten, wo man die Füße jedenfalls noch in den warmen Schwemmsand stecken kann. Als Einstimmung auf eine Reise an den Oglio wäre ein solcher Ausflug günstig, weil es dort genau so ist.
Wo sich der Oglio befindet, dürfen Sie gerne fragen. Es kann nicht jeder ein Geograf von Gnaden sein, und allen anderen ist in dem Landstrich, durch den der Oglio fließt, bestenfalls der Po als Fluss bekannt. Der Oglio also durchströmt gemächlich die Lombardei, was auch die Verwendung des Kapellenwegs im letzten Rest erhellt. Der nämlich, der uns in ein Zitterpappel-, Schwemmland- und Seerosen-Terroir wie am Oglio geleitet hat, mündet an seinem anderen Ende in die Langobardenstraße.
Die Lombardei, die von den Langobarden ihren Namen hat, ist reich und arm zugleich. In ihr befinden sich die blitzblauen Gebirgsseen und schwarzbraune Moore. Verschwenderisch angelegte Festschlösser und stumme Bauerndörfer, Städte mit prachtvollen Plätzen – Brescia, Mantua, Cremona … – und armselige Weiler. Man lebt recht gut in der Lombardei, aber man kennt auch die Mühseligkeit der Ebene. Gemüse und Getreide wird hier angebaut bis zum Horizont und weiter. Kein gutes Geschäft für Lombarden, die mit gebeugten Rücken ein Feld bestellen, das einem anderen gehört.
Als der letzte König Italiens geboren wurde, wir wissen: 1904, war schon alles in Veränderung am Oglio. Ufer am Unterlauf waren begradigt worden, sodass das Wasser schneller floss. Es wurde weniger Torf gestochen, dafür mehr Ackerbau betrieben. Das alles brachte das Wasser durcheinander. Aus Nebenarmen wurden Altwasser, aus Altwasser feuchte Wiesen. Das kümmerte nur wenige, betraf aber die Fischer, die in der Gewässerwildnis des Oglio Karpfen, Barsche und viele Aale fingen. Noch konnten die Fischer davon leben.
Als der Fischer Antonio (der erste) Santini das bescheidene Haus in Runate sul Oglio erwarb, lag es nicht mehr am Fluss, sondern bereits an einem kleinen See. Hier nahm eine der stimmigsten unter den kulinarischen Familiengeschichten ihren Ausgang.
Dem Advokaten Umberto Cappellari weisen wir die schöne Rolle des gelehrigen Beobachters und Kronzeugen einer lichtvollen Entwicklung zu. Er kann die Geschichte begleiten von jenen frühen Zeiten, als Teresa Santini, Frau des besagten Antonio, mit ihren einfachen Fischzubereitungen und ein paar wenigen anderen Gerichten für eine lokale Bekanntheit der bescheidenen Trattoria sorgte. Cappellari lassen wir beim Erblühen des Hauses unter der Pflege dreier weiterer Generationen dabei sein bis zu dem strahlenden Nachmittag in diesem Mai, an dem er sich freudvoll – aber an diesem Ort in keiner Hinsicht überrascht – an genau dem Wallerrisotto delektierte, auf das die Welt seit der Erfindung von Reis und Waller sehnsüchtig gewartet hat; mehr als 100 Millionen Jahre immerhin, wenn man den entwicklungsgeschichtlich jüngeren Wels als Grundlage der Berechnung nimmt.
Der Advokat in Rente, nun schon über die Neunzig, erlebte diesen Nachmittag mit dem Sommerlicht im Hof, dem glitzernden Pappellaub und dem Grillenzirpen bei bestem Appetit. Er nahm den Risotto trotz des Wissens um die unerhörte Güte mit größter Selbstverständlichkeit wie auch die Schnecken in ihrem leichten Frühlingskräuterfond. In der Gewissheit, dass man nichts versäumt, wenn man nicht allem nachläuft. Sein Gesprächspartner an diesem Frühsommertag mit dem Licht und der gewissen Sommerstille musste das noch lernen.
