Heute geschlossen

Text von Eva Rossmann · Illustration von André Sanchez

Gaststätten ohne Gäste – friedliche Auszeit oder Szenarien à la Shining.

Leider nein, ich könnte Euch höchstens ein Erlebnis wie in Shining anbieten.“ Der Hoteldirektor, nach vielen Aufenthalten und Lesungen ein lieber Bekannter, war schon vor Ort. Das Parkhotel freilich hatte noch geschlossen. Ich kenne es lebendig und mit wundervollem Retro-Charme. Wie muss es sein, wenn niemand in der großen Halle unterwegs ist? Wenn alle Zimmer leer stehen und die Hotelküche verlassen ist, viele polierte Edelstahlflächen, in denen sich in der Nacht das Mondlicht spiegelt?

Stephen King hat so ein Hotel zum Hauptdarsteller seines Romans gemacht. Und sich darüber geärgert, dass dem Regisseur Stanley Kubrick bei der Verfilmung Jack Nicholson wichtiger war als das Haus an sich: Er konnte „einfach nicht das schiere, unmenschliche Böse des Overlook-Hotels fassen“, schrieb er zutiefst enttäuscht. Keine Ahnung, ob mein lieber (nicht Koch- sondern Autoren-)Kollege Bernhard Aichner auch einmal in so einem Haus war. Jedenfalls spielt sein Thriller Totenhaus zum Großteil in einem stillgelegten, ehemals sehr eleganten Hotel im Schwarzwald. Schaurig kommt die Vergangenheit zurück, Morde, längst begangen und neue, an Kaninchen, die lebend an die Wand geknallt werden, um den Moment des Todes zur Kunst zu erheben. Hotels, Restaurants, selbst unser so überschaubares Gasthaus Zur Alten Schule: Ohne ihre Funktion als Gast-Stätte werden sie anders. Fremd. „Wenn die Wintersaison vorüber ist, wenn nur mehr wir beide im Enzian sind, dann dreh ich in der Früh überall das Radio auf“, hat mir Irene erzählt. Das Enzian ist seit neunzig Jahren in Familienbesitz. Sie kennt jeden Winkel. Und trotzdem: Seltsam sei es, wenn man plötzlich nichts höre als die eigenen Schritte. Nach einer gewissen Zeit lege sich das natürlich. Ganz abgesehen davon, dass nach der Saison ohnehin gleich wieder vor der Saison sei.

Während andere Hotels nun im Sommer ihre Spitzenzeit haben, wird dort renoviert, werden neue Prospekte und Werbelinien besprochen. Auch die Personalsuche sollte man so früh wie möglich angehen in Zeiten, in denen brauchbare Köche und professionelle Servicekräfte Mangelware sind. Fad wird ihnen nicht, wenn auf den Bergen tatsächlich Enzian wächst, wenn die schwarzen, blauen und roten Abfahrten grün sind und die paar Kühe, die es noch in Zürs gibt, draußen grasen. Davor sind die ­Abschiede. Die von den letzten Gästen, die von den Mitarbeitern. Man wünscht ihnen Sommerjobs, die Freude machen und motivieren. Man hofft, dass sie wiederkommen. Allein die Saison durchgehalten zu haben, ist schon ein Grund, sie wieder zu wollen. Nicht alle bringen das, trotz fairer Rahmenbedingungen. Da gibt es welche, die hauen ab, egal, ob gerade Ostern oder Weihnachten oder Hochsommer ist. Oder gerade weil es zu diesen Zeiten so viel, für sie zu viel zu tun gibt. Solidarität? Die wird leider öfter eingefordert als selbst gelebt. Ist allerdings nicht nur in der Gastronomie so.

Wenn die Alte Schule ein paar Wochen Ferien macht, hat man sich nur von ganz wenigen Menschen zu verabschieden. Dafür ist es um ein Eck sentimentaler. Auch wenn wir einander in der Hitze des gastronomischen Gefechts auf die Nerven gehen können, am Ende hoffe ich, dass Maria und Karel wiederkommen, dass unser neuer Lehrling Daniel die erste Etappe der Berufsschule gut übersteht und sich nicht entmutigen lässt, dass Yolanda die Zeit bei ihren Verwandten in Ecuador genießt und trotzdem nicht dort bleibt, dass Hussam den Bürokratie-Slalom zwischen AMS, Mindestsicherung und verpflichtendem Deutschkurs schafft und wir ihn anstellen können.

