Wo Milch und Bohnen fließen

Milchschokolade ist Massenprodukt und Suchtmittel für Millionen einerseits, eine unschlagbare Rezeptur und die vielleicht beste Art, "Schmelz" zu definieren, andererseits.

Wo Milch und Bohnen fließen

Text von Florian Holzer Fotos: Luzia Ellert
Milchschokolade ist sozusagen nichts Besonderes. Jeder wuchs mit ihr auf, jeder definierte seine Vorstellung von Schokolade an den braunen Tafeln, den hohlen Osterhasen oder dem in Staniol gewickelten Christbaumbehang.
Schokolade war Milchschokolade, das stand fest, und über den genauen Inhalt, Kakao-Anteile oder die Frage des Lecithins zerbrach man sich nicht den Kopf. Da schon eher darüber, ob lieber mit Haselnüssen im Ganzen oder in Splittern oder etwa gar mit Fülle. Bensdorp war im Osten stark, Suchard im Westen, Milka schließlich überall, seit den 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts fanden die großen Milchschokolademarken Österreichs und der Schweiz dank der diversen Fusionen, Mergers und Übernahmen in Konzernen wie Interfood, General Foods Corporation und später Kraft Jacobs Suchard zusammen, der zum Firmen-Imperium von Philip Morris gehört und zu den allergrößten Lebensmittel-Erzeugern der Welt zählt.
80 Millionen Tafeln Milka wurden etwa im Jahre 2003 alleine in Österreich verzehrt, der Umsatz der Milka-Gruppe (Côte d’Or, Toblerone, Bensdorp) betrug im Jahr 2002 weltweit 30 Milliarden Dollar – es dürfte also klar sein, dass es sich bei Milchschokolade tatsächlich eher um größere Markteinheiten handelt. "Die Österreicher mögen’s gerne süß", bestätigt auch Anja Obrowsky aus der Presse-Abteilung des Konzerns, was so viel bedeutet, dass der Schokolade-Markt in Österreich etwa zu 80% von Milchschokolade beherrscht wird. Weiße und dunkle Schokolade machen jeweils zehn Prozent aus, wobei man gerade bei der dunklen, beziehungsweise "edelbitteren" Schokolade in den letzten Jahren enormes Wachstumspotenzial entdeckte, "es bleibt aber trotzdem ein Nischenprodukt" beruhigt Frau Obrowsky keimende Hoffnungen auf eine freundliche Geschmacksübernahme durch hochprozentige Edel-Schokoladen.
Nein, wahrscheinlich nicht. Wobei gerade diese in den letzten Jahren aufgetauchten hochwertigen Bitterschokoladen mit dem hohen Kakao-Anteil und dieser – bei Schokolade so neuartigen und ungewöhnlichen – Anmutung des Edlen und der Qualität auch den dominanten Milchschokolade-Markt nicht ganz unbeeindruckt ließen. Soll heißen, dass die Großen so manchen Edel-Winzling schluckten und ihn als Prestige-Marke integrierten, wie das etwa beim kalifornischen Kult-Chocolatier Scharffenberger der Fall war (vorigen Juni von Hershey – 13.000 Angestellte, vier Milliarden Dollar Gewinn jährlich – inhaliert); oder aber, dass die Riesen ein bisschen Marketing betrieben und neue Linien kreierten, die diesem offensichtlichen Bedürfnis nach schokoladiger Qualität nachzukommen vermochten – ohne sich freilich auf zu experimentelles Terrain zu wagen: Bei der "Noir & Lait" von Suchard etwa handelt es sich sowohl hinsichtlich Aufmachung als auch geschmacklicher Ausrichtung um eine hochwertige Milchschokolade mit hohem Kakao-Anteil.
Beziehungsweise fand die Annäherung auch von der anderen Seite statt. Nämlich dass so ziemlich jede der im Gourmet-Kreisen nur mit höchstem Respekt ausgesprochenen Edel-Marken damit begann, neben Kakao-Konzentrations-Rekordversuchen, Marathon-Conchieren und dem Schokoladisieren noch kleinerer, noch weiter entlegener und noch speziellerer Kakaobohnen-Crus in venezolanischen Regenwäldern, auch Milchschokolade herzustellen. Ja genau, die Milchschokolade, die bisher immer als die Tafel des Süßwaren-Plebs, als die schokoladige Gourmet-Antithese galt. Amedei, Domori, Bonnat, Weiss, Cluizel, Rovira, Slitti, Pralus und natürlich auch Valrhona – Säulenheiliger und Pionier auf dem Edel-Sektor – mischen ihre edlen Bohnen mit Milchpulver.