Nehmen wie an, unser Anwalt aus Bergamo wäre im Geschäft mit den interessanteren Immobilien an den Alpenseen zu Wohlstand gekommen in Folge des Wirtschaftswunders nebst Tourismus. Respektable Villen mit Parks und Buchten wechselten die Besitzer zu sehr erheblichen Beträgen. Cappellari verrichtete am Vertragswort einen brillanten Dienst, wofür er honorarmäßig vergoldet wurde; die Bankiers von Bergamo und Luzern (dort hatte er auch veranlagt, wegen der Diskretion und im Hinblick auf die doch ganz andere Zuverlässigkeit der Währung) begegneten dem Advokaten bald mit ausgesuchter Höflichkeit. Von wegen seines Anspruchs auf Luxus und die stete Stimulierung seines kühlen Intellekts war Cappellari mit der Entwicklung sehr zufrieden, allein, die auf den höheren Temperaturen laufenden Abteilungen seines Empfindungsapparats erfuhren weder durch die beneidenswerten Kontostände noch durch die Präzision der Rechtsbehandlung irgendwelche Reize. Sie drohten zu verkümmern, man könnte sagen: Es fehlte Cappellari das Schöne in seinem Leben. Er suchte nach einem Ausgleich zu dem Tagwerk, das von eiserner Logik und haarscharfer Konstruktionsarbeit bestimmt war. Er versuchte es mit unlogischen Frauen und scheiterte daran. Er fand die gemisste seelische Erbauung in einer hingebungsvollen Beschäftigung mit der ungefähren Welt des Wohlgeschmacks.
Die Taverne der Santinis entdeckte Cappellari noch zur Zeit der schönen Frauen, mit denen er sich gelegentlich auf Schmetterlingswiesen und an Flussufer gezogen fühlte. Santinis Gasthaus – eher eine Hütte, aus wenigen Steinen und viel grobem Holz flüchtig an den See gestellt – versprach ihm rurale Deftigkeit als reizvollen Kontrast zu dem filigranen Seidenfähnchen an seiner Seite. "Vino e Pesce" nannte Antonio Santini das Lokal. Wäre unser junger Rechtsgelehrter nur ein wenig weiter gewesen in seinem Studium der kulinarischen Wissenschaften, er hätte in dieser Bezeichnung schon das Gespür der Santinis für die kulinarischen Notwendigkeiten an diesem Ort voll Grillenzirpen und Froschgesang erkennen können: zur Verdichtung der romantischen Gefühle jedenfalls mal Wein, dann mochte man weiter sehen zu den Fischen.

Umberto C. genoss den Wein in vollen Zügen, erwachte vom Schlagen der Elstern am nächsten Morgen, am warmen Schwemmsand hingebreitet, nunmehr ohne die filigrane Seidenwolke sowie ohne Topolino und betrachtete den Fall mit Gelassenheit. An Teresas Nerflingen, die er für gebratene Sardinen hielt, und viel Kaffee kam C. zu neuen Kräften und schwor fortan darauf, dass allein die Harmonie von Kaffee mit gebratenen Sardinen Gottes Existenz beweist; Jahrzehnte später sollte diese leichtgewichtige Idee unseres Gestrandeten von einem José Saramago eingefangen und zur Verlängerung eines Alentejo-Textes verwendet werden, womit er den Zitatenschatz der Welt – weil er Nobelpreisträger wurde – um ein weiteres wurmstichiges Juwel ergänzen konnte.
Über diese Entdeckung – Santinis Lokal, nicht den Bratfisch-mit-Kaffee-Beweis – war Umberto C. sehr zufrieden. Runate wurde ihm ein angenehmes Reiseziel. Er blieb aber für geraume Zeit der sehr wahrscheinlich Einzige, der über längere Strecken zu den Santinis reiste, denn die Kunde von der Güte der Weine und dem Geschick der Köchin für die traditionelle Küche der flachen Lombardei erreichte der Natur gemäß nur allmählich ein Publikum außerhalb der engsten Region. Die Straße durch Runate verbindet ja nichts Nennenswertes. Runate hat keine Kathedrale und keine archäologischen Etruskerreste. Runate hat keine heilkräftigen Quellen, und niemandem ist in Runate eine Erscheinung, Erleuchtung oder Erweckung von den Toten zuteil geworden, weshalb die Literatur Runate unbehandelt lässt; auch die Kartographen schenken sich gern den Eintrag, wie sie es gerne tun, wenn ein Ort in seiner vollsten Blüte nicht mehr als 36 Bewohner vorzuweisen hat.