Und dann ist niemand mehr da. In der Küche surren nicht einmal die Kühlmaschinen. Ich atme leiser. Und höre, wie der Parkettboden knarrt. Frau Zehetner. Die Lehrerin, als das da wirklich noch eine Schule war. Sie hat sich umgebracht. Aufgehängt. Ich neige nicht zu ­parapsychologischen Begegnungen.

Wahrscheinlich, weil es so niemandem zu begegnen gibt. Ich habe natürlich gelacht, als eine Wünschelrutengeherin und Geisterseherin da war. Für eine Story der Kronenzeitung. Ich weiß, dass alte Böden bei Temperaturveränderungen knarren. Aber da ist so ein Hauch. Irgendwas … Eigenartiges. Anderes. Vielleicht ist es das Nichts, das da haucht.

Luft holen und ins Kühlhaus. Deswegen bin ich da. Weil immer etwas übrig bleibt. Natürlich versucht man, das so gut es geht zu vermeiden. Aber wer kann wissen, ob die Gäste in den letzten Tagen lieber Hirschrücken oder Backhendl essen? Zum Glück sind unsere Tiefkühlmöglichkeiten so gering, dass wir gar nicht in die Verlegenheit kommen, die übrig gebliebenen Köstlichkeiten in den Dauerschlaf zu schicken. Rotweinsauce hab ich gefroren, damit wir, wenn wir wieder beginnen, nicht alles frisch machen müssen. – Wenn wir wieder beginnen. Seit Jahren spielt Buchinger das Spiel: „I bin scho fast furt.“ Das steht auch auf einer Tafel. Und alle, die fragen, wann denn wieder geöffnet sei, bekommen ausweichende Antworten: Wenn das Geld ausgeht. Wenn es Ostern wird. Vielleicht. Man werde nicht jünger, Kollegen seien seit einer gefühlten Ewigkeit in Pension.

Das hier soll zum Museum werden? Das ganze Zeugs, das herumsteht, verstauben? Die Töpfe und Pfannen nicht mehr scheppernd auf den Herd gestellt werden, sondern gestapelt im Regal bleiben? Oder jemand anderer soll da kochen und rennen und schwitzen und lachen und sich freuen und sich ärgern? Vielleicht ist es das. Wenn keiner mehr da ist, dann sind auch die Emotionen weg. Ohne sie sind die vielfältigen Formen der Gastronomie zumindest für mich undenkbar. Buchinger spöttelt bisweilen darüber, aber ich weiß: Letztendlich wäre es wohl gerade das, was ihm am meisten fehlen würde. Das und die Begegnungen, die Anerkennung.

Ein Stück verrücktes Leben.

Das aber natürlich auch seine Pausen braucht. Deswegen haben wir Montag, Dienstag, Mittwoch Ruhetage. Das ist ja auch so eine Sache: Wie lange und an welchen Tagen sollte geöffnet sein? Lieber kurz und intensiv? Dann muss aber auch alles passen, damit es sich finanziell ausgeht. Hoteliers am Arlberg oder am Wörthersee werden beneidet. Aber der Druck, in ein paar Monaten ein Jahreseinkommen zu erwirtschaften, ist enorm. Oder sollte man, zumindest in nicht so saisonabhängigen Betrieben, doch fast immer geöffnet haben, mit der Wahrscheinlichkeit, dass es Stehzeiten gibt? Wie viele Mitarbeiter kann man sich leisten? So viele, dass man jedenfalls für einen überraschenden Ansturm gerüstet ist? Manchmal frage ich mich, wie sich das ausgehen soll, wenn ich drei Leute im Service sehe und nur zwei besetzte Tische. Gibt’s da noch irgendein Geheimnis, hinter das wir nie gekommen sind? Eines heißt natürlich Selbst- und Familienausbeutung. Wohl dem, der Mütter, Kinder, manchmal auch Omas oder einen Onkel in petto hat, die einspringen. Oder sowieso da sind.