Vielleicht, weil ja zusammen soll, was zusammen gehört. Laut Werner Meisinger hätten die edlen Schoko-Manufakturen immer schon Milchschokoladen hergestellt, es könnte aber sein, dass sie nicht augenfällig wurden, so der Autor und Co-Betreiber des einschlägig bekannten Schoko-Spezialfachgeschäfts "Xocolat", "die Spezialschokoladen haben vielleicht ein wenig den Blick verstellt". Das Grundproblem beim Thema Milchschokolade und Feinschmeckertum sieht Meisinger im schlechten Image des Produktes, "aber nur, weil es über Jahrzehnte und von vielen schlecht gemacht wurde, nicht weil das Produkt von sich aus schlecht ist", im Gegenteil, Milch und Schokolade halte er persönlich sogar für eine fundamentale Kombination.
Auf jeden Fall einigermaßen neu sei laut Meisinger aber die Kategorie der hochprozentigen Milchschokoladen, mit denen sich vor einigen Jahren das italienische Unternehmen Slitti unter der Bezeichnung "Lattenero" in Fachkreisen einen Namen machte. Slitti seien die ersten gewesen, die diesbezüglich Flagge gezeigt hätten, durchaus mit Erfolg auch für das leidende Image der Milchschokolade, wie Meisinger berichtet, bei Blindverkostungen seines "Choco-Lovers Club" hätte er die 65%ige Lattenero unter 70%ige Hardcore-Schokoladen gemischt und sie sei immerhin im guten Mittelfeld gelandet.
Wie die Klassifizierung in solche, die hochprozentige Plantagen-Schokoladen bevorzugen, und solche, die ihre Endorphine lieber aus der Tafel Milchschokolade ziehen, ohnehin obsolet seien, so Meisinger. Viel mehr ginge es darum, geschmackliche Nuancen und sinnvolle Kombinationen auszuloten, "welche Schokolade ist für jemanden richtig, der gerne gereiften Rum trinkt, und welche Schokolade werden wir jemandem empfehlen, der mehr den Hollerbrand von Rochelt schätzt". Aber eins sei auf jeden Fall klar, nämlich dass, wenn man mehr zum Runden und Barocken tendiere, die Hochprozentige vielleicht nicht die ideale Wahl ist.
Ein sehr interessantes Milchschokoladen-Projekt kommt übrigens auch aus Österreich, und zwar die so genannte "Tiroler Edle", eine Kooperation von Agrar-Promoterin Therese Fiegl und dem Landecker Konditormeister Hansjörg Haag: War die ursprüngliche Idee, primär die Milch der uralten Rinderrasse Tiroler Grauvieh zu aromatischer Fülle zu verarbeiten und in gute Couvertüre zu gießen, so ging man in der Kombination nun einen Schritt weiter. Und lässt die Milch – 6000 Liter waren es bisher, erzählt Hansjörg Haag – von der Tirolmilch-Molkerei und einem Unternehmen in Hartberg blitzartig zu Milchpulver verarbeiten, das dann zu Domori nach None in der Provinz Turin gebracht und dort zu extravaganter Milchschokolade in drei Kakao-Stärkegraden conchiert wird. Im Prinzip sei die Grauvieh-Milch ganz normale Milch, erzählt der Konditor, bei Domori hätte man aber genauer nachgeschaut und festgestellt, dass der Kalzium-Gehalt höher sei und das Ergebnis insgesamt ein feineres sei. Dass dieses Milchschokolade-Projekt namens "Purissima" noch wachsen werde, da ist sich Hansjörg Haas jedenfalls ganz sicher, die Reaktionen seien bisher auch fast ausnahmslos positiv gewesen, nur ganz selten kämen Reklamationen wegen eines "anderen Geschmacks" – was ja aber in gewisser Weise auch wieder eine Auszeichnung wäre.
In der Schweiz, so Meisinger, sei man davon überzeugt, Qualität und Herkunft der Milch in den Schokoladen erkennen zu können, er hält das jedoch für Legende, "es ist schon so schwer, die Bohne zu erkennen, die Milch ist definitiv nicht essenziell". Außer vielleicht bei der Chocolina, einem avantgardistischen Schoko-Projekt, das die Schafbäurin Gerlinde Hofer vor drei Jahren mit dem Tamsweger Konditormeister und Bäcker Johann Georg Hochleitner initiierte: Milchschokolade aus Schafmilch. Hergestellt wird dieses außergewöhnliche Produkt – das Schaf schmeckt man übrigens durchaus – bei Manner in Wien, der derzeit einzigen Schokolade-Fabrik Österreichs (andere sind schon in Planung beziehungsweise im Endstadium). Vielleicht der Beginn einer neuen Kategorie namens "Weird Milk-Chocolates", die dann aus Ziegen-, Stuten-, Büffel-, Känguruh- und Kamel-Milch hergestellt werden könnten – als Selektion in hübsch gestaltete Kartons verpackt, die dann vielleicht "Arche Noah" heißt.