Heute ist das Auffinden von Runate ein wenig leichter. Wer von der Autobahn zwischen Brescia und Verona die richtige Landstraße trifft oder auf der Schnellstraße zwischen Mantua und Cremona beim richtigen Kreisverkehr nordwärts fährt, gelangt nach Caneto, dem nächstgrößeren Ort zu Runate. Dort ist der weitere Weg zur Weltattraktion der Gegend, nämlich Santinis Restaurant "dal Pescatore", gut ausgeschildert.
dal Pescatore heißt es seit 1960, da hatte es mit der Fischerei schon gar nichts mehr zu tun. Der Oglio hatte sich vom Nutzfluss zur Naturschutzattraktion mit selten gewordenen Feuchtgebieten gewandelt, worin statt der kapitalen Welse lediglich sehenswerte Frösche und Libellen hausen. Der gewerbliche Fischfang war da kein Thema mehr, der See, an dem das erste Häuschen der Santinis stand, war zum Teich geschrumpft, der Oglio floss schon ein wenig in der Ferne.
Die Geschichte von Santinis Restaurant gewann Anfang der 50er-Jahre bedeutend an Gewicht. Giovanni, der Sohn Antonios, ehelichte Bruna, und man beließ es bei der bewährten Regel, dass die Frau am Herd steht, der Mann aber bei den Gästen. Während Teresa gewiss als geschickte und kluge Köchin zu bezeichnen ist, war und ist Bruna eine große Köchin, denn ihr kulinarisches Gedankengut hat über mehr als ein halbes Jahrhundert unverändert seine Gültigkeit behalten. 1952, man weiß das in der Familie genau, befand Bruna Santini, dass das Rezept für Tortelli mit Kürbisfülle so, wie es war, in Ordnung war, worauf man daran bis heute nichts geändert hat. Tortelli di Zucca, diese Leichtgewichtigkeit im Vergleich zu Steinbutt, Hummer und Gänseleber-Kompositionen, sollte zum Leitgericht des Restaurants dal Pescatore werden. Tortelli di Zucca sind die kulinarische Hauptattraktion geblieben, bis in die heutigen Zeiten der vier Hauben von Gault Millau und nach einem Jahrzehnt an drei Sternen bei Michelin. Solche wie unser Anwalt aus Bergamo waren dafür entscheidend.
Umberto C. reiste viel in beruflicher Hinsicht und wählte mit einer sich angenehm erweiternden Freiheit in der Wahl der Klienten vor allem solche Fälle, die ihn in die Metropolen der Kochkunst führten. Mit Nummer 252.585 wurde er im Blutentenverzeichnis des Tour d’Argent noch weit vor Charlie Chaplin eingetragen. Fernand Point hat ihm eine fast noch schlanke Hand gereicht. Und Paul Bocuse nahm fast schüchtern seinen Kommentar entgegen (das mit den Kommentaren war später nicht mehr sehr gewünscht und auch die Schüchternheit bekam der Mann bald in den Griff).
Als das mediale Geschrei losbrach über das neue Essen und wie es nicht dem Menschen völlig unentbehrlich sei, die sensationellen Kreationen der inspiriertesten Küchengenies zu verkosten, gliederte sich Umberto in die Karawane der Gourmetreisenden ein und – man wusste es ja noch nicht besser – erledigte sämtliche so genannte Spitzenrestaurants mit Gründlichkeit. An der Gleichförmigkeit der in Schweinsnetze eingepackten Filets mit Farcen und Gänselebern und an den ewig bunten Intarsienarbeiten, die man Terrinen nannte, dem heiligmäßigen Getue der Weinkellner, die zum Hohn des Gastes noch die schlanksten Weine in dicke Karaffen legten, emanzipierte sich unser kluger Anwalt rasch. Er mied fortan all die Goldschmiede, Uhrmacher und Kunstmaler, die ein bitteres Schicksal an den Herd und ein grausamer Irrtum in die Gourmetberichterstattung verschlagen hatte. Er suchte die vom Terroir geprägten Küchen, suchte Bescheidenheit und Beständigkeit und erfreute sich an kulinarischen Konstanten. Etwa dem Froschschenkelragout des Alain Chapel und seiner Erben, das über die Jahrzehnte von jedem Geniestreich unbehelligt blieb – viril von der Kraft des Fonds, emotional durch die kleine Gabe Estragon, erotisch von der barocken Konsistenz der Schenkel, was man sich halt so zusammendenkt an einem Tisch mit sich allein.