Wobei: Auch „Ruhetag“ ist zumindest bei den so beliebten persönlich geführten kleinen Betrieben ein völlig unpassendes Wort. Gastro-Unternehmen haben Schichtpläne und Lieferanten, die von Frittierfett bis Kuchen alles abladen. Es gibt Buchhalter und Steuerberater und jemanden, der die Bürokratie koordiniert. Bei uns kümmert sich Buchinger selbst um das Mysterium der neuesten Registrierkassenvorschriften, den Einkauf und auch um die Reservierungen, die einzutragen sind. Na ja. Um Letzteres kümmert er sich zumindest meistens. Seit die Menschen angefangen haben, nicht nur via E-Mail und Telefon, sondern auch per Messenger, Facebook und SMS zu reservieren, haut er manchmal den Hut drauf, trägt ein, was ihm unterkommt, und den Rest erleben wir als Überraschung.

Überhaupt. Die Gäste und die Schließzeiten.

Es gibt einen Typ Gast, der kommt grundsätzlich nur, wenn geschlossen ist. Egal, ob es sich um die wenigen Winterwochen handelt oder um die Ruhetage. Er wird auch nur anrufen, wenn es Sonntagmittag ist und wir schon zum Kochen und Servieren um etliche Hände zu wenig haben. Er interessiert sich bloß für Tage, die bereits komplett ausreserviert sind. Es ist schade. Aber für ihn können wir nichts tun. Nicht einmal immer aufsperren. Weil für ihn ist immer zu.

Anders, aber von einer verwandten Spezies, sind die Gäste, die sofort Antwort brauchen. Sie schreiben an einem Montag und bestellen einen Tisch für den Samstag in drei Wochen. Wenn, weil eben Ruhetag ist, sich niemand sofort meldet und dankt, werden sie ungeduldig. Also rufen sie an und landen auf dem Anrufbeantworter. Unbefriedigend. Danach werden alternative Wege erprobt. Messenger zum Beispiel. Oder auch ein Freund, der gleichzeitig ein guter Freund von Buchinger ist und ihn am Handy anruft. Weil Herr Ungeduld seit mehr als drei Stunden trotz vielfacher Versuche noch immer keine Bestätigung hat.

So jemand kann dann vom Buchinger unter Umständen hören: „Wer weiß, ob wir in drei Wochen überhaupt noch da sind.“ Was dann empörte Ausrufe zur Folge hat, die erfreuen und bestätigen – weiterzumachen. Wobei: Wer sich überlegt, wie viele Lokale einigermaßen überraschend in letzter Zeit, auch mitten in der sogenannten Saison, zugesperrt haben, muss über das Durchhaltevermögen von Leuten wie Buchinger und Co ohnehin verblüfft sein.

Manche nennen es bloß Renovierungsurlaub und kommen aus diesem nie mehr wieder zurück.
Andere kommen drauf, dass sich der gastronomische Jonglierakt mit Urlauben (nämlich jenen der Mitarbeiter, die sich ja auch einen verdient haben), Bürokratie, Kontrollen, Fixkosten, Steuern und den dazugehörigen Prüfungen und Plagen einfach nicht mehr ausgeht. Hat man einen guten öffentlichen Namen und ein paar Gastro-Journalisten, die einen (noch) nicht verlassen haben, dann kann man hie und da wo „aufpoppen“, ein Gastspiel geben. Aber keine Bindung mehr an ein Haus, das anders wird, wenn es leer ist, an den Nachklang der Emotionen, der Siege und Niederlagen, der Gerüche und Geräusche.

Wieder einmal stehe ich im Gasthaus. Wieder einmal ist keiner da. Die Sonne scheint durch die hohen Fenster. Die Holztische in der Stube sind leer. Ich sehe mich um und ich lausche. Die letzte Woche war hart. Zwei Menschen im Service, zwei in der Küche und die Bude knallvoll. Brandwunde am Handrücken, aber warum musste ich auch so hektisch in den Salamander greifen? Die Gäste auf Tisch vier, die … Jetzt ist es, als würde alles, nicht nur ich, die Luft anhalten. Ich atme aus und schleppe den Einkauf rein. Es ist nur Pause. Morgen geht es weiter. – „Entschuldigen Sie, gibt’s was zu essen?“ Ich drehe mich erschrocken um und lächle. – „Morgen wieder. Heute haben wir Ruhetag.“ – „So schade. Immer wenn ich vorbeikomme, habt ihr geschlossen!“

Eva Rossmann war Journalistin, ehe sie mit den Mira-Valensky-Krimis zur Bestsellerautorin wurde. Daneben arbeitet sie als Köchin in Manfred Buchingers Gasthaus Zur Alten Schule.