Bei Santini wurde Umberto C. heimisch und blieb es auch in der dritten Generation, mit der Antonio (der zweite) und Nadia kamen, Bruna aber blieb. Die Umstände hatten sich mittlerweile derart gewandelt, dass mit der Freude an der Mobilität, die Botschaft vom Fischerrestaurant zu Runate hinausgetragen wurde und gästeseitig veritabel Geld ins Spiel kam. Von Mailand ist es keine große Reise an den Oglio, auch von Genua oder Florenz hat man seinen Lamborghini in absehbarer Zeit übers flache Land geschossen. In Umbauten und Ausbauten nahm das Haus – unmerklich für die jeweilige Zeit, doch wirkungsvoll über die Jahrzehnte – andere und neue Gestalten an, außen bestens in grüne Unauffälligkeit gehüllt durch einen dicken Mantel aus wildem Wein, innen aber glanzvoll erhellt von der Hingabe seiner Betreiber und den vorzüglichen Manieren ihres Personals.
Dementsprechend wuchs auch ein Weinkeller mit den größten Gewächsen aus dem Piemont und der Toskana und den weiteren wesentlichen Weinkontinenten der Welt hinzu, den Franciacorta, diesen schönsten Wein der Lombardei, vergaß Antonio Santini darüber freilich nie.
In der Küche pflegten die beiden Damen in aller Beharrlichkeit ihre und keine andere Küche. Die Kraftlinien der Region bewahrten sie bedingungslos, die kulinarische Alphabetisierung auf einem flachen Land, das keine Gourmetgeschichte hatte, war ihnen keine Last. Vom zwanghaften Drang zu immer Neuem und den Begehrlichkeiten nach immer noch mehr Medienpräsenz blieben sie vollkommen unbetroffen. Also werden Tortelli di Zucca oder Agnoli in Brodo heute noch so gemacht wie zu den Zeiten, als bei dal Pescatore – oder genauer: bei Vino e Pesce – erstmals und sensationellerweise Tischtücher auf die Tische kamen.
Bei den Tortelli mit Pecorino, Ricotta u
Und Parmesan konnten sich Santinis in einer Art Spontanentschluss (es dauerte keine drei Jahre von der Idee bis zum Vollzug) zur Modifikation entschließen: Man ersetzt nun einen kleinen Teil des Pecorino durch Frischkäse von Kuhmilch, was die Fülle milder und leichter macht, dem Zeitgeschmack entsprechend; das jedoch nur im Frühling und im Sommer, im Winterhalbjahr verfertigt man wie seit 40 Jahren die würzigere Variante.
Im Streben nach der harmonischen Vollkommenheit im scheinbar Alltäglichen fanden Santinis zu ihrer ureigenen Tortelli di Zucca-Version, so tiefgründig im Geschmack durch eine vom Mandelbitterton gestützte Süße und so unerhört geeignet für den gemeinsamen Genuss mit erwachsenem Wein, wie es der Chardonnay von Angelo Gaja häufig ist oder – um herkunftsmäßig vor dem Haus zu bleiben – eine steinalte Franciacorta-Cuvée von Ca‘ del Bosco. Unverkennbar unterscheiden sich Santinis Kürbis-Tortelli von allen anderen. Im dal Pescatore kommen Amaretti in die Fülle und das kleine Geheimnis des Mostardo di frutta (gewonnen aus den Schalen weißer Melonen, mit Senfessenz verfertigt und übrigens auch zu würzigem Käse passend wie kaum eine andere Substanz auf dieser Welt). Ein höchst eigenständiges Gericht und lokalpatriotisch sind Santinis Tortelli di Zucca, denn Amaretti und Mostardo tut man schon in der Region um Crema keinesfalls hinein (dafür Biskuit mit Schokolade), auch nicht in Aquanegra, wo sie gar Minze nehmen.
Es ist aber nicht nur die Pasta, die der Santini-Küche unverwechselbare Konturen gibt. Von archetypischem Kaliber sind auch die Risotti, fest im Biss und mollig in der Konsistenz, wahre Klangkörper voll komplexer Harmonien, in denen keinem der Kräuter und Gewürze eine größere Rolle zukommt als die der bescheidenen Assistenz des Gesamtgeschmacks, der – wenn wir den Wallerrisotto noch einmal erwähnen wollen – nicht der des Wallers, sondern eben der dieses großen Risottos ist. Beim Safranrisotto mit Artischocken verhält es sich nicht anders.
Von ebensolcher Stringenz wie die Primi Piatti sind die Fisch- und Fleischgerichte. Die Mode der Saucenmalereien und Turmkonstruktionen, der beigestellten Tellerchen und angegossenen Säfte, der Verwirrspiel-Kopfgeburt-Kreationen, die anders aussehen als sie schmecken – das alles ist an Familie Santini vorbeigegangen wie ein verschlafener Regentag. Höchstens, dass man sich da und dort ein paar dekorierende Saucentupfer gönnt, ansonsten kommen Fisch oder Fleisch, Gemüse, Sauce und sonst nichts recht umstandslos nebeneinander auf die Teller, weil es der Tradition entspricht und weil keine andere Art diese Gerichte besser machen würde.
Es bleibt dennoch genug zu tun in dieser Küche, in der um sechs am Morgen das Licht angeht. Weil zwei Mal täglich das Brot gebacken und zwei Mal täglich die Pasta vorbereitet wird. Zwei Mal täglich jedes kleine Beiwerk bis zu den kandierten Orangenschalen frisch verfertigt wird. Weil zwei Mal täglich einfach frisch gekocht wird, weil auch das der Tradition entspricht und weil durch eine andere Art die Küche bei dal Pescatore in Runate nicht von gleicher Güte wäre.
Der alte Umberto wusste diese Ausrichtung zu schätzen und fühlte sich wie seit Jahrzehnten wohl versorgt und ernst genommen in diesem Haus. Er wusste auch seinen Gast aus Neufundland an diesem Nachmittag in besten Händen. Man nahm nach den Parmesanchips einen einfachen Teller mit Prosciutto und verschiedenen Salamisorten aus der Region, gefolgt von einem Sommerrisotto mit süßen Erbsen, schmackhaftem Spargel und den ersten Steinpilzen der Saison. Man naschte so simple Gerichte wie Tagliatelle mit Tomaten und Basilikum und Tagliolini mit getrocknetem Thunfischkaviar. Es wurde gebratener Aal mit kleinem Salat eingestellt und ein durchaus fettes Stückchen vom Cinta Senesa-Ferkel. Umbertos Gast verzehrte es mit gewissem Wohlgefallen, wenn auch wachsender Verwunderung. Vom Goldpalast des Alain Ducasse kommend und zu Ferrans Aromalabor nach Girona reisend verwunderte es ihn doch sehr, welch großes Maß an – sein erster Gedanke war despektierlich, im zweiten Anlauf fand er zu "Bescheidenheit" unter den drei Sternen von Michelin doch möglich ist.
Als höflicher Gast behielt er die Verwunderung für sich und bemerkte nur zum Abschied, dass das ein wirklich nettes Haus sei und von freundlichen Menschen gut geführt. Ein toller Erfolg, wo es doch "in the middle of nowhere" läge. Umberto war mit dem Abgang des Senesa-Ferkels gedanklich noch beschäftigt.
"Oh ja!", meinte er dann knapp. Aber er dachte in einer Mischung aus Bedauern und Verärgerung: É al centro di tutto.
Restaurant "dal Pescatore",
Runate/Canneto sull’Oglio (bei Mantua),
Tel.: +39/0376/72 30 01
www.dalpescatore.com